Joachim Gauck hält eine „brillante“ Antrittsrede
Was weiß dieser Mann von dem Land, dem er vorsitzt?

Die Antrittsrede des frisch gekürten Herrn Bundespräsidenten war nach allgemeiner Auskunft „die beste Rede“, die je im deutschen Bundestag gehalten wurde. Gewidmet war sie mit acht rhetorischen Fragen der einen selbstgestellten: „Wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen ‚unser Land‘?“ Eine Frage, die die Antwort praktischerweise im Prinzip schon mitliefert: So jedenfalls soll es aussehen, dass gleich alle bis in alle Zukunft gar nicht umhin können, schlicht und einfach dafür zu sein. Dafür liefert der oberste Repräsentant keine Argumente, sondern das ist alles, was er von diesem Land weiß und wissen will und in mehreren Anläufen ausbreitet: Das Land, der Staat und die Regie­renden, haben ein Anrecht darauf, die Zustimmung der Bürger zu ihrem Treiben frei Haus geliefert zu bekommen. Entsprechend einsinnig verlogen und fordernd fällt Gaucks Bild Deutschlands aus.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Joachim Gauck hält eine brillante Antrittsrede

Über alle Parteigrenzen hinweg spart die politische Elite Deutschlands nicht mit Lob, nachdem der frisch gekürte Herr Bundespräsident seine Antrittsrede gehalten hat. Diese habe nicht nur die Erwartungen übertroffen (Rösler), sei klug, ermutigend und einfach großartig gewesen, sondern laut Sigmar Gabriel überhaupt die beste Rede, die jemals im deutschen Bundestag gehalten wurde. Selbst notorische Gauck-Kritiker wie Gregor Gysi befinden sie als in mancher Hinsicht bemerkenswert.

Applaus hat er also genug bekommen für die Antwort auf die selbstgestellte Frage:

„Wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen ‚unser Land‘?“

– eine Frage, die die Antwort praktischerweise im Prinzip schon mitliefert: So jedenfalls soll es aussehen, dass nicht nur Gaucks Zuhörer, sondern gleich alle künftigen Generationen gar nicht umhin können, schlicht und einfach dafür zu sein. Zuvor jedoch gibt der Redner darüber Auskunft, wie dieses Land tatsächlich aussieht. Und zwar in acht rhetorischen Fragen, die eine ganz andere Frage aufwerfen:

Was weiß dieser Mann von dem Land, dem er vorsitzt?

„Geht die Vereinzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten? Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden?“

Man kann der deutschen Konkurrenzgesellschaft ja vieles nachsagen. Etwa, dass sie durchzogen ist von fundamentalen Interessengegensätzen. Dass die Landesbewohner in ihrem Bemühen um ein anständiges Leben aus Gründen ihrer gar nicht frei gewählten Lebenslage beständig aneinander geraten. Dass sie die Erfahrung machen, dass der Nutzen des einen auf Kosten anderer geht – mit einer sehr klaren Tendenz der Scheidung von Vorteil und Schaden. Dass die große Mehrheit diese Erfahrung mit einer Mischung aus Resignation und Missgunst quittiert. Aber dass die Leute in diesem Gespinst aus Abhängigkeit und Antagonismus ‚vereinzelt‘ vor sich hin leben würden und womöglich immer vereinzelter: Wo hat der Mann dieses Problem entdeckt?

Man kann sich auch, sogar als führendes Mitglied der deutschen Klassengesellschaft, mal eingestehen, dass hier wie in jeder marktwirtschaftenden Nation der gesellschaftliche Reichtum einer kleinen Klasse von großen Eigentümern gehört und von einer Mehrheit erwirtschaftet wird, die nicht viel davon hat, die von ihren Arbeitgebern vielmehr hart herangenommen, schlecht bezahlt und, soweit unbrauchbar oder überflüssig, in ein durchorganisiertes Elend abgeschoben wird. Aber muss man sich diese Sachlage mit der albernen Metapher von der „Schere“ verharmlosend als rein quantitative Einkommensdifferenz zurechtlegen, die aus rätselhaften Gründen dazu tendiert, größer zu werden? Und wenn man schon, ähnlich verharmlosend, die systemeigene Verelendung zur gesellschaftlichen ‚Randlage‘ erklärt: Muss man dann gleich so weit gehen und das Elend zu einem Problem der Gefühlslage der Opfer erklären?

