Gewerkschaftspolitik ’93
Bettelei um Beschäftigung

Angesichts der Krise antizipiert die Gewerkschaft mit ihren Lohnforderungen das Marx‘sche Gesetz, nach dem die Reservearmee auf den Lohn drückt. Mit Tausch-Vorschlägen à la ‚Lohn gegen Beschäftigung‘, dem Einklagen erfolgreicher Unternehmens- und Staatsführung, Vereinbarungen über ‚Lohnsenkung für Beschäftigung‘ und dem Werben mit tarifvertraglich zugesicherter Aufweichung der Tarifverträge empfiehlt sie sich als Instanz zur Sicherung des Standorts D – gegenüber Regierung und Unternehmern, die sie in dieser Funktion zunehmend für überflüssig erklären.

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Gewerkschaftspolitik ’93
Bettelei um Beschäftigung

Zur Bewältigung der Krise ist nach Auffassung der Unternehmer auf jeden Fall eine radikale Senkung der Lohnkosten fällig:

„Unsere Industrie befindet sich in der schärfsten Rezession der Nachkriegszeit. Die Lage ist ernst, ja dramatisch. Auf den Prüfstand gehörten in diesem Überlebenskampf vieler Unternehmen eigentlich alle Tarifverträge, Es wäre auf jeden Fall ganz falsch, sich allein auf das Thema Lohn und Gehalt zu konzentrieren. Es müßten auch andere tarifliche Regelungen auf die Möglichkeiten der Kostenentlastung abgeklopft werden.“ (Gottschol, Gesamtmetall, HB 29.9.93)

Die Arbeitgeber denken also keineswegs bloß an Nullrunden, sondern halten es für notwendig, das gesamte Lohn/Leistungsniveau, wie es bisher tarifvertraglich geregelt ist, umzustürzen. Vom Standpunkt des Gewinns aus erscheinen ihnen die Kosten, die der derzeit gültige Lebensstandard der Arbeitnehmer mit sich bringt, unerträglich hoch, mit den Erfolgen, die sie erringen wollen, unvereinbar. Sie wollen nicht nur bisher übliche Lohnteile, die in Form von Urlaubsgeld, Weihnachtsgratifikation und sonstiger Zuschläge gezahlt wurden, abbauen, sie streben auch neue, für sie günstigere Formen der Leistungsbewertung an.

Im übrigen sind die Arbeitgeber mit der Länge der Arbeitszeit und der Flexibilität der Beschäftigten unzufrieden. Sie kündigen neue Arbeitszeitregelungen an, die den Betrieben die Freiheit geben, nach dem jeweiligen Bedarf problemlos und kostengünstig soviel Arbeit zu nehmen oder eben auch wieder zu streichen, wie es gerade für den Profit günstig ist.

Nicht zu vergessen sind schließlich noch die viel zu hohen „Lohnnebenkosten“. Weil der Sozialstaat die Gesellschaft zu viel koste, plädieren die Verbandschefs der Arbeitgeber für radikale Kürzungen beim „sozialen Netz“.

In der Krise führen die Unternehmer also einen Generalangriff gegen die Interessen der Arbeitnehmer.

Dabei haben die Lohnabhängigen in den letzten Monaten auch schon so massive materielle Einbußen erlebt. Im vergangenen Jahr wurde eine halbe Million Menschen arbeitslos, in diesem sind es noch einmal so viele. Von denen, die Arbeit haben, muß ein erheblicher Prozentsatz kurzarbeiten. Für Einkommensverluste hat maßgeblich auch der Staat gesorgt. Er erhöht wegen seiner „Haushaltslöcher“ die Abgaben und streicht andererseits alle möglichen Leistungen. In den vergangenen Jahren und Monaten glich die Tariferhöhung die Einkommensverluste durch Inflation nicht aus, übertarifliche Sonderzahlungen, die bisher einen erheblichen Teil des Lohns ausgemacht haben, fielen weg. Inzwischen behauptet sogar die Bild-Zeitung, die Löhne wären zu niedrig, um gescheit damit zurechtkommen zu können – Arbeitslosengeld und Sozialhilfe schon gleich. Die Gewerkschaft stellt fest:

„Immer mehr Menschen werden arbeitslos, die Wohnungsnot spitzt sich zu, Arbeitslose werden zu Sozialhilfeempfängern, Armut breitet sich aus.“ (Der Gewerkschafter 10/93)

Die Krise mit ihren Folgen – könnte man meinen – wäre also die Auftragslage für die Gewerkschaft: Als Vertretung der Arbeitnehmerinteressen darf sie sich die zunehmende Verarmung der Lohnabhängigen nicht bieten lassen, muß sie den dreisten Forderungen der Arbeitgeber entgegentreten und auf dem Recht der Arbeiter auf ein anständiges Auskommen bestehen. Wenn die Arbeitgeber auf „Konfrontationskurs“ gehen, müssen sie durch Streiks zu der Einsicht gebracht werden, daß sie zu weit gehen. Die Gewerkschaft besteht auf dem Lohninteresse ihrer Mitglieder und kämpft dafür. Auf die Politiker übt die Vertretung der Arbeiter Druck aus, um den Standard bisheriger Sozialleistungen zu erhalten: Jetzt, wo das soziale Netz von so vielen in Anspruch genommen werden muß, darf es doch nicht einfach abgebaut werden.

Wäre so ein Auftreten für eine Interessenvertretung von Arbeitnehmern eigentlich nicht ganz normal? Wäre es – nach den Maßstäben einer Demokratie – nicht ausgesprochen legitim, daß das Interesse an Lohn gegenüber dem konkurrierenden Interesse an Gewinn darauf beharrt, zumindest gleichberechtigt zu sein? Wäre es nicht sogar im Sinne des Grundgesetzes geboten, Arbeitgeber und Politik auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und des Staates festzunageln?

Sämtliche Demokraten hierzulande bekennen sich in dieser Frage zu einem klaren Nein. Sie sehen das überhaupt nicht so, daß in der Krise die Gewerkschaft gefordert ist, die materiellen Interessen ihrer Mitglieder zu verteidigen. Für sie steht umgekehrt fest:

Die Unmöglichkeit des Lohnkampfes in der Krise

Der Bundespräsident sieht es keineswegs als einen Verstoß gegen das Gebot seiner „Überparteilichkeit“ an, wenn er sich der Arbeitgeber-Auffassung anschließt, daß die Löhne hierzulande immer noch viel zu hoch sind – gemessen an dem, was für die Gewinne gut ist. Das drückt er freilich etwas höflicher aus:

„Zu den wichtigsten Ursachen der Arbeitslosigkeit gehöre der Preis der Arbeit. ‚Wird er zu hoch, folgt die Strafe auf dem Fuß. Die Wettbewerbsfähigkeit nimmt ab, Arbeitslosigkeit nimmt zu.‘ … Zur Verantwortung der Tarifparteien gehöre es, stärker als bisher dafür zu sorgen, daß die ‚Arbeitskostenentwicklung produktivitäts- und ertragsorientiert verläuft‘.“ (von Weizsäcker, HB 21.10.93)

Er möchte den arbeitenden Mitbürgern klarmachen, daß Lohnforderungen unvernünftig sind. Arbeitnehmer schneiden sich nur ins eigene Fleisch, wenn sie auf auskömmlichen Einkommen bestehen. Er spricht also ganz gelassen einen Zusammenhang als eine Selbstverständlichkeit aus, den man Marxisten stets als böswillige Diffamierung der freien Marktwirtschaft krumm genommen hat: Der Lohn ist nichts als die abhängige Variable des Gewinns. Ein anständiges Auskommen der Arbeiter und Konkurrenzerfolge des Kapitals vertragen sich nicht.

Als diese Einsicht, als Kritik des ökonomischen Systems, hat der Bundespräsident seine Äußerung natürlich nicht gemeint und will sie so auch nicht verstanden wissen. Er plädiert vielmehr dafür, diese Einsicht als Sachzwang anzuerkennen, dem künftig noch mehr Rechnung getragen werden sollte als bisher üblich. Er mahnt die Gewerkschaften, als Tarifpartner zu beherzigen, daß der Lohn nicht gegen das Gewinninteresse der Unternehmer geltend gemacht werden darf.

Gegen dieses Grundgesetz hätten die Gewerkschaften in der Vergangenheit verstoßen – meint von Weizsäcker; deswegen treffe sie die Schuld an der heutigen Lage: Wegen der hohen Löhne der Vergangenheit gebe es jetzt die hohe Arbeitslosigkeit, die Maßlosigkeit der Arbeiter sei der eigentliche Grund für die Entlassungen.

Zwar weiß von Weizsäcker wahrscheinlich selbst, daß zu Entlassungen immer noch Arbeitgeber gehören, die beschließen, Lohnkosten einzusparen, um die eigene Gewinnsituation zu verbessern. Nur ist für ihn das Interesse dieser Leute ein dermaßen selbstverständliches Recht, daß ihm sein behaupteter Zusammenschluß wie die Wahrheit über die Sache vorkommt: Zu hoher Lohn schafft Arbeitslosigkeit. Es bereitet ihm auch kein Kopfzerbrechen, daß seinerzeit beide Tarifpartner die Löhne in dieser Höhe für sehr vertretbar und der Wirtschaft zuträglich befanden. Er will ja auch nichts über den wirklichen Grund der Krise wissen. Ihn beeindrucken nicht einmal Stellungnahmen von Arbeitgebern, daß billigere Produktionskosten die Lage gar nicht entscheidend ändern würden. Daraus zieht er schon gar nicht den Schluß: Investitionen lohnen sich nicht, weil die Waren nicht mehr abgesetzt werden können, zu wenig zahlungsfähige Nachfrage existiert.

