Kataloniens demokratischer Kampf um die Freiheit einer neuen Staatsgewalt
Die Separatisten fragen ihr Volk – der spanische Staat antwortet

Das Sezessions-Referendum der katalanischen Separatistenparteien ist nach den Bestimmungen der spanischen Verfassung rechtswidrig. Das lässt die spanische PP-Regierung hundertfach verkünden, ebenso wie ihre Absicht, eine solche Abstimmung nach Möglichkeit zu verhindern, jedenfalls aber, was immer ihr Ergebnis sein mag, nicht anzuerkennen. Ihren Rechtsstandpunkt wird sie, daran lässt die Zentralregierung keinen Zweifel, mit den verfügbaren Gewaltmitteln des Rechtsstaates durchsetzen. Darin wird sie von den staatstragenden, verfassungstreuen Parteien, v.a. von Sozialdemokraten und Liberalen in Spanien und Katalonien und der staatstragenden spanischen Öffentlichkeit unterstützt, die eine Abspaltung unter Bruch der geltenden Verfassung und Beschädigung der territorialen Integrität der Nation als Staatsstreich einstufen und Verhandlungen über etwas dermaßen Verbotenes ausschließen: Schließlich haben sich wie alle Verfassungsgeber auch spanische Politiker das gewaltmonopolistische Staatsinteresse an der herrschaftlichen Bewirtschaftung ihrer schönen, ungeteilten nachfranquistischen Demokratie und ihres europäischen Kapitalismus eigens als schon immer angestammtes Recht der Nation auf Einheit und territoriale Unversehrtheit in die Verfassung geschrieben; und sich selbst mit aller verfügbaren Gewalt zur Schutzmacht des von ihnen gesetzten Rechts berufen.

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Kataloniens demokratischer Kampf um die Freiheit einer neuen Staatsgewalt
Die Separatisten fragen ihr Volk – der spanische Staat antwortet

1. Demokratische Abstimmungsverfahren als Staatsgründungsprogramm – eine Chronik

Das Sezessions-Referendum der katalanischen Separatistenparteien ist nach den Bestimmungen der spanischen Verfassung rechtswidrig. Das lässt die spanische PP-Regierung hundertfach verkünden, ebenso wie ihre Absicht, eine solche Abstimmung nach Möglichkeit zu verhindern, jedenfalls aber, was immer ihr Ergebnis sein mag, nicht anzuerkennen. Ihren Rechtsstandpunkt wird sie, daran lässt die Zentralregierung keinen Zweifel, mit den verfügbaren Gewaltmitteln des Rechtsstaates durchsetzen. Darin wird sie von den staatstragenden, verfassungstreuen Parteien, v.a. von Sozialdemokraten und Liberalen in Spanien und Katalonien und der staatstragenden spanischen Öffentlichkeit unterstützt, die eine Abspaltung unter Bruch der geltenden Verfassung und Beschädigung der territorialen Integrität der Nation als Staatsstreich einstufen und Verhandlungen über etwas dermaßen Verbotenes ausschließen: Schließlich haben sich wie alle Verfassungsgeber auch spanische Politiker das gewaltmonopolistische Staatsinteresse an der herrschaftlichen Bewirtschaftung ihrer schönen, ungeteilten nachfranquistischen Demokratie und ihres europäischen Kapitalismus eigens als schon immer angestammtes Recht der Nation auf Einheit und territoriale Unversehrtheit in die Verfassung geschrieben; und sich selbst mit aller verfügbaren Gewalt zur Schutzmacht des von ihnen gesetzten Rechts berufen.

Durch seine verfassungsrechtliche Veredelung wird dieser politische Wille umstandslos zu einem zwar selbsterteilten, darum aber nicht minder höheren Auftrag und seine Verwirklichung zur obersten Pflicht jeder amtierenden Regierung. Deshalb legt auch die Rajoy-Mannschaft größten Wert darauf, dass ihr der katalanische Separatismus nicht einfach politisch gegen den Strich geht, sondern dass sie gar nicht anders kann, als das Interesse der Staatsparteien an Demokratie und Kapitalismus, das seit 1978 als nachfaschistisches Grundgesetz die Staatsräson verfasst, mit aller Macht durchzusetzen. Sie erklärt sich gezwungen, jeden Kompromiss mit den Separatisten zurückzuweisen, und dazu berufen, den demokratischen Zentralstaat unbedingt gegen die aufständische Regionalregierung zu beschützen, die nun einmal nicht die „Herrin der Verfassung“ ist. Das ist allemal die gewählte Regierung in Madrid samt ihren anderen, säuberlich geteilten Gewalten, denen es exklusiv zusteht, den rechtmäßigen Bestand spanischen Territoriums, des zugehörigen Volkes und seines staatstragenden Willens festzulegen. Letzterem lauschen sie folgerichtig den verfassungsmäßigen Ruf nach der Einheit Spaniens ab und ein Verbot jedes Zugeständnisses an den Separatismus. Vor allem innerhalb des PP prägt sich dieser fundamentalistische Rechtsstandpunkt so aus, dass seine Regierung es in den letzten Jahren der Zuspitzung des Konfliktes für ausgesprochen unangebracht hielt, die politische Klasse Kataloniens oder auch die dortigen nationalistischen Massen agitatorisch zu umwerben, wie es frühere Regierungen, zuletzt mit dem Ergebnis eines im katalanischen Sinn verbesserten Autonomiestatuts 2006, für opportun hielten. Die PP-Regierung weist dagegen alle Verhandlungsangebote zurück – Verhandlungen zwischen Gesetzesbrechern und den Hütern der verfassungsmäßigen Ordnung kann es nicht geben! –, kennzeichnet die Drohung mit Abspaltung als „erpresserisch“ und stellt klar, dass die einzige rechtmäßige Erpressungsmacht der Regierung zukommt.