Dem ideellen Vorsitzenden des Vize-Exportweltmeisters dürfen ruhig mal die Härten und Gemeinheiten ein- und auf die Seele fallen, die die globale Marktwirtschaft für ganze Völkerschaften und Regionen mit sich bringt. Aber in welcher Realität lebt ein Repräsentant Deutschlands, der ausgerechnet diese Nation, einen der monströsen Veranstalter und Nutznießer des Weltkapitalismus, in Gefahr sieht, von der Abstraktion – Globalisierungverschlungen zu werden, die er für den Begriff der ökonomischen Konkurrenz der Nationen hält? Und in welcher Ideenwelt lebt dieser Mann, wenn er von einem Europa, das gerade die Masse seiner Einwohner mit den Härten einer verlorenen Krisenkonkurrenz im Süden, den Gemeinheiten der Profitmacherei erfolgreicher Krisengewinnler im deutschen Zentrum des Kontinents drangsaliert, nichts anderes zur Kenntnis nehmen will als eine liebenswürdige Idee?

Weiter. Es ist ja recht, dass sich der westliche Kriegseinsatz in Libyen und die Kriegsdrohungen der beiden weltpolitisch erstrangigen Verbündeten Deutschlands, der USA und Israels, gegen den Iran, also die Gewaltträchtigkeit des modernen Weltfriedens bis zum neuen Bundespräsidenten herumgesprochen haben. Aber muss man den Intellektuellen an der Staatsspitze wirklich auf den nicht bloß semantischen Unterschied aufmerksam machen, dass da nicht Kriege drohen, sondern Staatsmächte, die ihr Regime über die restliche Staatenwelt für ein Ding der Selbstverständlichkeit halten, mit Krieg? Und dass diese Weltlage mit dem kindischen Bild einer Front zwischen verbrecherischen Fanatikern und friedlichen Menschen, denen jene ans Leben wollen, dann doch nicht ganz angemessen beschrieben ist?

Schließlich: Man kann an der innenpolitischen Realität der deutschen Republik ohne große Mühe viel Ekelhaftes entdecken und z.B. darauf aufmerksam werden, dass eine patriotisch indoktrinierte Mehrheit des Volkes irgendwie fremdartige Minderheiten ausgrenzt, und zwar so gnadenlos, dass die ihrerseits anfangen, sich als ausgegrenzte Minderheit mit eigenen Sitten zu begreifen und zu betätigen. Aber wieviel parteiliche Voreingenommenheit gehört dazu, den Ausgegrenzten ihre Isolation in wohlgesetzter Rede zum Vorwurf zu machen?

Dass das deutsche Volk mit seinen Existenzbedingungen – freilich seinen wirklichen – alles andere als glücklich ist: Auch das kann ein Mitglied der nationalen Elite bemerken; und Gauck bemerkt auch das. Die Diagnose jedoch, die er seinem Volk stellt, ist so bizarr wie sein Bild von Deutschland – nun, sagen wir: verzerrt:

„Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt eine Fülle neuer Ängste und Sorgen hervor. Manche ersinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein Lebensthema ,Freiheit‘ ist dann für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung. Ich verstehe diese Reaktion, doch ich will ihr keinen Vorschub leisten. Ängste – so habe ich es gelernt in einem langen Leben – vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum.“