Für den Bundespräsidenten, wie für alle Politiker, die Arbeitgeber und die gesamte deutsche Öffentlichkeit steht nämlich – ganz unabhängig davon, was es mit der Krise auf sich hat – fest: Die Deutschen sind verwöhnt, die Löhne sind hierzulande viel zu hoch; die Ansprüche der Arbeitnehmer müssen radikal zurückgeschraubt werden. Ein Lohnkampf ist darum auch ganz und gar unmöglich; ja, wäre das größte Verbrechen, das man heutzutage begehen kann.

„Wer jetzt Arbeitskämpfe anzettelt, streikt den beginnenden Aufschwung kaputt, nimmt mutwillig hunderttausende Arbeitslose zusätzlich in Kauf. Wir brauchen eine ‚Aktion Gemeinsinn‘ zwischen Tarifpartnern und Politik.“ (Waigel, Bild 4.10.93)

Die Provokation der Gewerkschaft, sie vor wirtschaftlicher Unvernunft und verantwortungslosem Handeln gegenüber der eigenen Klientel zu warnen, ist vom Finanzminister beabsichtigt; genauso, wie die ausdrückliche Klarstellung, was „Gemeinsinn“ angesichts der nationalen Sorge um den Standort Deutschland nur heißen kann: daß die arbeitende und die aus der Arbeit entlassene Bevölkerung sich gefälligst mit der für sie beschlossenen Armut abfindet. Ganz unabhängig davon, was die in unserem politischem System zuständige Instanz für die Arbeiterinteressen, die Gewerkschaft, wirklich macht und wie sie kalkuliert, wird sie von den maßgeblichen Politikern und relevanten Teilen der öffentlichen Meinung verdächtigt, eine Gefahr für die Wirtschaft und damit Deutschland zu sein. Weil die Reduktion der Löhne und die Verbilligung der Sozialkosten das unbestrittene Erfordernis des Standorts Deutschland ist, muß der Verein, der sich Arbeitnehmervertretung nennt, mit größtem Argwohn betrachtet werden und prophylaktisch – bevor er irgendetwas Ungehöriges unternommen hat – schon einmal zur Ordnung gerufen werden.

Aber nicht nur Unternehmer und rechte Scharfmacher, auch diejenigen Teile der Öffentlichkeit, die die Gewerkschaft als verantwortliche Arbeitnehmervertretung respektieren und ihr gar nicht feindlich gesonnen sind, wollen ihr keineswegs dazu raten, sich nun für Arbeiterinteressen einzusetzen. Auch für sie ist Lohnkampf angesichts der Nöte des Standorts unmöglich. In Interviews bescheinigen sie darum den Gewerkschaftsfunktionären, in einer ganz mißlichen Situation zu sein: Die soziale Lage derer, die sie vertreten, werde immer beschissener, Unruhe und Empörung der Betroffenen sei allzu verständlich, dennoch müsse sich die Gewerkschaft wirtschaftlich vernünftig verhalten. Sie handele sich vielleicht viel Enttäuschung bei denen ein, die sie vertritt, aber sie sei nun einmal in dieser Situation ohnmächtig. So argumentiert derzeit nicht nur die Frankfurter Rundschau, auch in der Bildzeitung liest man:

„Um die derzeitige deutsche Krise zu bannen, verlangen die Unternehmer nachdrücklich mehr: Senkung der Reallöhne. Das heißt für die Arbeitnehmer: weniger Geld für die gleiche Menge Arbeit oder sogar Mehrarbeit.
Die Gewerkschaften sind alarmiert. Ihre Funktionäre müssen ohnmächtig eingestehen, daß sie zu schwach sind, um Zumutungen abzuwehren… Der soziale Frieden – einer der wichtigsten Vorzüge des Wirtschaftsstandorts Deutschland – darf auch in Krisenzeiten nicht über Bord gehen. Nur gemeinsam werden Wirtschaft und Gewerkschaften die Probleme langfristig lösen – mit Einsicht in das, was nötig ist, viel Verständnis dafür, was anderen zugemutet werden kann – und noch mehr guten Ideen.“ (Bild 31.10.93)

Der Bild-Kommentator will den Gewerkschaftsfunktionären beileibe nicht Schwäche in dem Sinne vorwerfen, daß er sie auffordern will, endlich zu kämpfen. Er konstatiert vielmehr: Sie sind objektiv schwach, sie können nicht anders. So schädlich die Ansprüche der Unternehmer für die Arbeitnehmerseite auch sind, an ihnen führt kein Weg vorbei. Was zu tun bleibt, ist, für den Erhalt des sozialen Friedens zu sorgen.

Dem einhelligen Antrag der öffentlichen Meinung, nur ja darauf zu verzichten, Arbeitnehmerinteressen gegen Kapital und Staat geltend zu machen, begegnet die Gewerkschaft weder in der Weise, daß sie kontert: Kommt überhaupt nicht in Frage; sie sei nun einmal dazu da, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten, und habe darum in der jetzigen Situation mehr zu tun als je zuvor; noch versteht sie sich zu einer Bankrotterklärung: Die Krise mache deutlich, daß die Erfordernisse erfolgreicher Kapitalverwertung und die Sorge um die auskömmliche Existenz der Lohnabhängigen sich ausschließen. Wenn die wirtschaftliche Vernunft heutzutage erfordere, daß dem Kapitalinteresse keine Schranken gesetzt werden, dann sei gewerkschaftliche Politik überflüssig, funktionslos. Beide Konsequenzen lehnt die Gewerkschaft ab. Stattdessen findet sie einen dritten Weg; und dazu gehört als erster Schritt:

Die Gewerkschaft beweist ihre Ohnmacht

Dabei verzichtet die Gewerkschaft keineswegs auf kämpferische Töne:

„Mit der Provokation durch die Metallarbeitgeber (gemeint: Kündigung der Tarifverträge und der Regelungen zum bezahlten Urlaub) wurde besiegelt: Sie wollen die Substanz des Sozialstaates angreifen. Sie wollen einer anderen Republik den Weg bereiten. Aber wir werden Tarifverträge und Sozialstaat mit aller Macht verteidigen. Wir stehen in einer Bewährungsprobe wie noch nie. Es geht um die Lebensinteressen der arbeitenden Menschen. Es geht um den Bestand schlagkräftiger Gewerkschaften. Dafür müssen wir kämpfen… Wir denken nicht daran, Unruhe zu besänftigen, wo Empörung am Platze ist. Wir bleiben Gegenmacht.“ (Zwickel, Der Gewerkschafter 10/93)

Nur heißt das überhaupt nicht, daß sie sich stur auf den Standpunkt stellt: Wir nehmen die Kürzungen der Einkommen und die Streichungen bisheriger sozialer Leistungen nicht hin. Sie will nicht kämpfen und austesten, was geht. Sie erklärt sich nämlich – angesichts der gegebenen Lage – für ohnmächtig.

Ihr Wirtschaftsinstitut WSI führt den Nachweis, wie sehr die Gewerkschaften in der Tarifrunde 1993/94 „wirtschaftspolitisch unter Druck“ stehen: „Das Wachstum des realen Bruttosozialprodukts“ nähert sich der „Nullmarke“. „Entsprechend verschlechterte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt.“ Daraus leitet es ab, wie wenig die Gewerkschaft in diesem Jahr fordern kann. Für die tarifpolitischen Vordenker des DGB ist anhaltendes Wachstum der Wirtschaft nämlich – wie für Kapitalisten und Politiker – die unabdingbare Voraussetzung für Lohnforderungen; und Arbeitslosigkeit ein unabweisbares Indiz dafür, daß die Löhne gesenkt werden müssen. Die Marx’sche Feststellung, daß die Reservearmee auf den Lohn drückt, hat zwar immer noch ihren Platz in Gewerkschaftsschulungen; die volkswirtschaftlichen Fachleute vom WSI nehmen diesen Satz aber nicht mehr als den Hinweis darauf, daß die Koalition der Arbeiter einmal dazu erfunden wurde, die automatische Wirkung dieses Gesetzes zu bekämpfen. Sie machen daraus vielmehr eine Handlungsanweisung für gewerkschaftliche Tarifpolitiker: Die Gewerkschaft müsse die Wirkungen des Drucks der Reservearmee gleich in ihren Forderungen antizipieren.

Doch der „wirtschaftliche Druck“ ist es nicht allein, der die Gewerkschaften zur tarifpolitischen Mäßigung zwingt:

„Auch politisch standen die Gewerkschaften erheblich unter Druck. Die Diskussion um den ‚Solidarpakt‘, mit dem die Bundesregierung alle gesellschaftlichen Gruppen auf ein Konzept zum Aufbau Ostdeutschlands und zur Sanierung der Staatsfinanzen verpflichten wollte, führte auch immer stärker zu Forderungen nach einer ‚moderaten‘ Tarifpolitik der Gewerkschaften.“ (WSI Mitteilungen 8/93)

Nun sind Forderungen der Gegenseite an sich kein Grund nachzugeben. Für die Gewerkschaft aber schon, weil sie die Berechtigung und Notwendigkeit von allem, was die andere Seite ihr abverlangt, einsieht. Sie fühlt sich unter Druck gesetzt, weil sie sich dem Auftrag der Nation, Opfer für den Aufbau Ost und die Sanierung der Staatsfinanzen zu bringen, nicht verschließen mag. Sie steht nämlich selber auf dem Standpunkt, daß es derzeit darauf ankommt, Deutschland wirtschaftlich und politisch zur führenden Macht auszubauen. Ebenso ist die Ohnmacht, die der DGB gegenüber Arbeitgeberforderungen verspürt, nicht eine Erfahrung, die er in Auseinandersetzungen mit der Kapitalseite gemacht hätte, sondern bessere Einsicht: Gewerkschaften haben am deutschen Wirtschaftserfolg mitzuwirken, ihn keinesfalls zu behindern. Dazu bekennt sie sich auch:

„Entgegen dem Kriegsgeschrei von Gesamtmetall will die IG Metall weiterhin alles versuchen, eine bedingungslose Konfrontation zu vermeiden. Deshalb wiederholte der Vorstand auch den Vorschlag einer Pause im Verteilungskampf und die Empfehlung, auf eine ‚Umverteilungskomponente‘ bei den Tarifforderungen für 1994 zu verzichten.“ (Metall Nr.21/15.10.93)

Die IG Metall hält nichts von Konfrontation, der Respekt vor den Bedürfnissen des Kapitals ist für sie der Inbegriff von Vernunft. Darum stellt sie der anstehenden Tarifrunde als Vorleistung die Ankündigung voran, auf keinen Fall einen „Verteilungskampf“ führen zu wollen. Als Forderung geht sie mit der „Sicherung der Reallöhne“ in die Verhandlungen, wohl wissend, daß Forderungen immer dazu da sind, sich davon herunterhandeln zu lassen.