Weil sich die Regierung als die befugte Macht der Legalität versteht, sind für sie die Methoden ihrer Durchsetzung auch legitim: So behindert sie gewaltsam die Abstimmung am 1. Oktober durch den Einsatz ihrer Polizeitruppen und hält den Veranstaltern die von den regierungsseitigen Einsatzkräften ins Werk gesetzten Störungen dann auch noch – ganz ironiefrei – als Verfehlung aller demokratischen Anforderungen an ein so wichtiges Referendum vor, auf das sich die unbotmäßige Regionalregierung schon allein deshalb keinesfalls stützen könne. Verhandlungen erklärt sie allenfalls für möglich unter der Bedingung einer Rücknahme der Abspaltungspläne und der Rückkehr auf den Boden der Verfassung. Da die Separatisten das nicht mitmachen, ihre Verhandlungsangebote sich stets auf die friedliche Abwicklung der Separation beziehen, also für die Regierung keine sind, wird im Oktober die „atomare Option“ gezogen, der „Leviathan“, das „Monster“ (El País, 19.10.17) in Marsch gesetzt: Das hört auf den Namen 155, ist der einschlägige Verfassungsartikel für ungehorsame Autonomieregierungen und regelt deren Absetzung, mit Zustimmung der zweiten Kammer, des Senats, in dem die Vertreter der Regionen sitzen. Die Zentralregierung übernimmt die Zwangsverwaltung der Region und schreibt für den 21. Dezember Parlamentswahlen aus. Damit soll die Härte des Einsatzes der Zentralgewalt einmünden in eine politische Neuformierung des abtrünnigen katalanischen Volkswillens im Sinn einer Anerkennung der Madrider Zuständigkeit und der Einheit des Landes. Die Anführer der Separatisten lässt die Regierung aber wegen schwerster Staatsverbrechen von den höchsten spanischen Gerichten unter Anklage stellen, wofür sie teils in Untersuchungshaft gehen, teils vorerst gegen horrende Kautionen auf freiem Fuß bleiben. Sie besteht darauf, dass es in Spanien auch für Separatisten die Freiheit abweichenden Denkens und sogar Meinens gebe. Aber: Leute, die derlei „außerhalb der Gesetze“ praktizieren wollen, bekommen Probleme (Rajoy, El País, 12.11.17) und sind dann keinesfalls politische Gefangene, sondern nicht mehr als wegen Straftaten gefangene Politiker. Die Urnen sollen so schnell wie möglich die Situation bereinigen (El País, ebd.), eine „Situation“ wohlgemerkt, über die man eigentlich gar nicht abstimmen kann. Dennoch finden die Idee einer Abstimmung am 21. Dezember nicht nur in Gesamtspanien über 70 %, sondern auch in Katalonien 69 % der Meinungsbefragten zielführend (Umfrage von Metroscopia, in El País, ebd.). Speziell die zur Wahl gerufenen katalanischen Wähler sollen sich aber nach dem Wunsch der veranstaltenden Regierung in Madrid beim Wählen nur das Richtige und nichts Falsches denken: Sie sollen gefälligst eine möglichst verfassungstreue Regierung bestimmen und sich nicht vorstellen, sie hielten eine Abstimmung über die Abspaltung ab. Die ist und bleibt verboten und deswegen keinem Wählervotum zugänglich.[1]

Die Schritte zur Wiederherstellung der spanischen Gesetzlichkeit werden unterstützt, von den Sozialisten des PSOE, die muldenschleicherisch für eine ganz schonende Zwangsverwaltung werben, aber doch staatstragend-pflichtbewusst zum Staatsschutz entschlossen sind, von den Liberalen – Ciudadanos – radikal; die Rechte kritisiert sie als viel zu spät und überfällig, die linksalternative Podemos spricht von einem „marianistisch-monarchistischen Staatsstreich“ gegen die katalanischen Republikaner, trennt sich aber gleich darauf von Teilen ihrer Filiale in Katalonien, die zu sehr mit dem Separatismus bündeln und kündigt ihre Teilnahme an den Neuwahlen an; und die staatstreu-legalistischen Medien beklagen den „Riss“ im Land, wissen aber um seine schicksalshafte historische Notwendigkeit und fürchten aus den bevorstehenden Zusammenstößen der Parteien einen Aufschwung für die Separatistenbewegung mit Folgen für Katalonien, Spanien, Europa und den Euro. Erfolgreich werden prospanische Großdemos in Barcelona und Madrid angeleiert, und Umfragen zu den Neuwahlen, begleitet von dann wieder gewaltigen Demos der Separatisten, sehen abwechselnd Chancen für die verfassungstreuen Parteien und die Separatisten.

Das in Katalonien angesiedelte größere Kapital hat gleich eindrucksvoll mit den Füßen abgestimmt: Eine fuga de capitales kommt nach der Abstimmung vom 1-O in Gang, als Vorsichtsmaßnahme, weil man sich nicht plötzlich mit seinem Firmensitz außerhalb der EU wiederfinden will und wegen einiger Befürchtungen, dann möglicherweise von Madrid und Barcelona besteuert zu werden. Befördert wird dies von der Regierung, die schnell Gesetze erlässt, die den Standortwechsel erleichtern. Von Tag zu Tag werden triumphierend regierungs- und medienseitig die stets nach oben korrigierten Zahlen flüchtender Firmen durchgegeben: 1200 schon am 19.10., 1700 ein paar Tage später! So wird von Seiten der Regierung, von Rating-Agenturen und großen Investoren Druck auf die Vorstände gemacht – SEAT bestätigt das ausdrücklich, ohne Namen zu nennen –, um die Separatisten mit ihren Wohlfahrtsversprechen zu blamieren und vielleicht doch noch zum Einlenken zu erpressen und die um ihre Arbeitsplätze bangenden Massen dazu, sich von ihnen politisch abzuwenden und bei den kommenden Wahlen richtig abzustimmen.