Das deutsche Volk: eine Ansammlung verängstigter, orientierungsloser Psychos, deren Medienkonsum tagtäglich die von Gauck imaginierten Probleme zu Hause und in der Welt zu einem immer größer werdenden Durcheinander in ihren Köpfen verwandelt, so dass sie am Ende überhaupt nichts mehr auseinander halten können und folgerichtig allumfassend die Gegenwart fürchten, der Zukunft misstrauen und Fluchtwege ersinnen – wohin auch immer –: Wo ist Gauck dem begegnet? Aber wie dem auch sei: An dieser Charakterisierung der geistigen Verfassung der Deutschen wird der Leitfaden deutlich, an dem entlang Gauck mit seinen acht rhetorischen Fragen sein Zerrbild der Realität von Marktwirtschaft und Demokratie zeichnet: Die ganze Wirklichkeit der Republik nimmt er ausschließlich als Ansammlung von Gesichtspunkten für und Auslöser von Verunsicherung im Volk wahr. Alle – ihm irgendwie durchaus bekannte – Unzufriedenheit der Leute mit ihren Lebensverhältnissen löst er auf in falsche Wahrnehmungen, Einbildungen, subjektive Entgleisungen von Verängstigten, die sich die Lage der Nation ganz falsch zu Herzen nehmen. Einen sachlichen Grund für Unmut gleich welcher Art lässt Gauck nicht gelten. In seiner Konstruktion von unserem Land und seinen Insassen ist dafür kein Raum. Alles, was die Leute hierzulande am Gemeinwesen stören mag, entspringt einer falschen, negativen Einstellung zur Welt. Das ist die Ebene, auf der sich seine ganze Rede bewegt; und auf der hat er einiges in Ordnung zu bringen: Gegen mutlose Sichtweisen möchte er anreden und so die Welt verbessern: durch die Korrektur ihrer Wahrnehmung.

Dabei bezichtigt Gauck sich selbst einer möglichen Mitverantwortung für das Durcheinander in den Köpfen seiner lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger: Denn kaum sendet der Bundespräsident sein Lebensthema ,Freiheit‘ durch den Äther, fühlen die sich schlecht, statt dass sie sich freuen, bloß weil das Bild von der Wirklichkeit sie falsch konditioniert hat. Gauck stilisiert seinen Freiheitsidealismus zu einem potentiell verunsichernden Moment, um – welch schöner Kunstgriff! – mit umso mehr Berechtigung und vor allem als nachgewiesenermaßen Zuständiger klarstellen zu können, dass das unmöglich die Wahrheit sein kann. Tatsächlich ist die Freiheit eine Verheißung! Dafür steht er als der neue Bundespräsident, dessen erste entscheidende praktische Botschaft und zugleich Therapie darin besteht, ganz viel Mut und Selbstvertrauen auszustrahlen und dadurch im patriotischen Gemüt seiner verängstigten Patienten erkeimen zu lassen. Denen empfiehlt er sich als Mutmacher und Psychologe der Nation; die Angesprochenen wiederum mögen sich – seiner Therapie folgend – die rechte, positive Haltung zur Welt zulegen und Mut und Vertrauen in die Freiheit fassen.

Dass sie das gefälligst zu tun haben, schwingt da immer mit. Aber das macht nichts. Manchen Patienten muss man bei der Befolgung ihrer Therapie etwas nachhelfen, wenn man ihnen helfen will.

*

Gott sei Dank werden die Deutschen mit der therapeutischen Anforderung, Mut zu fassen, im weiteren Verlauf der Rede nicht allein gelassen. Gauck verabreicht der verängstigten Gemeinde sogleich positive Verstärker aus seinem Schatz an Erinnerungen aus der deutschen Nachkriegsgeschichte:

„Ich will meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges gelungen ist.“

Dass noch jeder Blick zurück in die Geschichte irgendwie interessegeleitet ausfällt, kennt man ja. Bei Gauck wird diese Übung zum Prinzip: Er stellt dem mit seinem Fragenkatalog vom Anfang ausgepinselten negativen Zerrbild deutscher Realität das komplementär positive vom Werdegang der Nation gegenüber, und siehe da: Bei der Karriere vom Kriegsverlierer zu einer erfolgreichen kapitalistischen und anerkannten imperialistischen Nation handelt es sich um einen einzigen Heilsweg.

„In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Erstes den Namen ,Wirtschaftswunder‘. Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße.“

Damit, dass Deutschland wieder auf die Beine kam, hat Gauck sicher recht. Umso interessanter, wie sich die Restauration der kapitalistischen Produktionsweise in der Bundesrepublik in seiner Rede widerspiegelt. Sie setzt sich zusammen aus der Integration der Vertriebenen, dem Wiederaufbau von Wohnraum und einem Wohlstand mit kleineren Schönheitsfehlern – war da nicht noch was?