Wie weit sie dabei zu gehen bereit ist, läßt ihr Vorsitzender durchblicken:

„Möglicherweise sei schon die Verteidigung eines Tarifvertrags in der kommenden Tarifrunde ein Erfolg.“ (Zwickel, FAZ 30.10.93)

Für ihn ist nämlich klar, daß die Einführung der Härteklausel in der letztjährigen Tarifrunde/Ost nur der Auftakt dazu war, überall flexibel auf die jeweils betriebsspezifischen Bedürfnisse nach Lohnkostensenkung einzugehen.

Für seine Haltung, daß angesichts der gegenwärtigen Krise in der kommenden Tarifrunde „mehr nicht drin ist“, kann er sich übrigens auch noch auf die Mitglieder berufen. Die Basis der IG Metall untergrabe das bisher geltende Tarifwesen:

„Zwickel hat Zweifel an den Erfolgsaussichten seiner Gewerkschaft im laufenden Tarifkonflikt geäußert. In immer mehr Betrieben seien Belegschaften und Betriebsräte aus Angst um Arbeitsplätze bereit, auch auf tarifwidrige Forderungen der Arbeitgeber einzugehen. ‚Die Beispiele haben sich vermehrt, wo auf betrieblicher Ebene der Widerstand gegen die Arbeitszeitverlängerungen und Verstöße gegen Tarifverträge durch die Arbeitgeber zurückgegangen ist‘. Dies ermutige wiederum den Arbeitgeberverband Gesamtmetall, massiv auf Lohnkürzungen zu drängen.“ (Die Welt, 30.10.93)

Der Gewerkschaftsführer bekennt allerdings freimütig, daß er „sehr wohl nachvollziehen kann, was in einer solchen Situation in den Menschen vorgeht“ (SZ 11.11.93). Das wundert nicht. Er macht in gesamtgesellschaftlichem Maßstab ja vor, was seiner Ansicht nach vernünftig ist: Sich nach der Decke zu strecken.

Bedenklich erscheint dem IGM-Chef darum auch weniger, daß die Leute sich erpressen lassen – dafür hat er Verständnis –, vielmehr, daß darüber die Verhandlungsposition seines Vereins in der Tarifauseinandersetzung geschwächt werden könnte. Das denkt er aber nicht nur, sondern er trägt dieses Bedenken an die Öffentlichkeit. Von seiner Seite ist dabei einkalkuliert, daß derartige Äußerungen vor der Tarifrunde nicht gerade die Kampfmoral der eigenen Truppe stärken, wohl aber Wasser auf die Mühlen der anderen Seite sind. Mit seinem öffentlichen Lamento signalisiert er, daß er nicht gewillt ist, gegen diesen Zustand in der IG Metall etwas zu unternehmen. Für Zwickel ist das Verhalten der Basis und der Betriebsräte ein Argument, dem er nur entnehmen kann, daß in der anstehenden Tarifrunde Zurückhaltung geboten ist. Und alle, die es angeht, sollten sich darauf einstellen, daß diesmal von der Gewerkschaft keine Schadensbegrenzung zu erwarten ist. Daran trägt aber die Gewerkschaft keine Schuld, sondern letztlich sind – abgesehen von den Umständen, den Arbeitgebern, der öffentlichen Meinung – die Mitglieder dafür selbst verantwortlich. Sie sind der Gewerkschaft immerzu in den Rücken gefallen. So ist vor der offiziellen Eröffnung der Tarifrunde bereits geklärt, wer schuld an dem miesen Ergebnis ist.

So ohnmächtig die Gewerkschaft – gemäß ihrer Selbstdarstellung – ist, sie meint keineswegs zur Untätigkeit verdammt zu sein. Derzeit zettelt sie fast täglich Großdemonstrationen an. Mal gehen die Bauarbeiter auf die Straße und demonstrieren gegen den schrittweisen Abbau des Schlechtwettergeldes, mal legen die Stahlarbeiter die B1 lahm, um gegen die Verkürzung der Arbeitslosenhilfe zu protestieren, weil dadurch die Frühverrentung als Methode der Vermeidung von Massenentlassungen entwertet ist. Im Revier demonstrieren die Bergleute gegen die Kohlepolitik der Bundesregierung, bei den Dasa-Werken werden Betriebe besetzt, die das Unternehmen „plattmachen will“. Abordnungen der Belegschaften, die von Entlassungen bedroht sind, unternehmen Tagesmärsche nach Bonn; und überall finden zum Protest „spontane Betriebsversammlungen“ statt, wo ein Unternehmen die Streichung bisheriger Lohnzuschläge beschließt. Die Gewerkschafter sind also überall aktiv – nur wie?!

Keine ihrer Aktionen ist mit Kampf zu verwechseln. Stattdessen tragen sie den Charakter eines ohnmächtigen Protests und untertäniger Bettelei. Wenn Gewerkschafter sich eine Todesanzeige auf den Rücken heften mit der Aufschrift „Ich soll entlassen werden“, dann jammern sie über ein Schicksal, das sie doch nicht verdient hätten. Sie bekunden ihre bedingungslose Arbeitsbereitschaft und möchten die Arbeitgeber ermahnen, der sozialen Verpflichtung nachzukommen, die sie doch eigentlich hätten. Wer den Politikern die Bude einrennt, sie möchten doch von beschlossenen Sparmaßnahmen Abstand nehmen, mehr für die Förderung notleidender Branchen tun, zumindest aber sich für die Schaffung von „Ersatzarbeitsplätzen“ stark machen, empfiehlt sich vertrauensvoll ihrer Obhut an. Die Gewerkschaften und ihre Mitglieder führen sich also noch stets als Opfer, als Enttäuschte, als Bittsteller auf, die keinerlei eigene Machtmittel kennen, die sie zur Änderung ihrer Situation einsetzen könnten.

Die Gewerkschaft sieht ihre derzeitige Funktion als Arbeitnehmervertretung aber nicht nur in dieser Organisierung „berechtigten Protests“, als Tarifpartner empfiehlt sie sich derzeit als diejenige Kraft, die einen positiven Beitrag zur Lösung der Probleme des in Not geratenen Standorts Deutschland leisten kann. Die Ankündigungen der Arbeitgeber, in den kommenden Monaten weitere hunderttausende Arbeitskräfte zu entlassen, weil sie keine lohnende Verwendung mehr für sie haben, ist für die Gewerkschaft Anlaß, Beschäftigungssicherung zum zentralen Thema der anstehenden Tarifrunde zu machen. Sie nimmt zur Kenntnis, daß es bei der derzeitigen Auftragslage immer weniger Arbeit gibt, die vom Kapital bezahlt wird. Die Waren, die absetzbar sind, können – bei dem inzwischen erreichten Stand der Produktivität – mit wesentlich weniger Arbeitskräften hergestellt werden, als sich anbieten. Es ist überhaupt nicht abzusehen, daß der Arbeitskräftebedarf des Kapitals noch einmal steigen wird, eher wird das Gegenteil Dauerzustand werden. Daraus ziehen die Gewerkschaften den Schluß: Wenn die bezahlte Arbeit immer knapper wird, dann muß sie neu verteilt werden. Sie legt die Kalkulation der Unternehmer zugrunde, wieviel bezahlte Arbeitszeit deren Profit dienlich ist, wieviel Lohnkosten ihre Gewinne zulassen, und möchte die daraus resultierende und zur Verfügung stehende bezahlte Arbeit neu auf die Arbeitswilligen aufteilen. Diese Umverteilung von Arbeit und Lohn auf mehr Beschäftigte, als nach bisherigen Betriebskalkulationen und tariflichen Regelungen dafür in Frage kamen, sieht der DGB derzeit als seine Hauptaufgabe an. Die Organisation dieser Umverteilung hält er für die adäquate Form, heutzutage für Gerechtigkeit in der Arbeitswelt zu sorgen. Sein Beitrag zur Sicherung des Standorts Deutschland besteht in dem Angebot:

Tausch von Lohn gegen Beschäftigung

Die IG Metall tat sich mit folgender Offerte hervor:

„Für die Laufzeit von 12 Monaten sollten die Metallarbeitgeber im Rahmen eines tarifvertraglich vereinbarten ‚Moratoriums gegen Beschäftigungsabbau‘ auf alle betriebsbedingten Kündigungen verzichten. Die für den 1.10.95 vereinbarte weitere Arbeitszeitverkürzung von 36 auf 35 Stunden sollte mit vollem Lohnausgleich vorgezogen werden. Die Kosten dieses außerordentlichen Kündigungsschutzes, der sich schon 1990 in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie bewährt habe, könnten wenigstens teilweise durch Kurzarbeit, Teilzeitarbeit, vorgezogenen Ruhestand, Sabbatzeiten und dadurch kompensiert werden, daß dann ja auch die Kosten für Massenentlassungen entfielen. Die verbleibenden Kosten dieses Moratoriums könne die IG Metall beim Abschluß des Lohntarifvertrages berücksichtigen. Hier fordere sie zunächst einen Inflationsausgleich von 4%, …und einen Produktivitätszuwachs von 2% als Lohnerhöhung.“ (Zwickel, HB 7.10.93)

Von den Arbeitgebern fordert sie, für eine bestimmte Zeitdauer auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. Dafür bietet sie Lohnkürzungen an, die von den geforderten 6% heruntergerechnet werden könnten. Natürlich weiß sie, daß Unternehmen nicht Lohnkosten übernehmen, wenn sich die nicht in Gewinn auszahlen. Darum verlangt sie auch gar nicht, die Arbeitgeber sollten auf jegliche Lohnkosteneinsparung verzichten. Im Gegenteil, sie bietet ihre Mitarbeit an bei der Einführung von Kurzarbeit, Teilzeitarbeit, bei dem Überreden von Beschäftigten, sich mit Sabbatzeiten und Frühverrentung abzufinden. Sie möchte keineswegs mit dem Eintreten für Beschäftigung den Unternehmen mehr Kosten aufhalsen, sondern selbstverständlich müssen sich die Arbeitnehmer den Lohn, der gezahlt werden kann, untereinander aufteilen. Aber die Gewerkschaft ist sich sicher, daß die erpresserische Alternative – entweder weniger Lohn oder Arbeitslosigkeit – für die Bereitschaft der Belegschaften sorgt, sich mit Lohneinbußen abzufinden.