Die katalanischen Separatisten lehnen das gerichtliche Verbot ihrer Bestrebungen schon immer ab, pochen auf das Recht ihres Regionalvolkes, demokratisch selbst über seine nationale Souveränität zu befinden, und geben sich völlig verständnislos gegenüber einer Verfassung und deren Gericht, die ihre Artikel über die von den Separatisten reklamierte oberste Quelle aller demokratischen Legitimität stellen wollen, den frei geäußerten Willen des Volkes, wie sie ihn sich seit Jahren zurechtlegen und organisieren, dem gegenüber das geschriebene Verfassungsrecht des spanischen Staates doch nur von minderem Rang sein könne. Von dem nach spanischer Rechtslage ausgesprochen staatsgefährdenden Gegenstand und Zweck ihrer Abstimmung und der von ihr in Wallung versetzten separatistischen Bewegung sieht die Regionalregierung dabei einerseits ab und beruft sich darauf, dass man nach freiheitlichen Maßstäben gegen eine friedliche demokratische Massenmobilisierung, gleich wofür da mobilisiert werde, einfach nichts einwenden könne; andererseits erklärt sie das vom Separatismus zum Programm gemachte Recht auf Selbstbestimmung des katalanischen Volkes zum sowieso unantastbaren Menschenrecht, weshalb Verbote vom Autoritarismus wenn nicht gar vom franquistischen Geist der Zentralregierung zeugten, deren tragende Partei ja nicht zufällig ihre Wurzeln in der alten faschistischen Bewegung habe. Insgesamt machen die Separatisten geltend, dass bei Einhaltung demokratischer Verfahrensweisen doch ohnehin niemand etwas gegen die Abspaltung einwenden könne, ganz so als wäre die Demokratie keine Herrschaftsform; und als ob man sich von staatlicher Herrschaft, die auf ihrem Zugriffsrecht auf Land und Leute besteht, einfach nach Belieben lossagen könnte, würde man nur die zugelassenen Verkehrsformen des staatlichen Zwangszusammenhangs für die Verabschiedung anwenden.

In Exekution ihres Standpunktes erlässt die knappe Parlamentsmehrheit der separatistischen Koalition in Barcelona ein Abspaltungsgesetz, führt gegen alle Verbote und rechtlichen und gewaltsamen Behinderungen aus Madrid ihr Referendum am „1-O“ durch und schreitet nach dem erwarteten Sieg, der allein schon im Stattfinden der Abstimmung be- und damit auch feststeht, voran mit ihrem Programm: Wegen des überwältigenden Erfolges dieser „heroischen Wahl“ (Puigdemont) braucht es weder Quorum noch qualifizierte Mehrheit, sondern schnellstmöglich die Erklärung der Unabhängigkeit. Die kommt dann auch in einer Parlamentssitzung am 10. Oktober; muss ja auch, weil ja auch die Separatisten den von ihnen eigenhändig erlassenen Gesetzen gehorchen müssen und das Ergebnis des Referendums in aller Demut „annehmen“, um die Wirkungen der Unabhängigkeitserklärung aber gleich zu „suspendieren“ und erneut Verhandlungen mit der Regierung über einen friedlichen Übergang zu fordern. Danach weiß dann niemand mehr so recht, ob nun die Unabhängigkeit schon erklärt ist oder nicht. Mit der Aufgabe, aus der geltenden Legalität heraus sich unter deren Bruch eine eigene Legitimität für die Abspaltung und eine eigene Gesetzlichkeit zu schaffen, werden die Separatisten ganz offensiv fertig: Der gewalttätige Verfassungsschutz der Zentralregierung gegen friedliches Abstimmungsvolk habe Spanien mit „ewiger Schande“ bedeckt, während das katalanische Volk sich mit ein paar blutigen Köpfen am Tage des Votums „das Recht auf die Unabhängigkeit endgültig verdient“ habe. Das wirkt zunächst wie eine allzu kleinformatige Neuauflage des katalanischen „Victimismus“, der sich an seinen historischen nationalen Niederlagen – je größer desto besser – erbaut und sich durch sie zu allem Katalanischen berechtigt weiß. Der zunehmende Druck des Staates rückt aber die Opferbilanz langsam zurecht: 700 Bürgermeister werden von der Polizei vorgeladen, der Chef der Regionalpolizei „Mossos“ – ein Volksheld seit den Terroranschlägen von Barcelona – unter Anklage gestellt, die Anführer der großen Unterstützerorganisationen ANC und Omnium verhaftet und am Ende eben, am 21.10., nach Art. 155 der Verfassung die Entmachtung der Regionalregierung und die strafrechtliche Verfolgung von Regionalpolitikern in Gang gebracht. Das gibt dem procés ein wenig neuen Schwung: Vor allem die studentische Jugend demonstriert eifrig dafür, sich künftig nur mehr von ihresgleichen bevormunden zu lassen, also für die Freiheit katalanischen Regierens und Denkens. Und am Ende wird dann doch noch eine Unabhängigkeitsresolution im Parlament verabschiedet, in der noch einmal die ganze Verbitterung über die ungerechte Zurücksetzung Kataloniens im spanischen Staat zum Ausdruck kommt,[2] angesichts der eigentlich kein fühlendes Herz den Katalanen ihren Unabhängigkeitswunsch übel nehmen kann. Bis dahin waren die Separatisten selbstverständlich ebenfalls stets für Verhandlungen über eine geordnete Abwicklung der Abspaltung offen. Nach dem Übergang der Zentralregierung zur Zwangsverwaltung und dem Beginn der Strafverfolgung durch die spanische Generalstaatsanwaltschaft ruft der Präsident Puigdemont seine Gefolgschaft noch einmal zum zivilen, demokratischen, vor allem aber friedlichen Widerstand gegen den unrechtmäßigen Staatsstreich aus Madrid auf und taucht dann erst einmal, um sich der Verhaftung zu entziehen, in Belgien unter, wo er im Herzen der EU die katalanische Sache vertreten will. Auch wenn der Prozess der Unabhängigkeit ... verlangsamt werden müsse und ein neues Katalonien nicht auf Gewalt gebaut werden könne (Puigdemont, n-tv, 31.10.17), rechnen sich die Separatisten für den 21.12. einiges aus: Puigdemont wirbt aus Brüssel weiter für die grundguten Absichten des katalanischen Nationalismus und die Empörung wegen der verhafteten und zur Flucht gezwungenen Politiker wird erfolgreich von den großen Agitationsorganisationen der Nationalisten in gewaltige Demonstrationen umgesetzt.