Dass ein Wohlstand geschaffen wurde, an dem sogar der Durchschnittsbürger teilhaben konnte, wenngleich nicht jeder im selben, sprich in aller Regel in nicht gerade üppigem Maße, das wirft dann doch eher Fragen auf: Wem gehörte denn der ganze schöne Wohlstand, an dem auch der kleine Mann großzügiger Weise partizipieren durfte? Wer hat den eigentlich geschaffen? War besagter Durchschnittsbürger im Wirtschaftswunder als fröhlicher, in seinem Wohnraum residierender Genießer verplant oder doch eher als derjenige, der sich für dieses „Wunder“ krumm zu legen hatte? Feierte damals nicht weniger der Wohlstand in Deutschland fröhliche Urständ als vielmehr das deutsche Kapital in Ausnutzung einer willigen Arbeiterklasse, die sich für dessen Wachstum sofort wieder einspannen ließ?

Aber sei’s drum, das beschönigende Sprachdenkmal vom Wirtschaftswunder für den kapitalistischen Wiederaufstieg Deutschlands will Gauck sich einfach nicht entgehen lassen; um allerdings umgehend klarzustellen:

„Allerdings sind für mich die Autos, die Kühlschränke und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das Wunderbare jenes Jahrzehnts.“

Das wirklich Wunderbare an all den zu bestaunenden Wundern im Nachkriegs-Deutschland ist nämlich nicht der schnöde materielle Wohlstand, sondern etwas viel Höheres:

„Ich empfinde mein Land vor allem als ein Land des ,Demokratiewunders‘. Anders als es die Alliierten damals nach dem Kriege fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland West wurde Teil der freien westlichen Welt.“

Ja gut, ihre gestaltende Kraft haben die nationalsozialistischen Gedanken laut Gauck in den Jahren zuvor aufgebraucht, aber warum wohl ging es einem Volk von Nazis so locker von der Hand, Hitler gegen Adenauer einzutauschen? War der Revanchismus im deutschen Volk vielleicht gar kein zu überwindendes Hindernis bei dessen Umerziehung, weil der Antikommunismus des Dritten Reiches bruchlos in die neue Nationalmoral übernommen werden konnte? Fiel den Deutschen die nicht gerade unmögliche Umstellung darauf, ab sofort unter mehreren Führern auswählen zu dürfen, vielleicht auch deshalb nicht besonders schwer? Darf man daran erinnern, um in diesem Fall einer vorgetäuschten Amnesie Gaucks entgegenzutreten, dass der deutsche Revanchismus deshalb nie drohte, wieder mehrheitsfähig zu werden, weil er von Anfang an als höchster Verfassungsauftrag Bestandteil deutscher Staatsräson war? Die Wahrheit von Gaucks subjektlosem Demokratiewunder ist dann auch viel prosaischer: Die neu an die Macht Gekommenen haben Deutschland nicht zuletzt für die Revision des Kriegsergebnisses fest in der neuen westlichen Front der Demokratie gegen das alte kommunistische „Reich des Bösen“ verankert.

Überhaupt kein Wunder also, dass „die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit defizitär blieb“ und „die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Naziregimes den damaligen Zeitgeist prägten.“

Ein paar Jahre später hat sich dann – zumindest nach Gaucks Erinnerung – eine Generation aufmüpfiger Studenten darum verdient gemacht, die Spuren vergangener Abgründe in der deutschen Volksseele zu bereinigen:

„Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen unsere Nachbarn im Inneren wie im Äußeren verging. Es war und blieb das Verdienst dieser Generation, der 68er: Es war ein mühsam errungener Segen, sich neu, anders und tiefer erinnern zu können. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er auch verbunden haben, haben sie die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt.“

Gauck, der alte 68er, muss ja wissen, was seine Generation damals wirklich im Sinn hatte und worin sie sich sicher war: dass Nationalbewusstsein sich nicht damit verträgt, sich der eigenen Vergangenheit immerzu im Gestus verdrängenden Schuldbewusstseins zu nähern. Dass Patrioten es einfach nicht aushalten, auf ein tiefschwarzes Loch in der Geschichte des Vaterlandes, die immer zugleich die eigene ist, zu blicken, das man immerzu aus seiner Erinnerung ausblenden möchte. Dass nationalistisches Denken eine solche moralische Wunde in der Vergangenheit der Nation einfach nicht erträgt. Sich und den anderen 68ern gratuliert Gauck dazu, den deutschen Nationalismus von dieser Bürde befreit zu haben durch die Wiederaneignung der eigenen Geschichte: Man schwingt sich selbst zum Richter über deren dunkle Flecken auf, bewältigt die eigene Schuld mit dem offensiven Bekenntnis zur ihr und streift so die passive Rolle des ewigen Missetäters ab.

