Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Gewerkschaft und Öffentlichkeit decken auf:
„Zustände wie im Kapitalismus“ bei Aldi, Lidl, Schlecker und Co.

Die Gewerkschaft Verdi hat im Vorjahr ein „Schwarz-Buch Lidl“ veröffentlicht, in dem sie von „skandalösen Zuständen“ berichtet, und legt nun mit Enthüllungen über die Drogeriemarktkette Schlecker nach. Nicht nur gewerkschaftsnahe Publikationen, auch die Süddeutsche Zeitung und die Welt nehmen sich des Themas an und beleuchten die „dunklen Seiten der Discountriesen“. Alles zusammengenommen, entdeckt eine Gewerkschaftssprecherin doch tatsächlich die Ausbeutung des Personals als Quelle des Gewinns.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Gewerkschaft und Öffentlichkeit decken auf:
„Zustände wie im Kapitalismus“ bei Aldi, Lidl, Schlecker und Co.

Normalerweise haben Kapitalisten eine gute Presse. Sie werden gelobt für ihre „Initiative“, ihre „Risikobereitschaft“, die „Arbeitsplätze“, die sie „schaffen“, und die Nation fragt sich, was sie am Standort ändern muss, damit Unternehmer sich wieder wohler fühlen. Aber Journalisten können auch anders. Einige schließen sich einer Kampagne der Gewerkschaft Verdi gegen die Einzelhändler Aldi, Lidl und Schlecker an. Die „Vereinigten Dienstleister“ haben im Vorjahr ein „Schwarz-Buch Lidl“ veröffentlicht, in dem sie von „skandalösen Zuständen“ berichten, und legen nun mit Enthüllungen über die Drogeriemarktkette Schlecker nach. Nicht nur gewerkschaftsnahe Publikationen, auch die Süddeutsche Zeitung und die Welt nehmen sich des Themas an und beleuchten die „dunklen Seiten der Discountriesen“. Als da wären:

  • Von den Löhnen, die die Discounter zahlen, kann man nicht leben: Sie beschäftigen zu 90% Frauen, die Teilzeit arbeiten und ein Einkommen beziehen, das keine eigenständige Existenz ermöglicht.
  • Die Leistungsanforderungen sind weniger armselig; umgekehrt proportional zur Bezahlung: Wenn die meisten Kunden noch im Bett liegen, beginnt für tausende Kassiererinnen bei Aldi, Lidl und Schlecker ein echter Knochenjob. Um kurz nach 5:00 Uhr rollen die Laster an, bringen palettenweise frische Ware, die bis zur Ladenöffnung verstaut sein muss. Danach noch schnell die Filiale durchwischen, die neuen Reklameposter ins Fenster hängen und dann stundenlang an der Kasse sitzen… Die Frauen, die für neun bis zwölf Euro brutto die Stunde arbeiten, müssen mindestens 40 Waren pro Minute über den Scanner ziehen… Gnadenlose Hetze. (SZ, 8.3.05)
  • Zur Intensität der Arbeit kommt ihre Dauer: Üblich sind Überstunden, die meist nicht bezahlt werden. Die Frauen lügen sogar und verschweigen einen Teil ihrer Überstunden.
  • Gearbeitet wird auch in der Freizeit: Wenn was kaputt geht, reparieren das meistens die Ehemänner (Die Welt, 25.9.); es gibt Filialleiter, die sich Urlaub nahmen und trotzdem arbeiteten, um das Soll zu erfüllen.
  • Die Arbeitszeiten sind extrem „flexibel“: Sie habe meist am Freitag noch nicht gewusst, wann sie am Montag arbeiten müsse (eine Angestellte in SZ, 1.12.); es herrscht die totale Verfügbarkeit.

Alles zusammengenommen, entdeckt eine Gewerkschaftssprecherin doch tatsächlich die Ausbeutung des Personals als Quelle des Gewinns: Schlecker macht Profit auf Kosten der Mitarbeiter. Und manchem Journalisten kommt der Verdacht, dass man so reich wie die Gebrüder Albrecht, Nr. 1 und Nr. 3 auf der Liste der reichsten Deutschen 2004, und Schlecker, Nr.194 der Weltrangliste, durch eigene Arbeit doch nicht wird.