2. Warum es die Katalanen mit dem spanischen Staat nicht länger aushalten können – die Beweise

Für die Trennung von Spanien die Unterstützung der katalanischen Bevölkerung zu bekommen, war und ist das Bestreben der regionalen Koalitionsregierung aus konservativen Liberalen, einer nationalistischen „Republikanischen Linken“ und der antikapitalistischen Kleinpartei Candidatura de la Unidad Popular (CUP). Deren Unterschiede in der politischen Weltsicht sind nicht groß genug, um sie am gemeinsamen Regieren für die Verwirklichung ihrer gemeinsamen Überzeugung zu hindern, dass es die Katalanen ohne nationale Freiheit, also ohne katalanisch-republikanische Herrschaft über sich in Form souveräner Eigenstaatlichkeit nicht länger aushalten können. Dafür, dass die Fremdherrschaft des „Staates“ nicht mehr länger erträglich ist, wie Puigdemont gelegentlich der Unabhängigkeitserklärung wieder betont, subsumieren die Separatisten seit Jahren den Gang des spanischen Kapitalismus zielsicher unter ihren einzigen Beweiszweck:

  • Die Zentralregierung fährt im Zuge der Bewältigung der Krise der Jahre 2008 ff. einen brutalen Sparkurs gegenüber ihrer sozialstaatlich betreuten Bevölkerung einerseits und den Regionen andererseits. Sie streicht die Finanzzuweisungen für deren Zuständigkeiten zusammen und zwingt die Comunidades Autónomas zu Kürzungen bei Sozial- und Infrastrukturmaßnahmen bei zugleich wachsender Verschuldung für ihren sonstigen Haushaltsbedarf. Das durchschaut man in Barcelona selbstverständlich als speziell antikatalanische Machenschaft,
  • zumal das vom spanischen und europäischen Kapital relativ gut besetzte Katalonien auch während der Krise und ihrer Aufarbeitung mehr an Steuern in den innerspanischen Finanzausgleich einspeist als andere Regionen; und aus Madrid, das der Herr dieser Finanzorganisation ist und die PP-regierten Regionen bevorzugt und sowieso antikatalanisch und korrupt ist, weniger zurückbekommt als es gerne hätte. Dass die Region Madrid noch mehr einzahlt, Andalusien im Vergleich zum spanischen Durchschnitt ähnlich „unterfinanziert“ ist und Murcia noch schlechter dasteht, kann die Katalanen nicht beruhigen, solange Navarra und das Baskenland mit ihren historischen Steuersonderregelungen viel besser aussehen. Das lässt sie gelegentlich zu dramatisch übertriebenen Zahlen greifen, die sie sich von keiner Statistik austreiben lassen, die sie nicht selbst gefälscht oder zumindest interpretiert haben, die aber immer eindrücklich vorführen, wie gut die Einheit von Volk und autochthoner Herrschaft in ihrem kapitalistischen Musterländchen ohne spanische Steuerausbeutung leben könnte. Denn gerade
  • in der Verwandlung der spanischen, somit auch der katalanischen Lohnabhängigen in ein Volk von befristeten Teilzeitarbeitern mit Niedriglöhnen – 13 Millionen offiziell Arme im Oktober 2017, die da inzwischen auch „Armutsgefährdete“ heißen –, auf deren Rücken der Aufschwung der Nation betrieben wird, entdecken die Separatisten direkt am schlechten Leben der Leute die Dringlichkeit einer fortschrittlichen katalanischen Republik, weil man nur ohne das rückständige spanische Königreich und mit einer eigenen eingeborenen Herrschaft über die armen Leute den „politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt“ (Puigdemont) des Volkes sicherstellen kann.
  • Ihre Kompetenzen im Erziehungs- und regionalen Polizeiwesen oder hinsichtlich ihres nach Franco neu aufgebauten und eifersüchtig gehüteten Sprachregimes halten die regierenden Gesinnungskatalanen im Vergleich zu dem, was ihnen eigentlich zustünde, für eine einzige Beschneidung ihrer nationalen Freiheiten. Den Höhepunkt der Missachtung und überhaupt der nationalen Zurücksetzung alles Katalanischen sehen sie und ihre Massenorganisationen in der auf Klage des Partido Popular im Jahr 2010 erfolgten verfassungsgerichtlichen Zurückweisung des neuen Autonomiestatuts von 2006. Das war vom Zentral- und vom Regionalparlament in Barcelona schon verabschiedet, sollte die Autonomierechte erweitern, Steuerselbstverwaltung nach baskischem Muster konzedieren und vor allem den Katalanen den Ehrentitel einer „Nation“ innerhalb Spaniens verleihen. Dass das wiederum die nicht minder fundamentalistischen Nationalisten vom PP und die Richter des Verfassungsgerichts nicht aushalten konnten, hat den katalanischen Sezessionisten angeblich endgültig gezeigt, dass ihnen und ihrem Volk von spanischen „subditos“ – Untertanen – nur mehr die Trennung helfen konnte. Seitdem setzen die separatistischen Parteien entschieden auf die Abspaltung, stellen seit den letzten Regionalwahlen arschknapp mit Hilfe der „Systemfeinde“ von der CUP die Regierung und sprechen ihr Volk gezielt und Tag und Nacht nur mehr auf die notwendige und bevorstehende Unabhängigkeit an;
  • ein Volk, das seiner noblen Art nach wirklich Besseres als eine korrupte spanische Oberherrschaft verdient hätte, wie ein katalanischer Schriftsteller, Aktivist der separatistischen Kulturorganisation Omnium Cultural und ehemaliger Kulturfunktionär der Regierung Mas mit Blick auf die Spanier und mit feinem nationalistischem Witz bemerkt: Wir sind besser... Und im hypothetischen Fall, dass wir es nicht wären, wäre das ein Problem. Es wäre eine Schande... Wir haben pro Quadratmeter eine unendlich höhere Dichte an Genies... Wir sind besser, ja, oder zumindest haben wir die Pflicht, es zu sein. (Jordi Cabré, El Punt Avui, zit. nach El País, 7.10.17) Da schmunzelt der Katalane. Das Ergebnis dieses launigen Völkervergleichs hat er sich ohnehin schon immer so gedacht;
  • während die antikapitalistische CUP dem guten Volk in allen katalanischen Ländern, die – darin sind sie sich mit ihren bürgerlichen Koalitionspartnern einig – von Teilen Aragons über Valencia, die Balearen und Andorra bis ins Roussillon und nach Sardinien reichen, endlich eine unabhängige, sozialistische, ökologisch nachhaltige, territorial ausgeglichene, von jeder Art patriarchalischer Dominanz freie (cup.cat/qui-som-2, Wahlprogramm) republikanische und volksfreundliche Herrschaft über sich selbst zukommen lassen will, mit kostenlosem Wohnen und Wasser, Gratisstrom und garantiertem Mindesteinkommen, wofür offenbar die Abspaltung eine unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit ist, dem dann regionalisierten Kapitalismus der ohnehin schon fortschrittlichen Katalanen ein human-antikapitalistisches Staatswesen abzuringen. Vielleicht sind ja kleine Revolutionen wirklich einfacher als diese großen, wer weiß das schon.

