Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Jelzin in Stockholm:
Warum der russische Präsident immer noch den Respekt der freien Welt genießt

‚Unser Mann‘ in Moskau wird diplomatisch hofiert, weil und solange seine Nützlichkeit für die westliche Staatenwelt feststeht.

Aus der Zeitschrift

Jelzin in Stockholm:
Warum der russische Präsident immer noch den Respekt der freien Welt genießt

… obwohl wirklich nicht sehr viel dafür spricht:

  • Das Land, dem Boris Jelzin vorsteht, ist in einem hoffnungslosen Zustand. Die aus den Zeiten der sozialistischen Planwirtschaft stammende Produktion und Infrastruktur verfällt; die Armee verkommt, ihr Gerät verrottet; das Gesundheitswesen bricht zusammen; die Lebenserwartung der russischen Bevölkerung sinkt von Jahr zu Jahr.
  • Das alles mag aus der Sicht hiesiger Politik-Berater, die auf der Fortsetzung des „Reformkurses“ in Rußland bestehen, nicht wirklich schlimm sein. Aber: Der Chef des Ladens hat dieses Chaos, das er unverdrossen mit seinen marktwirtschaftlichen Reformen freisetzt und vorantreibt, nicht unter Kontrolle. Seine Regierungskunst besteht im wesentlichen darin, per Ukas höchstpersönlich zu befehlen, daß ab sofort in Rußland alles gut wird, und, wenn das wieder mal nicht eintritt, nach „Verantwortlichen“ zu fahnden, sie zu entlassen und das Regierungspersonal neu zu sortieren. Von Stabilität, dem entscheidenden Kriterium respektabler Regierungsmacht, kann nicht die Rede sein.
  • Ein Demokrat im engeren Sinne ist Jelzin auch nicht. Ob und wann er sich an die Verfassung hält, die er sich eigens für seine werte Person bestellt und zurechtgemacht hat, bestimmt nur einer – der amtierende russische Präsident. Auch das müßte noch nicht schlimm sein. Bei Jelzin stellt sich inzwischen aber die Frage: Bestimmt der Mann überhaupt noch was?
  • Geistig ist der Mann nicht so recht auf der Höhe; auch sich selber hat er nicht im Griff: Diesen Eindruck vermittelt sein Staatsbesuch in Schweden vor den laufenden Kameras der Weltöffentlichkeit. Er wähnt sich zeitweilig in Finnland, findet vor dem schwedischen Parlament sichtlich verwirrt kaum zum Rednerpult, macht zum Leidwesen seines Beraterstabes wieder einen seiner berüchtigten „Abrüstungsvorschläge“, zählt während einer offiziellen Pressekonferenz Japan und Deutschland zu den Atommächten und erklärt den peinlich berührten Anwesenden, Rußland werde seine atomaren Sprengköpfe wieder einmal einseitig um ein Drittel reduzieren. Seine Leute müssen ihn korrigieren: „Der Präsident schien schlicht und einfach nicht zu wissen, wovon er sprach…“

Dennoch: Nichts von alledem hat bisher dazu geführt, daß die westliche Staatengemeinde dem russischen Präsidenten ihre Hochachtung versagt. Er wird weiter als „unser Mann in Moskau“ hofiert, und die freie Öffentlichkeit macht sich heftig Sorgen um seine körperliche Haltbarkeit.

Auf dem internationalen diplomatischen Parkett gibt es offensichtlich nützliche Idioten, die solange nicht als Idioten fallengelassen werden, wie ihre Nützlichkeit für die interessierte Staatenwelt feststeht. Nach dem Motto: „Jelzin – da weiß man, was man hat!“, hält die westliche Staatenwelt bisher jedenfalls an dem Mann fest. Sie hat in ihm den bestmöglichen Garanten für einen ordentlichen Niedergang der russischen Macht. Der Mann, der diesen Niedergang vorangetrieben hat und der es mit seinen personalpolitischen Manövern bislang geschafft hat, daß alle anderen um die Macht im Lande streitenden Parteien sich berechnend auf ihn beziehen, soll sein Geschäft weiter machen. Solange es eben geht, soll Jelzin seinen Laden wenigstens soweit zusammenhalten, daß den Hütern der Weltordnung in Rußland weder ein Konkurrent mit neuen Macht-Ambitionen erwächst noch ein womöglich unbeherrschbarer Krisenherd. Solange die den Eindruck haben, daß dieser Hanswurst an der Spitze Rußlands für ihre Interessen immer noch besser ist als das, was möglicherweise nach ihm kommt, bleibt Boris Nikolajewitsch eine internationale Respektsperson.