Ein echtes Highlight Mut machender Historie steht noch aus:

„1989 – dieser nächste Schatz in unserem Erinnerungsgut. Da waren die Ostdeutschen zu einer friedlichen Revolution imstande, zu einer friedlichen Freiheitsrevolution. Wir wurden das Volk, und wir wurden ein Volk. Und nie vergessen: Vor dem Fall der Mauer mussten sich die vielen ermächtigen. Erst wenn die Menschen aufstehen und sagen: ,Wir sind das Volk‘, werden sie sagen können: ,Wir sind ein Volk‘, werden die Mauern fallen.“

Dass Menschen aufstehen, sich ermächtigen, glatt eine Revolution anzetteln, das findet unser Großredner prima, weil die Leute damit den einzig wahren Zweck verfolgen, nämlich ihr Urbedürfnis geltend zu machen, Volk zu sein: selbstbewusst Manövriermasse staatlicher Gewalt. Noch besser, wenn Volksgenossen sich konsequent der einen, nämlich ihrer wahren Herrschaft zurechnen, die schon immer nur das eine Volk kennen wollte, und ihr nationales Selbstbewusstsein in den Antrag auf Eingemeindung in das eine Großvolk münden lassen. Solch ein Befreiungsakt gefällt Gauck. Für diese tätige Gesinnung lässt der Freiheitsfanatiker seinen Wende-Ossis nochmals seine Ehrerbietung zuteil werden; und die legt unser Mutmacher allen Nationalisten im Land ans Herz. Denn das ist der wahre und eigentliche Emanzipationsakt des wahrhaft freien Menschen.

Mit dem Mauerfall ist laut Gauck noch etwas ganz anderes von der Bildfläche verschwunden, ein Zeitphänomen, das „die Geschichte“ der Wendezeit offenbar gleich mit erledigt hat:

„Damals wurde auf ganz unblutige Weise auch der jahrzehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des Kalten Krieges gelöscht, und die aus ihr erwachsende Kriegsgefahr wurde besiegt und beseitigt.“

Da müssen wir unseren Mutmacher dann doch einmal daran erinnern, dass dem unblutigen(!) Ende des besagten Gegensatzes die Kapitulation der Sowjetunion, des Systemfeinds im Osten, vorausging, gegen den über mehr als vier Jahrzehnte ein minutiös geplanter, mehrphasiger Atomkrieg der westlichen Kriegsallianz auf der Tagesordnung stand, in dessen Strategie sich die Bundesrepublik als vorwärts verteidigender Frontstaat eingereiht hat, was eine ganze Friedensbewegung – nicht ganz zu Unrecht – um den Bestand ihres Vaterlandes fürchten ließ! Aber damit ist es ja, gottlob vorbei. Und weil den Präsidenten die wirklichen Gründe für das Ende des „Ostblocks“ ohnehin nicht interessieren, können wir als Quintessenz der Geschichtslektion festhalten:

„Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie nach besten Kräften – wenn auch nicht gleich ideal – zu lösen, das ist eine große Ermutigung auch für uns in der Zukunft.“

*

Von der gibt uns Gauck schon mal einen Vorgeschmack. Er wirft er seine Ausgangsfrage von neuem auf

– „Wie soll es nun also aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel ,unser Land‘ sagen?“ –,

als ob von der Frage, wie dieses Land aussehen soll, noch irgend etwas offen wäre! Wie wenig von dem, wie der Laden läuft, tatsächlich zur Disposition steht, wie wenig erst recht der neue Präsident davon zur Disposition gestellt haben möchte, geht aus seinen Anforderungen an das künftige Deutschland selbst hervor. Er macht klar, worauf er nichts kommen lassen will – nämlich auf genau die Realität, die er in seinen rhetorischen Fragen zu Anfang leicht entstellt aufbereitet hat:

„Es soll ,unser Land‘ sein, weil ,unser Land‘ soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern der eines Sozialstaates, der vorsorgt und ermächtigt. Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind.“