So agitieren die separatistischen Parteien seit Jahren für eine artgerechte Obrigkeit für den katalanischen Menschenschlag und scheuen am Ende auch keinen umstürzlerischen Ungehorsam, um endlich eine neue Herrschaft an die Stelle der alten zu setzen. Mit der zu brechen ist für die Befürworter der Selbständigkeit unvermeidlich, weil in dem demokratisch-kapitalistischen Arrangement der Lebensbedingungen in Katalonien trotz aller Autonomie ein echter Katalane in seiner Eigenart einfach nicht so zum Zuge kommt, wie es ihm zustünde. Das ist der Skandal an der Konkurrenzgesellschaft in dem schönen Land, der täglich zu beweisen ist. In einem weltoffenen, rechtsstaatlich durchorganisierten Kapitalismus kommt ja selten genug das Landsmannschaftlich-Regionale als heimatliches Privileg der Eingeborenen zur Geltung, mit der Folge, dass denen bei aller erfolgreichen Durchsetzung ihres regionalen Kulturgeweses die Drangsale des modernen Lebenskampfes dann doch gar nicht erspart bleiben, obwohl sie gute Katalanen sind. Nach der Überzeugung ihrer Anführer ist aber ihr Recht auf Erfolg irgendwie in ihrer umtriebig-schwabenartigen DNA codiert, sodass die unvermeidlichen Rückschläge des Wettbewerbslebens in allen Etagen der Gesellschaft vor, in und nach der Krise folgerichtig die politische Sabotage des katalanischen Wohlergehens durch den spanischen Staat erkennen lassen. So werden alle sozialen Fragen im Land in die eine aufgelöst, wann sie endlich und endgültig durch die Anerkennung nationaler katalanischer Ansprüche beantwortet würden. Die Frage legt die Führung der Separatisten den Katalanen als ihrem Volk, also ausdrücklich klassenübergreifend vor, das mit diesem Maßstab der Kritik ausgerüstet zu guten Teilen nur unheilbar verletztes Recht entdeckt, und die ökonomischen und sozialen Gründe eines bedrückenden Arbeits- und Arbeitslosenalltags längst aus den Augen verloren hat.

3. „El desafío catalan“ [3] – eine Frage der Gewalt und keine für den Wähler

Dass da unter Aufbietung der höchsten Titel des staatsrechtlichen und -moralischen Überbaus derart unsachlich gerungen wird, liegt an der für beide Seiten todernsten Sache, um die es geht, und am Verfahren bei der Austragung des Konfliktes: Der Staat droht mit gewaltsamer Beendigung der separatistischen Umtriebe, während diese darauf zielen, der Zentralregierung den katalanischen Volkswillen mit jeder Menge gewaltfrei-ziviler, nationalistisch-demokratischer Gerechtigkeitsagitation abspenstig zu machen, damit der dem spanischen Staat künftig den Gehorsam verweigere; so soll der Staat zu der Einsicht gezwungen werden, dass er diese separationswütigen Massen einfach nicht mehr halten kann.