In Krisenzeiten – stellt die Gewerkschaft damit klar – kann ein halbwegs anständiges Auskommen natürlich nicht das Kriterium der Lohnhöhe sein. Sie gesteht damit implizit ein, daß die von ihr stets vertretene Ideologie, Profit und Lohn könnten in ein harmonisches Verhältnis gebracht werden – das sei nur eine Frage gewerkschaftlicher Vertretung –, nicht stimmt. Das hindert sie aber nicht, weiterhin als Interessenvertretung der Arbeitnehmer Lohnverhandlungen mit dem Kapital zu führen. Nur eben jetzt von einer ganz anderen Ausgangslage her: Wenn die Gewinnaussichten zurückgegangen sind, muß der Gewinn erst einmal sichergestellt werden. Dann bleibt aber gar nicht mehr genug Lohn für eine ordentliche Bezahlung übrig. Andererseits kann die Gewerkschaft ihre Mitglieder damit trösten, daß sie im Normalfall immer noch mehr haben als Arbeitslose oder gar Sozialhilfeempfänger. Dieses Schicksal, hat sie denen, die noch zur Arbeit gehen dürfen, wenigstens erspart. Man muß nur den richtigen Maßstab wählen, um sich mit jeder Situation abfinden zu können.

Die Arbeitgeber haben das „Moratorium gegen den Beschäftigungsabbau“ als unsittlichen Antrag abgelehnt, weil es ihre unternehmerische Kalkulationsfreiheit einschränken würde, damit aber ihr Grundrecht auf freie Nutzung ihres Eigentums und freie Entfaltung der Persönlichkeit verletze. Mit dieser Argumentation konnten sie umgehend erreichen, daß die IG Metall auf die Garantie, keine betriebsbedingten Kündigungen vorzunehmen, verzichtete und ihr Angebot dahingehend präzisierte, daß sie jegliche Maßnahme, Beschäftigung zu sichern, mit Lohnverzicht honorieren werde.

Einen anderen Weg, Lohn gegen Beschäftigung zu tauschen, hat die IG Bergbau und Energie eingeschlagen. Schon beim letzten Tarifabschluß vereinbarte sie eine Nullrunde und dafür zusätzliche Freischichten, wodurch die Anzahl derer, die unmittelbar „ins Bergfreie fallen“, um 3000 Mann reduziert werden sollte. Die Absicht war, den Abbau der Beschäftigten über einen längeren Zeitraum zu strecken. Wobei die Vorteile für die andere Seite auf der Hand liegen: Die Arbeitgeber sparen sich Sozialplankosten, der Staat fällig werdendes Arbeitslosengeld. Nach Ablauf eines Jahres sollte dann der Lohn automatisch um 3% angehoben werden. Inzwischen haben die Kohle-Arbeitgeber weitere Massenentlassungen angekündigt. Darauf macht die IGBE das Angebot einer „4-Tage-Woche mit Lohnverzicht“:

„Der Verzicht auf die 3% könnte die erste Anzahlung auf die 4-Tage-Woche sein. Der Rest müßte über die nächste Lohnrunde und direkten Lohnverzicht finanziert werden… Die Alternative heißt: Jeder neunte Bergmann muß zum Arbeitsamt. Darin liegt mehr Sprengstoff als im Lohnopfer.“ (Berger, WAZ 27.10.93)

Es ist schon sehr bemerkenswert, wie die Gewerkschaft inzwischen den Lohn betrachtet. Er ist nicht mehr bloß das Geld, das ein Kapitalist dem Arbeiter zahlt, damit er ihm Gewinn schafft. In dieser Funktion – meint die Gewerkschaft – sei der Lohn ausgereizt. Es gibt nicht mehr zu holen, die Gewinne verkraften nicht mehr Lohnkosten. Der Lohn soll deswegen eine ganz neue Qualität annehmen – und das finden sie überhaupt nicht absurd: Mit Lohnverzicht kaufen sich die Arbeitnehmer Beschäftigung. Die zugestandene Lohnsumme wird damit gestreckt, d.h. auf mehr Beschäftigte aufgeteilt. Diese Idee der IGBE ist den Kalkulationen des Sozialstaats nachempfunden. Der geht nämlich hin und verstaatlicht einen Teil des Lohns per Zwangsbeiträge an die Sozialkassen. Aus diesem Topf finanziert er die Leistungen, die er denen gewährt, die aus der Arbeit herausfallen. Er sorgt also dafür, daß der bezahlte Lohn für die Versorgung der beschäftigten wie auch der unbeschäftigten Lohnabhängigen ausreicht – was nicht heißt, daß das Einkommen dann für den einzelnen langt. Der Unterschied zwischen diesem Verfahren und der IGBE-Lösung besteht freilich erstens darin, daß bei letzterer statt Zwangsbeiträge freiwillige – d.h. von der eigenen Interessenvertretung verordnete – Lohnkürzungen eintreten. Zweitens findet keine Scheidung zwischen Arbeitenden und Nichtarbeitenden statt, sondern alle arbeiten weiter, aber eben zu erheblich vermindertem Lohn. IGBE-Chef Berger will vermeiden, daß jeder neunte Bergmann zum Arbeitsamt geht und sich Arbeitslosengeld holt. Er sieht die Möglichkeit, daß der Sozialstaat sich das Arbeitslosengeld spart, wenn dafür alle Beschäftigten für einen Lohn, der minimal über dem Arbeitslosengeld liegt, arbeiten. So entschärft er Sprengstoff. Und zwar zunächst einmal den, der die Sozialkassen bedroht, wenn zehntausende zusätzliche Arbeitslosengeldbezieher bei den Arbeitsämtern aufmarschieren. Die Gewerkschaft hat also viel Verständnis für den Kollegen Blüm, der darüber jammert, daß die Arbeitslosen zu teuer werden. Sie hat offenkundig auch die Lektion der Kapitalisten gelernt, daß die Lohnnebenkosten in Deutschland zu hoch sind. Also sucht sie nach Wegen, die Kosten zu senken, die fürs „soziale Netz“ anfallen – sowohl an der Beitrags- als auch an der Leistungsseite.

Berger denkt aber auch an anderen – sozialen – Sprengstoff. Der soll in der Zunahme der Arbeitslosigkeit im Revier liegen. Dabei sieht er das Problem nicht so sehr darin, daß noch mehr Leute per Entlassung dazu vergattert würden, mit gut einem Drittel Einkommen weniger als bisher über die Runden zu kommen. Das würden die schon verkraften – meint die Gewerkschaft, nennenswert mehr Geld werden ja auch die Bergleute nicht bekommen, wenn sie vier Tage in der Woche arbeiten. Die Gefahr des sozialen Sprengstoffs entdeckt der Gewerkschaftsvorsitzende in der Arbeitslosigkeit selbst, weil mit ihr die Gefahr wächst, daß die Leute auf dumme Gedanken kommen und sich gehen lassen. Arbeit ist noch immer das beste Mittel, die Leute bei der Stange zu halten. Dann sind sie nämlich nicht nur beschäftigt, sondern können im Dienst fürs Unternehmen und die Nation ihren Lebenssinn finden.

Mit der Einführung solcher Regelungen, wie der 4-Tage-Woche bei Lohnkürzung, wollen sich die DGB-Vereine also gleich doppelt nützlich für die Nation machen: Einerseits helfen sie „sparen“, andererseits halten sie die Massen bei Laune.

Die dritte Variante, Beschäftigung gegen Lohn zu tauschen, ist die Einführung untertariflicher Bezahlung im Rahmen von Beschäftigungsgesellschaften:

„Rappe machte deutlich, daß ihm die Diskussion um den ‚zweiten Arbeitsmarkt‘ nicht gefällt. In der von ihm geforderten Gesprächsrunde mit Regierungen und Arbeitgebern solle auch darüber gesprochen werden, ob es in Westdeutschland Aufgaben gebe, die der Markt nicht lösen könne… Die Chemie-Gewerkschaft ist bereit, für diesen Personenkreis gesonderte Tarifverträge abzuschließen…
Derartige Maßnahmen müßten zeitlich befristet und auf bestimmte Tätigkeitsfelder begrenzt werden, betonte Rappe, um eine Konkurrenz zum ersten Arbeitsmarkt auszuschließen.“ (HB 30.9.93)

Vor einem halben Jahr noch hatten sämtliche Gewerkschaften die Schaffung von zusätzlichen Billigtarifen abgelehnt. Im Osten hat man ihnen lediglich wegen der „Sondersituation“ „ausnahmsweise“ und sehr eingeschränkt zugestimmt. Inzwischen tragen immer mehr Gewerkschafter die Schaffung untertariflich bezahlter Beschäftigungsmöglichkeiten als Forderung an die Arbeitgeber und die Politiker heran. Angesichts der immer weiter steigenden Arbeitslosenzahlen und der damit verbundenen wachsenden Kosten für den Sozialstaat, wollen sie keine Möglichkeit auslassen, Beschäftigung zu schaffen, auch wenn sie nach normalen kapitalistischen Rechnungen nicht rentabel ist.