Gauck redet über den bundesdeutschen Kapitalismus unter dem Gesichtspunkt seines Ideals von dessen sozialstaatlicher, allfällige Friktionen bewältigender Ausgestaltung und macht gleich offensiv geltend, dass der übergeordnete Gesichtspunkt für diesen Sozialstaat die Erziehung zur Zufriedenheit ist, dazu, dass die Menschen diesen ganzen marktwirtschaftlichen Laden als ihr Land akzeptieren. So kommen dann auch die Armen, Alten und Behinderten zu ihrem Recht, nämlich zu dem völlig richtigen „Eindruck“, dass sie mit all ihrem Elend integraler Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Und der großen Masse derer, die – wie es sich gehört – um ihre Chancen kämpfen müssen, hat der Sozialstaat ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, den nach fairer Konkurrenz. Dann weiß Gauck, dass diese Menschen – wie auch immer es um ihre materiellen Lebensumstände bestellt sein mag – zufrieden sind. Er legt Wert darauf, wie ein zeitgemäßer Sozialstaat die Massen zu befrieden hat: nicht mit einem paternalistischen, letztlich freiheitsfeindlichen Versorgungswesen, sondern mit dem Einstehen für Chancengleichheit und der Gewährleistung der Möglichkeit eines allzeit leistungsgerechten Aufstiegs für alle. Denn soviel Gerechtigkeit muss schon sein in unserem Freiheitsladen, dass jeder – egal, an welchem Platz in der Klassengesellschaft er gelandet ist – den „Eindruck“ haben kann, dass er irgendwie genau dort auch hingehört.

Das Ganze eine Abstraktionsstufe höher:

„Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn was Gerechtigkeit – auch soziale Gerechtigkeit – bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näherzukommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, sondern nur in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. ,Unser Land‘ muss also ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.“

So geht Mut Machen für Demokratie und Marktwirtschaft! Man rufe auf zu einem hochtrabenden demokratischen Diskurs über das Wechselspiel von Freiheit und Gerechtigkeit! Und das war’s im Prinzip. Mehr ist nicht versprochen: Es ist die wohlverstandene Aufgabe des Staates, Zustimmung zu sich zu erzeugen. Wenn’s sein muss eben mit einem hochphilosophischen Diskurs, in dem man Freiheit und Gerechtigkeit solange gegeneinander hin- und herwendet, bis der letzte Zweifler gemerkt hat, dass Gauck tatsächlich den Begriff Gerechtigkeit im Repertoire hat, was man ihm bis neulich gar nicht zugetraut hatte. Wobei eines – man kann es offenbar gar nicht oft genug sagen – nochmal klargestellt werden muss: Dass ein paternalistischer Sozialstaat Versorgung anordnet – das können wir freiheitlichen Demokraten überhaupt nicht leiden!

Die Beschwörung der Werte von Freiheit und Gerechtigkeit taugt aber noch zu mehr, zu viel mehr: Gauck bringt sie in Anschlag als die neue tragfähige ideologische Basis für zeitgemäßen Patriotismus:

„In unserem Land sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa.“

Gauck kennt sich aus: Die Verwandlung von Staat in Nation kommt ohne das Stricken an allerlei Legenden darüber, was eine Völkerschaft zusammenhält, nicht aus. Gemeinschaft stiftend ist demnach nicht die Staatsmacht mit ihrer das Volk definierenden Gewalt, sondern vorstaatliche Errungenschaften wie Sprache, Kultur und Religion, die zu ihrer Pflege nach einem staatlichen Zusammenhang gerufen und den auch irgendwann bekommen haben. Zur Verehrung der Nation wäre der schlichte Verweis auf das Vorliegen eines Herrschaftsverhältnisses ja auch wirklich nicht tauglich.