Ihr Staatsvolk und seinen Willen definieren sich die Separatisten in ihrer Propaganda und am Ende mit ihrer Abstimmung über die Abspaltung nach ihrem Bedarf auch praktisch so zurecht, dass sie von ihren aktivistischen Gefolgsleuten entgegen allen Drohungen der Staatsmacht die richtige Antwort bekommen, die sie als den Auftrag zur Unabhängigkeit nehmen, den sie sich gewünscht haben. Dass sie die katalanischen Massen damit politisch spalten und die große widerstrebende oder passive Hälfte einfach nach gutem demokratischen Brauch für ihr Projekt mitverhaften, macht ihnen wenig Kopfzerbrechen: Das Angebot zur Abstimmung lag ja vor, und schließlich macht sich keine demokratische Herrschaft von ihren Nichtwählern abhängig. Die regionalstaatlichen Repräsentanten des Volkswillens, den sie künftig exklusiv auf sich verpflichten wollen, begleiten ihre nach der Rechtslage höchst staatsgefährdenden Aktivitäten deshalb von Anfang bis Ende mit allem Verfahrensaufwand, den eine seriöse parlamentarische Demokratie zu bieten hat: mit rechtsstaatlichen Separationsgesetzen, erlassen in feierlichen Sitzungen, Abstimmungen und allerlei historischen Regierungserklärungen, die alle dem Zweck dienen, den Massen, der spanischen Regierung und Europa die durch diese Verfahren erworbene, demokratisch unanfechtbare Legitimität der katalanischen Führung und ihrer separatistischen Unternehmung zu beweisen. Das alles kann die Madrider Regierung zur Legitimierung ihres Standpunktes natürlich auch.

Die Sache um die es geht, ist aber allen Beteiligten zu wichtig, als dass die demokratische Rechtfertigung der konträren Standpunkte den Konflikt entscheiden könnte. Zwei nationalistische Staatsstandpunkte mit einigem Massenanhang stehen gegeneinander und kämpfen um die politischen und sachlichen Grundlagen der Staatsmacht: Um Staatsgebiet, Volk und damit verbundene Reichtumsquellen; die einen um deren ungeschmälerten Erhalt, die anderen um die Elemente einer Neugründung, für die sie dem Zentralregime in Madrid die souveräne Verfügung über Territorium, Volksmassen und kapitalistischen Reichtum in Katalonien wie auch immer entreißen müssten. Damit liegt hier offenkundig keine Frage für abstimmungsfreudige Demokraten vor, sondern eine der staatlichen Gewalt, deren Beruf und systemübergreifendes Bedürfnis es ist, den Bestand des Staatswesens und den seines Gewaltmonopols über Land und Leute sicherzustellen, unabhängig davon, ob und wie gerade Demokratie ist. Auf der Grundlage entschiedener Gewaltfragen mögen demokratische Verfahrensweisen ihre guten Dienste tun bei der Auswahl vertrauenswürdiger Führer und der Entscheidung von „Sachfragen“ in Referenden. Zu denen gehört aber jedenfalls nicht die Frage nach dem Bestand von Territorium und Bevölkerung des Gemeinwesens, das da gerade abstimmen lässt.

Das ist den gegnerischen Parteien durchaus geläufig. Deshalb haben sie während ihres heuchlerischen Streits um die bessere demokratische Begründung ihrer unversöhnlichen Standpunkte sich längst ihre sehr unterschiedlichen Mittel zurechtgelegt, die, jedenfalls was den spanischen Staat betrifft, mit der formell-demokratischen Einwirkung auf den Volkswillen nicht mehr hinreichend beschrieben sind.

  • Die einen, el Estado, verfügen über all die bekannten, flächendeckenden Gewaltpotenzen eines modernen Staatswesens, die es nach innen für den Fall bereithält, dass den Volksmassen, auf deren praktischen Beitrag zu den materiellen Grundlagen der Nation und auf deren Willen zum Mitmachen es ankommt, zu relevanten Teilen dieser Wille abhandenkommt: Nationale Polizei, ein militärähnliches Polizeikorps, die Guardia Civil und reguläre Militäreinheiten. Für das halbwegs reibungslose Funktionieren des nationalen Lebens in gewöhnlichen Zeiten genügt auch im rebellischen Katalonien der praktisch-alltägliche Standpunkt, in der Abhängigkeit von der spanisch dominierten Organisation des materiellen und geistigen Lebens der Nation ein manchmal schäbiges, aber alternativloses Lebensmittel zu haben und in der Anpassung an die Umstände auch als Katalane seine Freiheit zu finden. Für diese Art praktischer Zustimmung zur Herrschaft ist die Anwendung der vorgehaltenen Gewalt gegen einen aufständischen Volkswillen kein Ersatz, weshalb sie, vor allem in reifen Demokratien, auch nur für Fälle des Notstands vorgesehen ist; in denen ergänzt die Obrigkeit – möglichst vorübergehend – den stummen Zwang der Verhältnisse um den unmittelbaren Zwang des Polizeirechts, mit dem sie auf ihrer Machtvollkommenheit besteht, die es ausschließt, freiwillig einen wichtigen Teil ihres Territoriums und Volkes herauszurücken. Auch in Spanien soll der Ausnahmezustand des Artikels 155 ausdrücklich nur ein Durchgangsstadium sein für die Rückkehr zu den Verhältnissen eines Zusammenlebens, in dem die Politik den Volkswillen wieder mit den zivilen Verfahren demokratischer Herrschaft auf sich verpflichtet.
  • Die anderen, die katalanischen Regierungsparteien, wollen sich den radikal gewordenen Regionalnationalismus, der so wütend und hoffnungsvoll nach einer neuen Obrigkeit sucht, für ihre katalanische Neugründung zunutze machen, ohne über die entsprechenden Machtmittel zu verfügen. Sie nehmen, nachdem sich Madrid der Sezession widersetzt und der Gegensatz sich zuspitzt, notfalls auch den Notstand als notwendiges Durchgangsstadium ihres Projektes in Kauf und hoffen, dass die Konfrontation des Ausnahmezustandes zu ihrem Vorteil ausgeht und den Widerstand ihrer Sympathisanten stärkt: Sie setzen auf den Willen ihrer Anhänger zu einem neuen Staat, darauf, dass sich darauf gestützt ein „ziviler Ungehorsam“ der Leute innerhalb rechtsstaatlich-demokratischer Verkehrsformen als Kampfmittel gegen die überlegene Zentralmacht organisieren lässt, den sie mit der Empörung des verletzten Gerechtigkeitsgefühls zu befeuern trachten. Dafür sind alte und neue Beleidigungen und Verletzungen katalanischer Rechtsansprüche, die Madrid den Separatisten fortwährend liefert, der geeignete Brennstoff, der zu Massenmobilisierung und verallgemeinerter Widerständigkeit führen soll. Im Einsatz für den katalanischen Nationalismus entdecken dessen Anführer sogar die kämpferischen Potenzen des Proletariats, die sie in einem regierungsseitig ausgerufenen Generalstreik nach der Inkraftsetzung der Zwangsverwaltung für sich zu instrumentalisieren suchen. Zugrunde liegt die abenteuernde Spekulation auf ein Zurückschrecken der angegriffenen spanischen Staatsmacht vor dem „letzten Mittel“ der gewaltsamen Niederschlagung eines friedlichen Aufstandes. Je widerstands- und opferbereiter dabei die für die Rolle des neuen Staatsvolks vorgesehenen Massen sind, desto besser.

