Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Gefängnis für den letzten Chef der DDR:
Zwei Urteile über den realen Sozialismus

Was die Redaktion des GegenStandpunkt-Verlags am realen Sozialismus für falsch hält und was die deutsche Justiz an Egon Krenz kritisiert.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Gefängnis für den letzten Chef der DDR:
Zwei Urteile über den realen Sozialismus

Die deutsche Justiz verurteilt Egon Krenz. Sie hat mehr recht, als ihre Richter sich haben träumen lassen.

Wer Kinder und Halbwüchsige vom Messdienen und vom Konfirmandenunterricht befreit, bloß um ihnen blaue Halstücher umzubinden, sie in Jugendlager zu stecken und sie unter dem Vorwand, es handele sich dabei um Sozialismus, zur unverbrüchlichen Treue gegenüber dem Staat zu verführen; wer aus Marx’ Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus ein Rezeptbuch für die Kommandohöhen der Wirtschaft verfertigt; wer als verantwortlicher Planer und Lenker einer sozialistischen Ökonomie nicht einfach den Bau von komfortablen Plattenbauwohnungen organisiert, sondern in ständig defekten Wohnblöcken die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik verwirklicht; wer die Insassen seines Arbeiter- und Bauernstaates mit den nationalen Großtaten von Skispringern, Eisläuferinnen und Kugelstoßer/ innen beglückt; wer die Kapitalistenklasse abschafft, um hinterher Helden der Arbeit in volkseigenen Betrieben einen sozialistischen Wettbewerb um die punktgenaue Erfüllung des Wertgesetzes austragen zu lassen; wer die Weltrevolution mit Weltpolitik und Friedensdiplomatie verwechselt; wer, statt die Leute vom sozialistischen Programm zu überzeugen, echt volksdemokratische Wahlen – einschließlich deren Wunschergebnisse – organisiert; wer, statt eine anständige Versorgung der Menschen mit astreinen Gebrauchsgütern zu planen, Werbung betreibt, am Ende auch noch für Plaste und Elaste aus Schkopau; wer in jedem Kaff eine Straße auf den Namen Gagarin tauft und das Land mit Marx- und Engels-Denkmälern pflastert; wer die Moral nicht bekämpft und überflüssig macht, sondern den Sozialismus selber für eine Gesinnungsfrage hält; wer sein Volk liebt, statt es dafür zu kritisieren, dass es sich als Volk aufführt; wer die Massen zur Selbstlosigkeit erziehen will und das für den ‚realen Sozialismus‘ ausgibt; wer seinen Erfolgen bei der Stiftung einer edlen Weltanschauung ständig misstraut und deshalb das geliebte Volk penetrant unter seine moralische Obhut und Überwachung stellt; wer sozialistischen Werktätigen mit dem Kompliment kommt, sie verkörperten die besten Traditionen der deutschen Nation; wer den proletarischen Internationalismus auf die Tugend der Völkerfreundschaft herunterbringt; wer Friedenspolitik treibt, also Weltkriegs-Partei ist und mit Erfolg sein will; wer keine gescheite Aufklärung über den Klassenfeind und die imperialistischen Mächte betreibt, sondern lieber überall und immerdar rechts- oder auch linksabweichlerische, konterrevolutionäre Machenschaften beobachten und unter Kontrolle halten will; wer Marxismus-Leninismus zu einer wissenschaftlichen Methode erklärt, die für Uni-Examen und als Karrierebedingung gebüffelt werden muss; wer für die Kunst so viel übrig hat, dass er regierungsamtlich ‚sozialistischen Realismus‘ verordnet; wer das Attribut ‚proletarisch‘ für ein hohes Lob hält und noch die dreckigste Fabrikhalle mit entsprechenden roten Spruchbändern verziert; wer jeden Sport- oder Hasenzüchterverein zum sozialistischen Kulturerbe erklärt; wer ‚Planung und Leitung‘ sagt und dafür ein sozialistisches Bank- und Versicherungswesen installiert; wer Marx auf 100-Mark-Scheine druckt; wer die Kapitalistenklasse und den Klassenstaat abschafft, bloß um beide anschließend auf ihren ureigensten Feldern der Gewinnerwirtschaftung und der Machtentfaltung ein- und überholen zu wollen; wer am Ende an seinem eigenen ‚realsozialistischen‘ Laden immer noch überhaupt nichts Kritikables findet außer seinem Rückstand zum kapitalistischen Klassenfeind und weltpolitischen Konkurrenten und ihn deswegen gleich dafür wegschmeißt; wer nach vollen vierzig Parteilehrjahren und mit all seiner Hoheit über die Ausbildung der werktätigen Klasse keinen besseren Materialismus verankert hat als die blödsinnige Sehnsucht: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“ – also noch nicht einmal für geographische Grundkenntnisse über den Unterschied zwischen einer Währung und einer Landschaft gesorgt hat; wer die Abschaffung des Staates zur Utopie erklärt hat und den eigenen Staat nur abschaffen lässt, um sein Volk vom imperialistisch erfolgreichen West-Vaterland eingemeinden zu lassen: Wer all das mit zu verantworten hat und von all dem bloß deswegen nichts mehr hält, weil er vom Westen überrollt worden ist, also schon wieder aus der Geschichte gelernt hat, der hat sich seinen Platz auf dem Misthaufen derselben redlich verdient.

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Die deutsche Justiz verurteilt Egon Krenz wegen Totschlags an der deutsch-deutschen Grenze zu sechseinhalb Jahren Haft. Das Recht hat sie. Sie hat es sich ja eigens so zurecht definiert, um das feindliche DDR-Herrschaftssystem als Hort von „Regierungskriminalität“ zu kriminalisieren und seine Repräsentanten zu bestrafen. Deswegen bleiben allerdings erhebliche Zweifel – daran, ob von diesem Urteil die nötige Abschreckungswirkung auf Grenzschützer vom Kaliber Schily oder Beckstein ausgeht.