Auf unsere angestammten Traditionen kann sich nun aber ein ganzer Volksteil, die „Menschen mit Migrationshintergrund“, einfach nicht berufen. Auch auf deren rechte Einstellung, auch auf ihr Dafür-Sein ist Gauck scharf. Auch sie sollen hier zu Hause, sprich aufrechte Patrioten sein können. Und dafür macht er ihnen ein Angebot. Welchen ethnischen oder religiösen Hintergrund sie auch immer mitbringen, das Bekenntnis zu unseren demokratischen und marktwirtschaftlichen Idealen können sie ablegen! Blut und Boden als ideologische Basis des Patriotismus haben ausgedient, hoch lebe die politische und ethische Wertegemeinschaft, der sich wirklich alle zuordnen und in der wirklich alle aufgehen können. Die Ideale des Systems propagiert Gauck als das moderne einigende Band der Nation – Verfassungspatriotismus 2012 als Angebot und Auftrag an die Zugereisten, sich auch gesinnungsmäßig ins große Ganze einzufügen.

Damit nicht genug. Dass die Unterschiedlichen zum Gemeinsamen streben, hat noch eine zweite Bedeutung: Das Gemeinsame ist nämlich dieser unser Staat in Europa. Seiner Vorstellung von modernem Patriotismus nach lebt die Nation nicht vom Vergangenen, sondern von einer in die Zukunft gewandten Bestimmung: Wie schon ihre Werte nicht an der Landesgrenze Halt machen, so greift auch die Nation selbst über ihr angestammtes Territorium hinaus. Im Namen der Verhimmelung des Systems ist Deutschland größer als es selbst. Seine Identität liegt in seinem Fortkommen im europäischen Gemeinwesen. So reflektiert der Präsident die imperialistischen Ambitionen der Bundesrepublik in der EU und macht sie vorwärts weisend zum zeitgemäßen Bestandteil des deutschen Nationalgefühls: Die die Nation begründenden Werte sind internationalistisch, gelten mindestens bis zu den Grenzen der EU; deshalb heißt Deutsch-Sein Europäer zu sein. Das Ausgreifende deutscher Staatsräson will Gauck auch im Nationalismus von unten verankert haben. Auch und gerade das verbindet.

Nicht nur den bei uns gelebten Werten von Freiheit und Gerechtigkeit hat der Präsident abgelauscht, dass die Nation, der er vorsteht, bei Lichte betrachtet weit über ihre Landesgrenzen hinausreicht. Die imperialistischen Qualitäten der Berufung auf das nächste große Ideal unseres Systems, das er auspackt, das von der Demokratie, spricht er auch gleich offen an. Zum wiederholten Male fragt er sich und seine Zuhörer:

„Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel ,unser Land‘ sagen sollen?“,

um umgehend klar zu stellen:

„Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen.“

Eine Konkurrenzgesellschaft, in der Gruppeninteressen gegeneinander stehen, eine staatliche Herrschaft, die unter dem Titel Gemeinwohl diese Interessen nach ihren Maßstäben beschränkt – um diese Errungenschaft des modernen Klassenstaats sollen also unser aller Kinder und Enkel nicht herumkommen. Aber das genügt Gauck nicht: Letztere sollen die herrschende Ordnung, zu der er ihnen gratuliert, das System, das diese Verhältnisse verewigt, klasse finden und vereint mit ihrem Präsidenten das so vollendet verfasste eigene Land zum Vorbild für den Rest der Welt erklären. Denn unser Land ist aus Systemgründen nicht weniger als die geborene Blaupause für richtiges Regieren im Rest der Welt.

Für das reibungslose Funktionieren dieses Ladens ist im Grunde auch schon alles da:

„Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus.“

Das System spannt seine Bürger dafür ein, dass es sich immer gleich bleiben kann. Jede Unzufriedenheit womit auch immer, ob organisiert oder vereinzelt, jede Initiative oder sonstige Regung in der Gesellschaft, alles, einfach alles trägt zum Gelingen des großen Ganzen bei, so hat es das System gerichtet. Engagement und Protest weiß Gauck gerade noch zu unterscheiden, in ihrer Funktion fallen sie für ihn in eins: Sie sind gleichermaßen Beiträge zur und Stützen der Demokratie. Wie auch immer das gehen mag – darüber braucht Gauck kein Wort zu verlieren –, in diesem System kann der Bürger, egal was ihn stört oder umtreibt, nicht umhin, Zuträger desselben zu sein. Fest steht jedenfalls, dass es sich dabei um eine herausragende Leistung des Systems selbst handelt; die kann der Mutmacher Gauck diesem gar nicht hoch genug anrechnen.