4. Die EU zum Selbstbestimmungsrecht des katalanischen Volkes: Kein Bedarf

Viele Hoffnungen setzen die Separatisten von Anfang an auf die EU: Ihre Neugründung soll, so der Plan, mitsamt ihrem staatseigenen Volk ihren Platz in der EU haben. Als selbständiges Mitglied der Union wollen sie – immerhin ist Katalonien ja schon Teil der EU, wenn auch nur vermittelt über den spanischen Staat – der verhassten, rückständigen Zentrale entkommen und die neuerworbene Souveränität nach der Trennung von dem feindlichen größeren im freundlichen noch größeren Gemeinwesen behaupten.

Dann könnte die Berechnung der katalanischen Nationalisten aufgehen, als fortschrittlicher, wirtschaftlich entwickelter Landesteil endlich den spanischen Klotz am Bein loszuwerden und damit ein entscheidendes Hindernis im Wettkampf der Standorte auf dem europäischen Binnenmarkt, in dem die von allen zentralstaatlichen Hemmnissen freigesetzte katalanische Tüchtigkeit zweifellos zu den Siegern gehören würde. So beziehen sie sich, noch bevor sie eigenständiges EU-Mitglied sind, auf die Sortierung der Staaten innerhalb der EU und anerkennen und bekräftigen damit die Konkurrenz der Standorte in der Union. Sie machen die bestehende Spaltung innerhalb der Union in erfolgreiche und weniger erfolgreiche Nationen zum Argument für sich und für die Anerkennung Kataloniens als neues, willkommenes Mitglied im Kreis erzdemokratischer, europafreundlicher Nettozahler, dem man die Mitgliedschaft unmöglich versagen könne. Katalonien würde ganz gewiss, im Gegensatz zum spanischen Staat, alle Kriterien europanützlicher Souveränität erfüllen, insbesondere das, ein geborener Eurostaat zu sein, woran es bislang nur von ebendiesem konkurrenzuntüchtigen Spanien gehindert wurde. Mit dem Bekenntnis zum Gebrauch seiner künftigen Selbständigkeit im Sinne des europäischen Währungsimperialismus fordert Katalonien von der EU Anerkennung und Aufnahme.

Die EU als Staatenbund beruht auf dem Willen ihrer souveränen Mitglieder zur Union. Im Fall Katalonien lehnt sie es entschieden ab, Zufluchtsort eines abtrünnigen Subnationalismus und seiner unerwünschten Souveränitätsbestrebungen zu werden. Als supranationaler Machtblock braucht sie die Potenzen – vor allem – der großen Staaten und deren möglichst geeinten, positiv auf Europa bezogenen Willen und leidet zugleich seit ihrem Bestehen an den nationalstaatlichen Berechnungen, nach denen sich die Beiträge der Mitglieder zu „Europa“ richten. Diesem Widerspruch entnehmen die Brüsseler EU-Organisatoren und die Führungsstaaten, die die Richtlinien der europäischen Politik bestimmen, die Daueraufgabe, widerstrebende Nationalstaaten zum EU-dienlichen Gebrauch ihrer Souveränität anzuhalten, und nicht, zu deren Zerlegung beizutragen. Fanatiker kleiner und mittelgroßer Eigenstaatlichkeit gibt es in diesem Bündnis für den Geschmack seiner Führung schon genug, und die hat auch genug damit zu tun, unter dem Regime des berühmten acquis communautaire einer wachsenden Anzahl unionskritischer Staaten, die ihre politische und ökonomische Indienstnahme in und für Europa zunehmend für ruinös halten, ihre Rechte und Pflichten zuzuweisen. Die nicht bestellte innere Zersetzung eines großen Unionsstaates, als deren Folge sowohl die EU-Führung als auch die Chefs der Führungsstaaten weitere unabsehbare wirtschaftliche und politische Risiken für den europäischen Standort und eine Schwächung der Union befürchten, wo es vielmehr um machtvolle, von den Anführern der Union zugewiesene und organisierte Beiträge zum europäischen Supranationalismus ginge, ist nicht erwünscht und kann keine Unterstützung erwarten.[4] So teilt der oberste Beamte aller EU-Behörden den Katalanen unmissverständlich mit, dass die Union nicht noch mehr Risse und Brüche braucht, und dass es auch nicht erstrebenswert sei, dass die EU morgen 95 Mitgliedsstaaten hat (Juncker, El País, 28.10.17). Die EU-Führer können hier auch keinen höheren imperialistischen Gesichtspunkt erkennen, unter dem eine Anerkennung der beantragten Selbstbestimmung einen politischen Sinn ergäbe. Deshalb verneinen sie in ausdrücklicher Abgrenzung zu den historischen Fällen im alten Jugoslawien und im Kosovo [5] die Existenz eines „Menschenrechtsproblems“, das als Titel für eine Ermutigung des Separatismus und die Zerlegung Spaniens dienen könnte.