*

Warum die Angestellten sich unter diesen Bedingungen für den Dienst am Reichtum der Schleckers und Albrechts hergeben, ist den Kritikern kein Rätsel. Die Leute haben einfach Angst, den Job zu verlieren, und sind ohne ihn aufgeschmissen: Wenn man das Geld braucht, lässt man sich viel gefallen. Nicht einmal zu einem Interview mit der Presse sind sie bereit; und wenn doch, dann nur, wenn ihr Name nicht genannt und Vertraulichkeit gewahrt wird. Denn die Arbeitgeber nutzen ihre Macht über den Lebensunterhalt ihrer Beschäftigten weidlich aus; der Alltag in der Filiale gerät recht diktatorisch: Im Schlecker-Reich regiert die Angst. Überwachung Druck und Kontrolle sind bei dem Handelskonzern Methode. (Die Welt, 25.9.) Wer nicht spurt, kriegt „Druck“; den Mitarbeitern wird ständig und ausdrücklich bedeutet, wie ersetzbar sie sind. Mit versteckten Kameras, Detektiven und Taschenkontrollen werden nicht nur die Kunden überwacht, sondern auch die Angestellten daran erinnert, dass sie keine Chance haben, die Firma um ihr Recht auf Arbeit und Eigentum zu betrügen, also z.B. Pause zu machen, wenn es keiner sieht, oder gar Waren mitgehen zu lassen und sich auf die Art schadlos zu halten. Umgekehrt, so finden empörte Gewerkschafter und investigative Journalisten heraus, nehmen die Firmenchefs es mit der Rechtslage weniger genau: Wie absolutistische Könige scheren sie sich wenig um Arbeitsgesetze und Tarifverträge; Arbeitsverträge werden großzügig ausgelegt, z.B. beginnt die Arbeit in der Regel 15 Minuten früher als vereinbart; Tarifverträge werden systematisch missachtet. Dabei ist „leider“ oft unklar, was genau ihnen tatsächlich verboten und was gerade noch erlaubt ist, so dass die Justiz Gutsherren wie den Schleckers viel zu selten ihre Grenzen aufzeigen kann: Ein einziges Mal gingen die geschäftstüchtigen Schwaben zu weit. Wegen Lohndumpings verurteilte das Amtsgericht Stuttgart 1998 die Eheleute zur Zahlung von zwei Millionen Mark und zu je zehn Monaten Haft auf Bewährung. (Die Welt, 25.9.)

*

Da schildern Presseleute also einmal, wie der Arbeitnehmeralltag im Handel aussieht, worauf die Disziplin der Arbeitskräfte sowie die viel bewunderte Effizienz der Discounter beruhen. Und kaum gesagt, bestehen sie auch schon darauf, dass sie auf gar keinen Fall die kapitalistische Normalität am Wickel haben, sondern Ausnahmen, Abweichungen, schwarze Schafe. Sie erklären Albrecht, Schlecker und Schwarz (Lidl) zu den übelsten Unternehmern Deutschlands, um den Unternehmer in ihnen zu streichen und den Fiesling hervorzuholen. Sie entdecken schwäbische Geizhälse, geheimnisvolle Sonderlinge – als ob sie nicht gerade über das Erfolgs„geheimnis“ erfolgreicher Pioniere des modernen Einzelhandels Bericht erstatten würden. Als ob es irgendwie außergewöhnlich wäre, dass Jobs unsicher sind und Belegschaften damit zu Lohnverzicht und Extra-Leistungen erpresst werden. Und als ob so ein Journalist nicht aus eigener Anschauung wüsste, wie innerbetrieblicher Psychoterror funktioniert.