Dass zu dieser Republik „irregeleitete Fanatiker“ dazugehören, dass sie insbesondere der Sumpf für rechtsradikale Abweichler ist, lässt Gauck in seiner Rede nicht unerwähnt – in Form der Totalabgrenzung: Von jeder Geistesverwandtschaft mit solchen Umtrieben spricht er die Republik frei, indem er den Fanatikern, Terroristen und Mordgesellen entgegenschmettert:

„Euer Hass ist unser Ansporn... Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.“

Mit der flammenden Ausgrenzung der Rechtsradikalen ist Gaucks politische Welt aber anscheinend doch noch nicht ganz in Ordnung:

Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. ,Was?‘, so hören wir es oft im privaten Raum, ,Du gehst zur Sitzung eines Ortsvereins?‘ ,Wie bitte, Du bist aktiv in einer Gewerkschaft?‘ Manche finden das dann ,uncool‘. Ich frage mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft ohne derlei Aktivitäten?“

Gerade eben noch dachte man, Gaucks wunderbare Demokratie macht aus den Bürgern ganz von selbst ein Volk von Aktivisten des Gemeinwesens – und jetzt das: Es gibt sie doch, nicht wenige im Land, die Distanz zeigen, die der Politik nicht dankbar sind für ihren Einsatz für unser Land. Leute, die sich vor konstruktivem gesellschaftlichem Engagement – ganz gleich, ob nun im Ortsverein oder an der Tariffront – drücken. Gerade eben hat Gauck sein Volk von Verängstigten noch beruhigt und wiederaufgerichtet. Jetzt bekennt er selber auf einmal, dass ihm sein eigener Laden Angst macht, aber womit? Es gibt glatt welche, die halten von dieser Nation nicht so viel wie er – und das findet er doof:

„Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet Euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz.“

Pflichtgemäß stellt sich der oberste Repräsentant des Staates über das Subjekt wie das Objekt der Herrschaft in diesem unserem Land. Er spricht, ohne Partei zu sein, für das Gemeinwesen. Von Regierenden und Regierten verlangt er gleichermaßen, ihm seine Angst zu nehmen, indem beide zusammen die beschworene Distanz von unten gegenüber oben bekämpfen. Der Kampf sieht entsprechend aus:

„Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden.“

Das ist eine interessante Forderung: Man kann den Menschen antun, was man will und für nötig hält, bloß: Man muss ihnen genau das klar sagen, dann ist die Welt in Ordnung. Hat die politische Klasse das geleistet, dann kann man von ihr noch mehr verlangen:

„[Ich bitte diejenigen,] die in unserem Land Verantwortung tragen, um Vertrauen zu all den Bewohnern dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen Landes.“

Einem Volk, dem man so offen reinen Wein einschenkt über die Zumutungen, die man ihm antut, dem hat man im Gegenzug darin zu vertrauen, dass es auch wirklich alles schluckt, was man ihm vorsetzt! Eine ungeheure Anforderung an die Regierenden: Sie sollen sich darauf verlassen, dass die Regierten schon alles mitmachen, was man ihnen ehrlich und ohne Umschweife ansagt.

Für die Regierten hat ihr oberster Chef dann folgende Aufgabe auf Lager:

„Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben.“

So war also seine ganze Motivationsarie gemeint: Von den von ihren Ängsten Befreiten fordert Gauck angesichts des Projekts Deutschland – mit seinen Nachkriegswundern, seinen 68ern, seiner sozialen Gerechtigkeit seinen Aufstiegschancen und mit noch so viel Wertvollem mehr –, sich gefälligst mit der Herrschaft, die sie regiert, ideell und praktisch zu identifizieren und nicht nur deren Konsum – wie auch immer der Konsum von Herrschaft aussehen mag – zu genießen! Kann man das mal haben von Regierten, dass sie sich das Unterordnungsverhältnis, dem sie unterliegen, nicht einfach nur gefallen lassen, sondern zu ihrer ureigensten Sache machen?

Wenn das klargestellt ist, muss auch mal Schluss sein mit dem Argumentieren dafür, dass die Regierenden in unserem Land Vertrauen verdienen. Dann kann Gauck sich erlauben, die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung tragen. Unterhalb dessen, dass die Regierenden die Zustimmung zu ihrem Treiben auch noch frei Haus geliefert bekommt, macht der es einfach nicht.