Deshalb erkennt Berlin ausdrücklich die Unabhängigkeitserklärung nicht an, wünscht sich Paris ein „starkes und einiges Spanien“ und bekräftigt D. Tusk, der Präsident des europäischen Rates, dass auch nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Kataloniens sich für die europäischen Autoritäten nichts geändert hat. Spanien ist weiterhin unser einziger Gesprächspartner. (El País, 28.10.17) Die Chefs der EU und mit ihnen die Anführer der wichtigen EU-Nationen weisen also den katalanischen Separatismus zurück, stärken den Rechtsstandpunkt der spanischen Regierung und lassen erkennen, dass sie bei der andauernden Aufarbeitung der Euro-Krise, beim Kampf gegen europafeindliche Regierungen, Parteien und Strömungen und andere Separatisten in Lauerstellung keine spanische Staatskrise mit Gefährdungspotential für den Fortgang und Bestand Europas brauchen können. Brüssel macht der Sezession keine Hoffnungen, stellt klar, dass ein abgespaltenes Katalonien kein Mitglied der EU mehr wäre und entzieht mit der Unterstützung des spanischen Standpunktes den Separatisten ihre wichtige „europäische Perspektive“. Auf diese Weise demonstrieren die Zuständigen, dass derlei grundsätzliche Zwistigkeiten in den Unionsstaaten europäische Souveränitätsfragen sind, auch wenn sie als innere Angelegenheiten ausdrücklich nicht auf die Tagesordnung eines Gipfeltreffens kommen, sondern nur freundschaftlich-informell von der Kanzlerin beim indignierten spanischen Kollegen nachgefragt werden. Die Separatisten erhalten den kühlen Bescheid aus Brüssel, Berlin und Paris, dass Spanien ungeteilt für Europa da zu sein habe, und die Zentralregierung den solidarischen, sie möge sich als haltbare europäische Souveränität erweisen, möglichst natürlich, wie wir das auf unserem zivilisierten Kontinent gerne sehen, vermittels der Stärke des Arguments, nicht mit dem Argument der Stärke (Tusk). So wird aus den Zentren der europäischen Macht die Legitimität des spanischen Staates mitdefiniert und klargestellt, dass Spaniens Souveränität eben keine rein spanische Angelegenheit mehr ist.

[1] Wer auch immer am 21-D gewinnt, er muss das Gesetz achten. (M. Rajoy, in TV 24horas, 15.11.17)

[2] „Seit dem Beschluss der spanischen Verfassung von 1978 hat die katalanische Politik eine Schlüsselrolle innegehabt und eine beispielhafte Haltung gezeigt, loyal und demokratisch gegenüber Spanien, mit einem tiefen Gefühl für den Staat. Der spanische Staat hat diese Loyalität mit der Verweigerung der Anerkennung Kataloniens als Nation zurückgestoßen; und er hat eine begrenzte Autonomie zugestanden, mehr administrativ als politisch, verbunden mit einem Prozess der Rezentralisierung; einer zutiefst ungerechten wirtschaftlichen Behandlung und einer sprachlichen und kulturellen Diskriminierung. Das Autonomiestatut [von 2006, d. Verf.] ... sollte ein neues stabiles und dauerhaftes Zeichen der bilateralen Beziehungen sein... Die politische Übereinkunft [wurde] gebrochen durch das Urteil des Verfassungsgerichts [von 2010, d. Verf.] ...“ (Beschlussvorlage für das katalanische Parlament vom 27.10.17)

[3] Die katalanische Herausforderung – der Obertitel, unter dem seit Jahren in der spanischen Öffentlichkeit einfühlsam über die Ereignisse vom Standpunkt des spanischen Rechts- und Verfassungsstaates berichtet wird.

[4] Katalonien ist ein inneres Problem von Spanien und es ist kein Menschenrechtsproblem. Die Katalanen, die ich liebe, werden nicht von Spanien unterdrückt. Die größte Gefahr für Europa ist der Nationalismus. Wir müssen alles dafür tun, dass die EU Macht erhält. Der Nationalismus ist ein Gift, das verhindert, dass Europa seine Rolle auf der Weltbühne spielt. (Interview mit Juncker, zit. auf Euronews, 27.10.17)

[5] Die Perspektive ‚wir wollen in die EU‘ hat überall eine große Rolle gespielt. Das fing schon 1991 an, als Slowenien sich unabhängig gemacht hat. Damals hat Außenminister Dimitrij Rupel gesagt, dass das Auseinanderfallen Jugoslawiens und die Einigung Europas zwei Seiten einer Medaille sind. Ohne das eine fände das andere nicht statt. (DW, 16.2.17)