Im Fall der Lebensmittel- und Drogerieketten soll das alles etwas ganz Spezielles sein. Da sieht man die Grenze des bürgerrechtlich Vertretbaren überschritten und vermag präzise zu unterscheiden zwischen einer schikanösen und der sachlich gebotenen Überwachung des Personals, zwischen Arbeitshetze und einem effektiven Arbeitsrhythmus, zwischen Lohndumping und angemessener Bezahlung im Niedriglohnsektor. Was Reporter von SZ und Welt anderswo als unkritisierbaren Sachzwang anerkennen, der aus Globalisierung, Konkurrenz und Konjunktur folgt, erkennen sie bei den großen Discountern als Ergebnis von Raffgier und Profitsucht. Sie teilen sich ihr Urteilen und Verurteilen ein; übrigens nicht nur in Bezug auf solche und solche Kapitalisten, sondern methodisch in ihrem eigenen Blatt: Im Lokalteil beklagen sie, wenn sie einmal auf Sympathie mit Kassiererinnen machen, haargenau die Arbeitsbedingungen, die ihre Kollegen vom Wirtschaftsressort täglich fordern, wenn sie „überregulierte“ Arbeitsmärkte für Deutschlands mattes Wachstum verantwortlich machen und Entbürokratisierung, Deregulierung, Flexibilisierung als längst fällige Heilmittel dagegen verordnen. Was tun die Lidls und Schleckers denn anderes, als erstens die Macht des Arbeitgebers, zweitens die Freiheiten, die der Arbeitsvertrag ihnen ohnehin gewährt, und drittens die erweiterten Freiheiten, die Schröders Arbeitsmarktreformen ihnen eröffnet haben, bis an die Grenzen auszunutzen? Ganz im Geiste dieser Republik und im Sinne ihrer Reformpolitik, mit Niedriglöhnen, befristeten Verträgen, Teilzeitarbeit, 380-€-Jobs usw. haben sich Aldi, Schlecker & Co. ihr Unternehmerparadies geschaffen. Von wegen „Gutsherrenart“ beim Arbeitgeben: Sie praktizieren bereits das „Beschäftigungsmodell“ der Zukunft.

*

Den Sündenfall der erfolgreichen Revolutionäre des Einzelhandels, der ihrer Person einige Verbalinjurien, ihrer effektiven Lohn- und Personalpolitik das Etikett Ausbeutung einträgt, lokalisieren Verdi und ihre journalistischen Sympathisanten an genau einem Punkt: Die Discountriesen mit konzernweit 30.000 bis 50.000 Beschäftigten bestehen darauf, dass jede ihrer Filialen mit 2 bis 5 Beschäftigten ein Kleinunternehmen ist, auf das die gesetzlichen Regelungen für die Belegschaftsvertretung nicht anwendbar sind. Sie lassen die Gründung von Betriebsräten nicht zu und bedrohen Angestellte, die es versuchen. Dagegen wird polemisiert – fast scheint es so, als wäre ein Betriebsrat nicht nur das große Anliegen der Gewerkschaft, sondern ein moralisches Recht der „Menschen in Deutschland“, auf das die unbestechliche „4. Gewalt“ im Staat allergrößten Wert legt. Dass die Ausgebeuteten formell als Vertragspartei mit eigenen Interessen und Rechten anerkannt werden; dass ihre Anliegen einen Vertreter im Betrieb haben, mit dem sich die Geschäftsleitung, ohne gleich mit Kündigung drohen zu können, um Einvernehmen bei der Durchsetzung ihrer Forderungen zu bemühen hat: Das gilt als zivilisatorische Errungenschaft, die auch in Zeiten von Niedriglohn und Deregulierung Bestand haben soll. Ohne sie herrscht, was Gewerkschaften am Kapitalismus kritisieren: statt der grundvernünftigen Logik des Profits – die Willkür des Unternehmers. Ohne Betriebsrat ist der Kapitalismus böse; mit ihm sind alle Zumutungen für die Belegschaft stellvertretend geprüft und eingesehen, also Sachzwänge, denen von den Angestellten im eigenen Interesse am Erhalt des Arbeitsplatzes Folge zu leisten ist. Unter Mitwirkung und Kontrolle eines Betriebsrats geht in Ordnung, was ohne ihn ein Anschlag auf die Menschenwürde wäre.