Daß einmal eingeführte Super-Billigtarife auf die Normaltarife drücken, weiß Rappe natürlich sehr gut, möchte es inzwischen aber dabei bewenden lassen, seine Bedenken zu Protokoll gegeben zu haben.

Auf Beschäftigungsgesellschaften kommt die Gewerkschaft ja auch nicht, weil sie sich um die Einkommen der Lohnabhängigen Sorge macht. Die Differenz zwischen Arbeitslosengeld und den Sondertarifen ist kaum der Rede wert. Sie denkt sich ganz in den Staat hinein: Es ist doch unvernünftig, Leute zu finanzieren, die gar nichts leisten, obwohl sie arbeiten könnten. Wenn das Kapital diese Menschen schon nicht gewinnbringend als normale Arbeitnehmer beschäftigen will, dann könnte doch der Staat (gegebenenfalls in Kooperation mit privaten Investoren – für die anteilig natürlich auch Gewinn herausspringen müßte) gemeinschaftsnützliche Arbeiten organisieren. Dann hätte die Nation wenigstens etwas von dem Geld, das sie laufend ausgeben muß.

Mit all diesen Vorschlägen will die Gewerkschaft beweisen, daß sie – nachdem der Lohnkampf in der Krise unmöglich ist – für Deutschland noch längst nicht verzichtbar ist. Im Gegenteil, als die Instanz, die „den Produktionsfaktor Arbeit“ vertritt, hat sie eine Menge zur Sicherung des Industriestandorts Deutschland beizutragen.

„Deutschland ist ein starker Standort. Tun wir was, daß es so bleibt.“ [1]

Die Gewerkschaft sieht sich sogar als die gesellschaftliche Kraft, die sich am konsequentesten für den Standort stark macht und machen muß. Weil in der Marktwirtschaft die Arbeitsplätze und die Einkommen der Arbeitnehmer vom Konkurrenzerfolg der deutschen Unternehmen abhängen, weil soziale Leistungen einen gut gefüllten Staatssäckel voraussetzen, muß sie ein elementares Interesse am Erfolg des Kapitals und Deutschlands haben. Aus etwas so Negativem wie der Abhängigkeit der Arbeiter, zieht der DGB den Schluß, es wäre seine Aufgabe, sich als fanatischer Verfechter des nationalen Erfolgs zu betätigen. Nur, bei noch soviel gutem Willen und nationalem Eifer, praktisch merkt die Gewerkschaft an allen Punkten, daß sie eben nur der Zusammenschluß von Leuten ist, die dienen und mitmachen müssen. Sie kann sich bei der gerechten Verteilung der Opfer nützlich machen, bei den Entscheidungen darüber aber, wie die Wirtschaft und die Nation vorankomme, ist sie gar nicht gefragt. Darüber zu befinden ist Aufgabe und Recht der Politiker und der Kapitalbesitzer. Das hindert die DGBler aber nicht, sich wenigstens ideell als die Hauptverantwortlichen für den ganzen Laden aufzuführen und den wirklich Verantwortlichen Lehren zu erteilen:

„Die Unternehmensorganisationen sind erstarrt, hierarchisch durchgegliedert, tayloristisch zerhackt. Einer der entscheidendsten Standortvorteile der Bundesrepublik, das Wissen der hochqualifizierten und motivierten Arbeitnehmer, wurde nicht genutzt. Zu spät erkannten deutsche Unternehmen den Stellenwert des ‚Produktionsfaktors Mensch‘, zu kurz greifen noch immer Rezepte unter dem Stichwort ‚Lean Production‘. Die IG-Metall fordert deshalb eine umfassende Reform der Unternehmensorganisation mit den Arbeitnehmern.“ (Der Gewerkschafter 10/93)

Der Autor hat offensichtlich das Anliegen, seinen Lesern mitzuteilen, die Krise mit ihren negativen Folgen für die Arbeitnehmer hätte gar nicht so eintreten müssen, und damit sei die Situation auch wieder zu retten. Dafür müßten allerdings die deutschen Unternehmer einsehen, daß sie Fehler gemacht haben. Sie haben an veralteten Konzepten festgehalten, statt innovativ zu sein. Vor allem liegt das aber daran, daß sie eine falsche Stellung zu den Gewerkschaften und ihren Mitarbeitern haben. Sie erkennen gar nicht, welche Produktivkraft in den Leuten steckt, die ihr Bestes für den Betrieb geben wollen.

Der Gewerkschafter weiß natürlich selbst, daß er mogelt, wenn er vielleicht auch nicht unbedingt die ganze Wahrheit kennt. Die Krise gibt es erstens nicht wegen verpaßter Chancen, sondern weil die Kapitalverwertung gerade so erfolgreich verlief. Die permanente Produktivitätssteigerung, bei der mit immer weniger Lohnkost immer mehr Gewinn erzielt wurde, brachte den Überschuß an Waren, der jetzt nicht absetzbar ist, hervor. Zweitens sind die modernen betriebswirtschaftlichen Konzepte, von denen er schwärmt, bereits angewandte oder nur alternative Methoden der Kostenreduktion. Und deren Zweck ist eindeutig: Die Arbeitskräfte sollen optimal genutzt werden – und dazu sollen sie als hochmotivierte Mitarbeiter ihre Vorschläge machen – mit dem Ziel, soviel Personal wie möglich überflüssig zu machen. Von wegen also, die zeitigere Anwendung moderner betriebswirtschaftlicher Konzepte hätte die Arbeitslosigkeit verhindert.

Der Autor möchte aber auch nur den Standpunkt seiner Gewerkschaft klarmachen: Sie ist eine konstruktive Kraft, der der Erfolg der Unternehmen am Herzen liegt. Sie vertritt Belegschaften, denen die Ertragslage der Firma über alles geht. Die Gewerkschaft sieht den Wirtschaftserfolg als Gemeinschaftsaufgabe. Weil sie diejenigen vertritt, die ihn erarbeiten müssen, beantragt sie das Recht, bei den betrieblichen Entscheidungen mehr mitreden zu dürfen. Die Unternehmer dürften die Sorge um das Betriebswohl nicht weiter als ihre „Privatangelegenheit“ betrachten.

Auch den Politikern kann die Gewerkschaft Vorwürfe nicht ersparen, zu wenig für die Pflege des Standorts getan zu haben:

„Die Bundesregierung versäumte, zukunftsorientierte Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu setzen. Etwa für die Automobilindustrie: Schon längst hätte die Regierung ihre Stimme für eine faire Investitionspolitik der Japaner in Europa erheben müssen… Oder bei der Stahlindustrie: Eine ‚manifeste Krise‘ muß in der EG ausgerufen werden, um die Produktionsquoten und Mindestpreise neu festzusetzen.“ (ebd.)

Der Gewerkschaftsschreiber wird schon wissen, daß die Bundesregierung nichts versäumt, die Interessen der deutschen Wirtschaft gegen und auf Kosten der Konkurrenten geltend zu machen. Das reicht ihm aber nicht. Die Gewerkschaft – die ehemals „größte Friedensinitiative“ – fordert, Deutschland sollte sich viel mehr mit seinen Konkurrenten anlegen und viel rücksichtsloser deutsche Interessen in der Welt behaupten.

Aber auch nach innen ist die Regierung – für den Geschmack der Gewerkschaften – zu zögerlich:

„Überfällig auch ein verkehrspolitisches Gesamtkonzept, das den Unternehmen ein frühzeitiges Umsteuern ermöglicht. Dazu gehört auch, Anreize zur Produktinnovation zu schaffen, etwa durch ein stufenweises Anheben der Mineralölsteuer.“ (ebd.)

Wenn der Verkehrsminister diesen Satz gesagt hätte – und so ähnlich wird er ihn wohl auch längst gesagt haben –, dann wüßte man, wo man dran ist: Der Staat hat eine weitere Schröpfmaßnahme beschlossen und dafür einen schönen Titel gefunden.

Ein etwas anderes Interesse hat der Gewerkschafter. Er mischt sich in diese Fragen ein, um zu beweisen, daß er verantwortlich mitdenkt; und dabei hat er auch kein Problem damit, Maßnahmen zu fordern, die nicht zu knapp auf Kosten der eigenen Klientel gehen würden. Nein, bei jeder Gelegenheit muß der Arbeitnehmerverein betonen: Daß der Standort Deutschland Opfer von der Arbeiterschaft fordert, darauf habe er sich längst eingestellt.

Die Bundesregierung läßt es – nach Ansicht der Gewerkschaft – an Entschlossenheit fehlen, die Notwendigkeiten des deutschen Standorts durchzusetzen. Dabei könnte sie sich der bedingungslosen Unterstützung des DGB sicher sein. Als gesellschaftliche Kraft, die Mitverantwortung für den Erfolg der deutschen Wirtschaft übernehmen will, sieht sie ihre Funktion auch darin, alle diejenigen zur Ordnung zu rufen, die die Standortpolitik behindern wollen:

„Eine industrielle Produktion ohne Restrisiko ist nicht möglich… Daher ist es geboten, mindestens die Option für Kernkraftwerke neuen Typs offenzuhalten. Wenn es denn möglich ist, die Risiken zu begrenzen, was spricht dann gegen diese Form der Energieerzeugung? Klar ist jedenfalls, daß mit romantisierendem Ausstiegsgerede kein einziges Problem gelöst wird.
Es ist verantwortungslos und verhängnisvoll zugleich, solche Chancen zu verspielen. Das gilt beispielsweise auch für die Gentechnologie…
Die IG Chemie-Papier-Keramik ist eine Industriegewerkschaft und keine Anti-Industrie-Gewerkschaft, sie vertritt grundsätzlich industrieorientierte Positionen.“ (Rappe, Die Quelle Nov. 93)

Der IG-Chemie-Chef setzt gerne seine moralische Autorität – er vertritt hunderttausende Arbeitnehmer, die auf ihren Arbeitsplatz angewiesen sind – dafür ein, Kritikern der Atom- und Gentechnologie übers Maul zu fahren: Das sind doch „romantisierende“ Spinner. Er hält es für völlig fehl am Platze, Bedenken wegen der Gefährlichkeit von nicht beherrschten Technologien zu haben. Wenn sich hier Investitionsmöglichkeiten und Märkte bieten, kann man nicht mit so kleinlichen Einwänden kommen.