Denn dass für die arbeitenden Frauen im Einzelhandel Entscheidendes anders und besser würde, wenn ein Betriebsrat ihre Arbeitsverhältnisse mitverantwortet: Das suggerieren die kurzfristig aufgeregten Journalisten und kämpferischen Verdi-Gewerkschafter zwar, wenn sie die gegeißelten Zustände im Einzelhandel mit fehlender Belegschaftsvertretung in Zusammenhang bringen; wahrscheinlich hoffen auch manche der Betroffenen, bei denen die Aktivisten von Verdi Anklang finden, auf ein bisschen weniger Drangsalierung im Job; und die Vorstände von Aldi & Co. fürchten möglicherweise ernstlich um ihre Rendite, wenn sie sich über die Ausbeutung ihres Personals überall mit gewählten Vertretern und Gewerkschaftsfunktionären absprechen müssten. Tatsächlich denkt aber niemand an eine Abschaffung elender Arbeitsbedingungen und erbärmlicher Löhne in dem Gewerbe; und so etwas droht den Unternehmern auch nicht. Die großen Discounter – und keineswegs nur die – haben ihre Freiheit weidlich genutzt und Massen von miesen „Arbeitsplätzen geschaffen“; die sind keine Ausnahme, sondern fester Bestandteil des Arbeitsmarktes für „gering und Un-Qualifizierte“; und genau deswegen will die Gewerkschaft auch hier präsent sein. Sie will diese elenden Arbeitsplätze betreuen und ihnen damit, eben durch ihre schiere Präsenz als anerkannte Arbeitnehmerinteressenvertretung, den Charakter des Außerordentlichen und Prekären, des Willkürlichen und Ausbeuterischen nehmen und den Status von normalen, den geltenden Normen entsprechenden Beschäftigungsverhältnissen verschaffen. Nach dem Motto: Wenn derartige Jobs schon an der Tagesordnung und in der modernen Betriebspraxis gang und gäbe sind, dann soll es mit ihnen auch gewerkschaftsseitig und betriebsverfassungsmäßig seine Ordnung haben. Das ist die ganze entscheidende Verbesserung in der Lage der Belegschaften, auf die die Gewerkschaft aus ist. Und das ist es auch, was die freiheitliche Öffentlichkeit sich einmal zwei Wochen lang sagen und einleuchten lässt: Gerade wenn es heutzutage schon längst normal ist, unter den bescheidensten Verhältnissen für bescheidenstes Entgelt zu arbeiten, dann sollen doch nicht ausgerechnet die Arbeitgeber so unnormal agieren und darauf bestehen, dass ausgerechnet die Institutionen bei ihnen nichts zu suchen haben, die doch genau dafür gut sind, den Verhältnissen im Namen ihrer Opfer ihre Normalität zu attestieren.

*

Manchem Groß-Discounter leuchtet inzwischen ein, dass er mit Gewerkschaft und Betriebsrat tatsächlich nicht unbedingt schlecht fahren muss. Wenn seine Sache unter Mitwirkung der Arbeitnehmervertretung abgewickelt wird, sorgt das vielleicht sogar für weniger Frust bei und in der Folge weniger Ärger mit der Belegschaft und für ein konstruktiveres, also leistungssteigerndes Betriebsklima. Während der verbohrte Albrecht Süd noch immer Betriebsräte bis aufs Messer bekämpft, lernt der Bruder bereits um: Aldi Nord wird humaner. Der Lohn des „zähen Kampfes“: Alle bisherigen Initiativen wurden in der Regel im Keim erstickt, sagt ein Gewerkschaftssprecher. Dagegen seien die Strukturen bei Aldi Nord nicht mehr so geheimnisvoll. Dort schauen die Manager inzwischen sogar bei Betriebsversammlungen vorbei und trinken Kaffee mit den Kolleginnen von der Kasse. (SZ, 8.3.)

Na also, es geht doch! Statt einem „Klima der Angst“ ein Kaffeeplausch mit den lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: So mag die Gewerkschaft ihren Aldi. Und die arbeitnehmerfreundlich empörte Presse darf sich wieder abregen.