Den wichtigsten Beitrag zur Standortsicherung sehen die DGB-Vereine allerdings in der Sicherstellung des sozialen Friedens. Deswegen geben ihnen die Belastungen, die den Arbeitnehmern derzeit zugemutet werden, die zunehmende Arbeitslosigkeit und die Streichung bisheriger sozialer Leistungen Anlaß zur Besorgnis:

„Die Bundesrepublik hat heute einen gravierenden hausgemachten Standortnachteil. Das ist die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung und die Konfusion ihrer Wirtschaftspolitik. Diese Bundesregierung hat die Chance der nationalen Einigung nicht genutzt, um den Reichtum gerecht zu verteilen…Es ist schon längst fünf nach zwölf… Nicht ‚Weiter so!‘, sondern ‚Umsteuern jetzt!‘ heißt die Devise – für eine Wende zu einer zukunftsgerichteten Politik der industriellen Erneuerung und der Entwicklung zur sozialen Einheit.“ (Zwickel, Der Gewerkschafter 10/1993)

Daß solche Appelle ins Leere laufen, weiß die Gewerkschaft. Die Regierung denkt gar nicht daran umzusteuern, sie ist sich vielmehr mit der Opposition darin einig, daß erheblich mehr Härten den Arbeitnehmern zugemutet werden müssen. Das macht die Mahnung der Gewerkschaft, bloß nicht den sozialen Frieden aufs Spiel zu setzen, um so dringlicher:

„Wenn die Bundesregierung daran festhält, die soziale Verträglichkeit in ihren Kernbereichen zu unterlaufen, wird es hier zum Knall kommen. Die Stimmung ist explosiv. Wer glaubt, dies sei übertrieben, soll sich später nicht wundern. Die ebenso besorgten wie empörten Leute nehmen ihr Schicksal inzwischen selbst in die Hand.“ (IGM-Bezirkschef Schartau, WAZ 22.10.93)

Der Gewerkschafter ist nicht mißzuverstehen: Keinesfalls will er die Arbeiter aufhetzen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, sich die Zumutungen nicht mehr gefallen zu lassen, denen, die für ihre Lage verantwortlich sind, die Gefolgschaft zu kündigen. Seine Organisation will nicht zum Widerstand aufrufen und erst recht nicht ihn organisieren. Schartau warnt vor der Gefahr zunehmender Empörung. Sein Adressat sind in erster Linie die Herren in den Regierungssesseln. Nicht, was sie machen, will er ihnen vorhalten, sondern daß sie zu wenig tun, daß sie zu unentschlossen und zu zerstritten sind:

„Es ist inzwischen sichtbar, daß denen in Bonn vollkommen gleichgültig ist, was im Ruhrgebiet passiert. Es wird höchste Zeit, daß sich die Bundestagsabgeordneten aller Parteien aus dem Ruhrgebiet auf die Hinterbeine setzen. Hier muß jetzt politische Verantwortung übernommen werden.“ (Schartau, ebd.)

Aus Sorge um den sozialen Frieden ruft der IG Metaller nur nach einem: nach mehr Führung.

Solche Töne spucken Gewerkschafter derzeit auf jeder öffentlichen Kundgebung und Betriebsversammlung. Sie reagieren damit auf Unmut ihrer Anhänger, um als Gewerkschaft die Kontrolle darüber zu behalten, was die Leute aus ihrer Unzufriedenheit machen. Um Dampf abzulassen, geben sie dem Ärger der Betroffenen Recht. Damit sollen ihre Anhänger aber auch einsehen, daß ihre Interessen bei der Gewerkschaft bestens aufgehoben sind. Deren Funktionäre können auch am besten entscheiden, was man tun und lieber lassen sollte.

In bezug auf die Politiker möchte die Gewerkschaft mit ihren Warnungen zweierlei erreichen. Erstens sollten sie zur Kenntnis nehmen, daß sie sich auf die Gewerkschaft als Ordnungsmacht verlassen können. Deswegen sollten sie ihr zweitens aber auch mehr Respekt erweisen und sich mit ihren konstruktiven Vorschlägen zur Sicherung des Standorts wohlwollender befassen.

Wenn das Gewerkschaftsangebot eines Sozialpakts ausgeschlagen wird, befürchtet die Arbeitnehmervertretung ernsthaften Schaden für die Nation. Wer seine Anhänger die Deutschlandfahne mit der Aufschrift: „Wir sind das WahlVolk“ auf den Demonstrationen herumtragen läßt, der möchte beizeiten vor möglichen Erfolgen der Protestparteien gewarnt haben. Statt Republikaner im Bonner Parlament hätte der DGB lieber die Beibehaltung der bisherigen schwarz-rot-gelb-grünen Gemütlichkeit.

Die Gewerkschaft in der Krise

„Kurz gesagt, in der Bundesrepublik findet eine neue Festlegung über die Inhalte des Sozialstaats und aller Arbeitsbedingungen statt.“

In dieser Lage – ebenso kurz gesagt – erklärt die Gewerkschaft sich ohnmächtig, was die Interessen ihrer Mitglieder betrifft –

„In solch schwierigen Zeiten gewerkschaftliche Leistungen zu beurteilen nach dem Motto ‚Was erhalte ich alles für meinen Beitrag‘, quasi ein Preis/Leistungsverhältnis zu entwickeln, wird der gewerkschaftlichen Idee nicht gerecht“ –, bleibt aber nicht untätig. Denn schließlich hat sie nach wie vor „den Anspruch, die Arbeitsbedingungen im Wege tarifvertraglicher Regelungen zu gestalten“ sowie „die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit zu gestalten.“ (W. Schultze in: Gewerkschaftspost, Nov. 93)

Wie sie diese beiden Ansprüche in schwerer Zeit einlöst, wurde gezeigt. Damit ist die Gewerkschaft aber noch nicht fertig. Die gegenwärtige Krise bereitet ihr Sorgen wie nie: um sich.

Welcher Art diese Sorge ist, deutet sich schon an in der bescheidenen Formulierung ihres Anspruchs, „die Arbeitsbedingungen zu gestalten“, nämlich nicht unter irgendeiner anspruchsvollen Zielsetzung oder – wie sie es früher immer ausgemalt hat – im Sinne bisheriger „Errungenschaften“, sondern schlicht „im Wege tarifvertraglicher Regelungen“, so als wäre jetzt auch für diesen Verein der Weg das Ziel. Tatsächlich besinnt sich die Gewerkschaft unter dem Druck der ökonomischen Umstände, des flächendeckenden „Beschäftigungsabbaus“, der Lohneinsparungen, der Sozialleistungskürzungen usw. ganz grundsätzlich auf das, was ihr da noch bleibt. Und es ist sehr bemerkenswert, was da zum Vorschein kommt. Nämlich nicht ein Interesse, das sie organisiert, so gut es geht, sondern eine gesellschaftliche Funktion, die sie sich zuschreibt und in der sie besonders wertvoll sein will. Sie definiert sich als Vertragspartner von Flächentarifverträgen; und die sollen, jenseits aller vergleichsweise gleichgültigen Inhalte, die folgende unverwüstliche Bedeutung haben:

„Die Flächentarife haben unschätzbare Vorteile für beide Seiten. Den Beschäftigten sichern sie einen Mindeststandard der Arbeitsbedingungen unabhängig davon, wie leistungsfähig das Unternehmen gerade ist. Aus der Sicht der Gewerkschaften ist das gewünscht: Für Tarifverträge sollen soziale Gegebenheiten maßgeblich sein, denn sie sorgen dafür, daß Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen von ihren Arbeitseinkommen existieren und ihr Geld unter einigermaßen akzeptablen Bedingungen verdienen können. Das wird nicht von dem Gewinn oder Verlust einzelner Betriebe bestimmt, sondern etwa von den Preissteigerungen in der gesamten Wirtschaft. Trotz dieser Sicht werden tarifliche Forderungen natürlich nicht losgelöst von der wirtschaftlichen Lage gestellt und schon gar nicht durchgesetzt. Die gesamtwirtschaftliche Lage wird ebenso berücksichtigt wie die der einzelnen Branchen.
Den Unternehmen garantieren die Flächentarifverträge, daß sich keiner der Konkurrenten Wettbewerbsvorteile durch schlechtere Arbeitsbedingungen verschaffen kann, denn alle haben ähnliche Arbeitskosten. Statt ständiger Konflikte in allen Betrieben bringen Flächentarifverträge ‚Ruhe an der Front‘, flächendeckend und für die Dauer der Laufzeit.“ (Der Gewerkschafter 5/93)

Die Gewerkschaft lobt ihre Leistung. Nicht als Partei und auch nicht für eine Partei in einer wie immer gearteten Auseinandersetzung – „Verteilungskampf“ hat das einmal geheißen –, sondern ganz unparteiisch als überparteiliches Regulativ für ein gesellschaftliches Verhältnis, das es nun einmal gibt und zu dem nun einmal zwei Seiten gehören. Ihren Dienst an diesem Verhältnis bestimmt sie mit Argumenten, die eigentlich besser zu einer vernichtenden Gewerkschaftskritik passen würden:

  • Erstes Verdienst soll die Allgemeinheit der von ihr abgezeichneten Entlohnungsverhältnisse sein, die es erlaubt, „soziale Gegebenheiten“ mit in diese Verhältnisse einfließen zu lassen. Für diese selbst findet die Gewerkschaft keine lobenden Worte, eher eine schnöde und nahezu realistische Kennzeichnung: Man kann davon – gerade mal – „existieren“, die Arbeitsbedingungen sind „akzeptabel“ – „einigermaßen“. Vorteilhaft für die Seite der Entlohnten soll der Flächencharakter des Vertrags sein, und zwar insofern, als dadurch der Lohn eine gewisse Festigkeit gegenüber besonderen betrieblichen Kalkulationen und Konjunkturen bekommt und irgendwie zum Geldbedarf der Leute in einen Zusammenhang treten kann. Hinter diesem Vorteil steht die Gewerkschaft freilich nur bedingt; sie relativiert ihn, indem sie an dieser Stelle über sich als Partei vornehm in der 3. Person redet: „Gewünscht“ ist die Rücksichtnahme auf „soziale Gegebenheiten“ „aus der Sicht der Gewerkschaften“. Es gibt also noch eine ganz andere Sicht, und der erweist der Arbeiterverein sogleich seine Reverenz:
  • Zweites Verdienst einer flächendeckenden Tarifpolitik ist die Rücksichtnahme auf die so vielfältig differenzierte Bedarfslage der Wirtschaft; die verträgt nämlich keine gleichen Löhne überall und überhaupt nur soviel Lohn, wie ihre Gesamtlage hergibt. Die Gewerkschaft bekennt sich dazu, diesem Gesichtspunkt immer entsprochen zu haben, schon beim Fordern und spätestens beim „Durchsetzen“ erst recht. Wo mögen da die Allgemeinheit ihrer Tarifverträge und die „sozialen Gegebenheiten“ abgeblieben sein, wenn den Rechnungen der anderen Seite im allgemeinen wie im besonderen immer Recht gegeben worden ist? Offenbar bei den „Mindeststandards“: Festgeschrieben hat die Gewerkschaft nur, was dem Unternehmen mit der geringsten „Leistungsfähigkeit“ noch zuzumuten war – den „leistungsfähigeren“ Firmen blieb es überlassen, sich ihren Arbeitskräftebedarf ein wenig mehr kosten zu lassen. So kommt die Allgemeinheit des Vertrags der besonderen Lage der einzelnen Firmen in der Tat nie in die Quere, die „sozialen Gegebenheiten“ sind mit der „wirtschaftlichen Lage“ ausgesöhnt; die eine Seite bleibt für die andere brauchbar, und umgekehrt sieht es wenigstens so aus. Dessen ungeachtet soll die Allgemeingültigkeit der Tarifvereinbarungen noch zwei weitere Vorteile, diesmal für die andere Seite, mit sich bringen:
  • Ihr drittes Verdienst erwirbt sich die Gewerkschaft um die Kostenkonkurrenz der Kapitalisten, die ohne allgemeine Preisliste für Arbeiter ganz unübersichtlich verliefe. Und schließlich:
  • Viertens erklärt die Gewerkschaft allgemein geltende Tarifverträge zur besten Vorkehrung gegen sonst denkbare Lohnforderungen, etwa auf betrieblicher Ebene. Sie selber hält still, und sie stellt ihre Leute ruhig. Die deutsche Gewerkschaft empfiehlt sich als Institut zur Vermeidung von Streit um Lohn.

Erstaunlich offen präsentiert sich die Organisation in ihrer grundsätzlichen Rechenschaft über ihre Funktion als das Gegenteil einer Interessenvertretung der Arbeiter:[2] als Betreuer eines wichtigen gesellschaftlichen Verhältnisses, in dem sie allen Seiten Recht gibt und sogar die Synthese von Allgemeingültigkeit und Nicht-Allgemeinheit der vereinbarten Entlohnungsbedingungen hinkriegt; als Helfer der Unternehmer in deren Konkurrenzkampf untereinander wie vor allem gegen die Lohnabhängigen um die niedrigsten Löhne. Sie redet Klartext über die Dienste und Verdienste, die sie sich zuschreibt. Und aus den Empfehlungsbriefen, die sie sich damit ausgestellt haben will – „unschätzbare Vorteile“… –, geht auch hervor, warum sie das tut: Sie hat es nötig. Denn gleichgültig, ob sie in allen Stücken wirklich so funktioniert hat – in der Krise stimmt von allen ihren Selbstbezichtigungen nichts mehr.

Das Verhältnis selbst, dem die Gewerkschaft mit ihren Tarifverträgen zu flächendeckender Gestalt verholfen haben will, ist in der Krise und aus den Fugen geraten. Es ist nicht mehr so, daß das Kapital massenhaft Lohnarbeiter braucht und mit der Gewerkschaft als einer Art Arbeitsvermittlungsamt die Lohnkonditionen abspricht. Entlassen ist angesagt; das Kapital hat einige Millionen Arbeitslose auf deutschem Boden geschaffen und angekündigt, daß es für erhebliche weitere Massen keinen Bedarf mehr hat. Das bringt für die Gewerkschaft einiges durcheinander: Nicht die Geldnot der Entlassenen macht ihr zu schaffen, sondern die Frage, was aus ihrer Verhandlungskompetenz wird und aus ihrem freundlichen Angebot, die Arbeitskräfte mit den Interessen der Kapitalseite kompatibel zu machen, wenn Arbeitskräfte gar nicht mehr gefragt sind. Wenn es beim Kapital nur noch um die letzte Alternative geht: Entlassung oder Weiterbeschäftigung, dann kann es dieser Gewerkschaft nicht um etwas anderes gehen, schon gar nicht um mehr oder weniger Lohneinkommen unter „einigermaßen“ oder weniger annehmbaren Bedingungen. Auszuhandeln gäbe es Beschäftigung pur, nicht wie und zu welchem Lohn sie stattfinden soll. Darüber aber gibt es nichts auszuhandeln: Der Gebrauch von Lohnarbeit, ob überhaupt und in welchem Umfang, ist überhaupt die unveräußerliche Entscheidung des Unternehmers über den kapitalistischen Verwertungsprozeß, den er organisiert. Es widerspräche nicht bloß dem Recht des Eigentums, sondern den Notwendigkeiten des Systems, in der elementaren Frage des Umfangs, in dem Lohnarbeit produktiv und rentabel einzusetzen ist, das Kapital vertraglich auf irgendetwas verpflichten zu wollen. Und gegen das System will die Gewerkschaft auf gar keinen Fall verstoßen.

Verhandlungsmaterie gibt in dieser Situation überhaupt bloß der Schwindel her, mit dem die Unternehmer ihre Absicht umkleiden, die von ihnen geschaffene Arbeitslosigkeit als Hebel zur Lohnsenkung auf breiter Front zu nutzen. Die Arbeitgeberseite operiert nämlich gegen ihren Vertragspartner mit der Lüge, durch Lohnsenkung wäre „Beschäftigung zu sichern“. Darin sieht die Gewerkschaft ihre Chance, mit der Funktion, die sie sich zuschreibt, im Geschäft zu bleiben, nämlich indem sie im Hinblick auf nie ernstgemeinte, geschweige denn einklagbare Beschäftigungszusagen jede gewünschte Lohnsenkung abzeichnet.[3] Und sie wird von ihrem Kontrahenten unsanft darauf gestoßen, daß für den die Zeit der allgemeingültigen Verpflichtungen überhaupt vorbei ist. Auch Flächentarife des bisherigen Musters, die bloß die Untergrenze der Marktlage in Sachen Lohn markieren, sind nicht gewünscht, wo sich flächendeckend die Gelegenheit ergibt, die Löhne nach unten an die jeweiligen betrieblichen Bedürfnisse anzupassen.

Die Anstrengungen der Gewerkschaft, dennoch ihre Rolle als Partner eines – irgendeines! – allgemeingültigen Vertrags zu retten, tragen dementsprechend die Züge eines Verzweiflungskampfes. Sie gesteht jede Abweichung vom Vereinbarten zu; sie verweist offensiv und öffentlich auf den „breiten Spielraum“, den ihre Tarifverträge bisher schon immer für abweichende, „betriebsnahe“ Regelungen gelassen haben; sie beteuert ihre Bereitschaft, noch viel weitergehende Zugeständnisse zu machen.[4] Sie wirbt also für ihre Flächentarifverträge damit, daß sie selbst deren Gültigkeit schon längst untergraben hat. Von den Unternehmern handelt sie sich damit die gerechte Antwort ein: Dann muß eben auch das letzte Hindernis einer betriebsbezogenen Lohnpolitik verschwinden, das in der Form des allgemeingültigen Vertrags als solcher liege.[5] Und dagegen ist diese Gewerkschaft machtlos, weil sie sich durch die Krise und die explodierende Arbeitslosigkeit auf Mängelverwaltung unter dem Titel „Beschäftigung sichern!“ festgelegt sieht und gleichzeitig „für den Erhalt von Arbeitsplätzen“ gar nichts tun kann – außer, jeder verlogenen kapitalistischen Rechnung Recht zu geben.

Damit ist die Gewerkschaft aber nicht bloß für die Arbeiter nutzlos – deren Position den Arbeitgebern gegenüber ist mit der Interessenvertretung gar nicht mehr anders, als wenn sie ohne jede Organisation wären. Eine Gewerkschaft, die aus der Krise den Schluß zieht, Lohn gegen „Beschäftigung“ zu „tauschen“, ist für die Durchführung dieser Konsequenz auch nicht mehr nötig. Sie ist für die Gegenseite überflüssig; und das bereitet der Gewerkschaft existenzielle Sorgen. Denn damit wird sie die Funktion los, die sie unter dem Druck der Krise so offen als ihr Weiß-Warum bekennt. Sie wird funktionslos, wenn die Unternehmer anfangen, von sich aus die Tarifverträge zu kündigen, auf Lohnzahlung nach Art des Hauses bestehen und offensichtlich überhaupt keine Angst vor einer anarchischen Lohnkostenkonkurrenz untereinander haben noch erst recht vor wildgewordenen Belegschaften, die von der Gewerkschaft mit Tarifverträgen beaufsichtigt werden müßten. Wenn dann auch noch der Staat sein Sozialwesen umbaut, ohne auf die Gewerkschaft als Garanten des sozialen Friedens höflich Rücksicht zu nehmen; wenn also die gesamte Krise ohne „mitgestaltende“ Beteiligung der offiziellen Arbeitervertretung durchgezogen wird; dann gerät sogar deren letzte Funktion in Gefahr, den autonomen Arbeiterbeirat des Standorts Deutschland stellen zu dürfen.

Wo ihr bisheriger Dienst an der einen „Seite“ der Gesellschaft von dieser nicht mehr gewünscht ist, da löst sich schlagartig auch der letzte Schein auf, die Gewerkschaft hätte der anderen, der lohnarbeitenden „Seite“ noch einen „unschätzbaren“ Dienst zu leisten. Von diesem Schein, so wie er früher gepflegt wurde: mit langen Listen gewerkschaftlicher Errungenschaften, ist das meiste schon dementiert, wenn der Verein selbst gar keine Illusionen über seine Dienste und ein korrektes Preis-Leistungs-Verhältnis bei den Beiträgen mehr weckt, sondern die „gewerkschaftliche Idee“ beschwört und die bloße Tatsache eines allgemeingültigen Tarifvertrags als Vorteil der unschätzbaren Art gewürdigt haben will. Es bleibt davon gar nichts mehr übrig, wenn dieser letzte Vorteil von der Gegenseite als letztes Beschäftigungshindernis denunziert wird und die Gewerkschaft dem nichts entgegenzusetzen hat[6] – nämlich nichts als die Beteuerung, ihre Verträge würden nichts von dem behindern, was ohne sie auch passieren würde. Das ist fatal für eine Organisation, deren ganze soziale Bedeutung und politische Anerkennung darauf beruht, daß sie gerade keine Arbeiterverwaltungsagentur, sondern eine mit freiwilliger Mitgliedschaft und Massenbasis ist.

Mit ihrer Funktionskrise erreicht die Gewerkschaft einen Endpunkt in ihrer Karriere als Lohnarbeiterverein, der sich immer schon zu gut dafür war, „bloß“ die „Lohnmaschine“ für seine Leute zu sein. Er ist es eben wirklich nicht gewesen. Was er sich – bis vor kurzem noch – als stolze Tradition guter Taten zugute gehalten hat, das ordnet seine eigene Funktionsbestimmung richtig ein: Es war immer soviel „soziale Gegebenheit“ und „Existenzsicherung“ daran, wie die wirtschaftlichen Gesichtspunkte der Gegenseite hergegeben haben. Ihre Leistung war nie mehr als die, einen Teil dessen, was Kapitalisten in Deutschland für Lohnarbeit zu zahlen bereit waren, weil sie sich für sie gelohnt hat, in flächendeckenden Verträgen aufzuschreiben und zu unterzeichnen. Was sie sich davon als Kampfergebnis zugeschrieben hat, mit dem sie besser dastünde als mancher ausländische Arbeiterverein, erweist sich als Reflex der Konkurrenzerfolge, die deutsche Unternehmer mit einem für sie extrem günstigen Lohn-Leistungs-Verhältnis weltweit eingefahren haben. Die deutsche Gewerkschaft war nie mehr als der Konjunkturritter des deutschen Arbeitsmarkts, so wie das Kapital ihn sich zurechtgemacht hat. Mit dessen Krise stürzt sie ab – logischerweise.

Es mag ja sein, daß Lohnarbeiterinteressen sich im Kapitalismus gar nicht gescheit vertreten lassen. Wenn die Entscheidung für das System gefallen ist, dann sind und bleiben diese Interessen die abhängige Variable und werden nie zu einem Standpunkt, der sich konsequent festhalten ließe. Die deutsche Gewerkschaft hat aus diesem prinzipiellen Widerspruch gewerkschaftlicher Interessenvertretung gleich eine radikale Konsequenz gezogen und die Interessen der abhängigen Variablen in der Weise vertreten, daß sie sich den Standpunkt der unabhängigen zueigen gemacht hat: das unbedingt gültige Interesse, das ihr als Sachzwang einleuchtet und in das die Interessen der ausgebeuteten Mannschaft einzupassen sind. So ist sie selbst zur abhängigen Variablen des herrschenden Interesses geworden: zur organisierten Antwort auf die Frage der Arbeitgeber, wer ihnen ihre Lohnangebote flächendeckend und ruhestiftend unterschreibt, damit sie dann gelten, und auf das übergeordnete sozialpflegerische Bedürfnis des Staates, nicht eine ganze unentbehrliche und gleichzeitig geschädigte Klasse der Gesellschaft sich selbst zu überlassen. Das hat sie jetzt davon: begründete Zweifel, ob sie zur großen „konzertierten Aktion“ von Staat und Kapital für den Standort Deutschland überhaupt noch als „autonomer“ Dritter eingeladen ist.

[1] (IGM-Anzeige, SZ 16./17.10.93)

[2] Aber Franz Steinkühler mußte zurücktreten.

[3] Mittlerweile hat die Bild-Zeitung die Gewerkschaft in der Lohnfrage meilenweit überholt – was wirklich nicht an der Bild-Zeitung liegt: Die hätte schon die nötige nationalistische Hetze auf Lager, wenn die Gewerkschaft Krise Krise sein ließe und mit massiven Forderungen aus der kapitalistischen Krise in Deutschland eine solche des Kapitalismus in Deutschland machen würde. Aber wie die Dinge liegen, ist Paul C. Martin zur Zeit der entschiedenste Anwalt der verarmten Klasse: Gib mir dein Weihnachtsgeld und ich lass’ dir deinen Arbeitsplatz! Deutschland, Ende Oktober. Nächsten Monat sollte Weihnachtsgeld ausgezahlt werden. Soll der Mann zu Hause erzählen: Mutti, Weihnachtsgeld hab’ ich noch mal mitgenommen, aber dafür bin ich ab Januar arbeitslos? Wo leben wir? Was sind das für Bosse, die solche Geschäfte mit der Existenz ihrer treuesten Mitarbeiter vorschlagen? Was sind das für Gewerkschaften, die sich den Tannenbaum gegen vage Versprechungen abschwatzen lassen? Arbeitnehmer, laßt euch das nicht gefallen! (Bild, 28.10.93)

[4] Ein Beispiel für viele: Klaus Lang vom IG Metall-Vorstand in einem Referat vor Arbeitsrichtern: …stellt Lang fest, daß sowohl das gesamte System der Tarifverträge in Deutschland große Differenzierungen aufweise und zulasse, daß aber darüber hinaus in vielen Mantel- und Rahmentarifverträgen auch eine breite Differenzierung enthalten sei, daß schon heute Gestaltungsmöglichkeiten für betriebsbezogene Regelungen gegeben seien. Diese betriebsbezogenen Regelungen könnten auch nach Meinung der IG Metall im Rahmen einer tariflichen Regulierung noch weiter ausgebaut werden. (Handelsblatt, 18.11.93) Alles will die Gewerkschaft mitmachen, jede Deregulierung – nur soll sie es mitmachen dürfen, per „tariflicher Regulierung“!

[5] Graf Lambsdorff von der FDP ist hier als politischer Scharfmacher den Lohnpolitikern der Arbeitgeberseite wie immer einen Schritt voraus: Damit die Arbeitslosigkeit nicht zur „drückenden politischen und finanziellen Last“ werde, müsse, so hat der Mann seiner FDP-Fraktion erklärt, „die Auseinandersetzung mit allen Interessenverbänden … aufgenommen werden“, nämlich vor allem mit den Gewerkschaften, die immer noch flächendeckende Tarifverträge verteidigten. ‚Interessenkartelle‘ müßten aufgebrochen werden. Dazu zähle er ‚mehr und mehr auch die Tarifautonomie‘. (Frankfurter Rundschau, 23.11.93) Wenn dieser Standpunkt sich durchsetzt, dann würde die deutsche Einheitsgewerkschaft zu ihrer Funktion auch noch ihren anerkannten Rechtsstatus los. Um den – und nur noch um den! – kämpft die IG Metall mit Argumenten der folgenden Art: „Immer wieder werde von den angeblichen Ritualen der Tarifautonomie gesprochen, die aufwendig und dem Ernst der Lage nicht angemessen seien. Für die IG Metall aber seien Ritulae ‚institutionalisierte Demokratie‘. Auch Bundes- und Landtagswahlen und die Rechtsfindung seien Rituale mit Instanzen, Widerspruchs- und Berufungsmöglichkeiten. Im Vergleich dazu zeichneten sich Tarifverhandlungen oftmals durch eine geradezu atemberaubende Effizienz aus. ‚Wir wollen dieses Ritual, weil es Gerechtigkeit schaffen und Rechtsfrieden bewahren soll.‘ In einer demokratischen Gesellschaft kämen Interessensausgleich und Entscheidungsfindung nicht ohne Rituale aus.“ (K. Lang, HB 18.11.93)

[6] Die Vertrauensleute-Konferenz der IG Metall Mitte November war eine Krisenkonferenz zu dem Thema: Wie steht die Gewerkschaft in den Betrieben da mit ihrer Botschaft, daß sie nichts zu bieten hat? Die Auskunft der entnervten Vertrauensleute war eindeutig: Sowohl ihr Meldewesen von unten nach oben wie ihr Beschwichtigungs- und Einschwörungswesen von oben nach unten ist selber in der Krise; gefragt sind sie nur noch als mögliche Frühmeldeinstanz für Massenentlassungen. Der Überbau hat offenkundig die Basis, die er verdient und die ihn verdient.