Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Fußballglück im Ruhrpottelend

Politik und Medien freuen sich, dass der Fußball so gut als „Opium“ fürs Volk funktioniert.

Aus der Zeitschrift

Fußballglück im Ruhrpottelend

Die Fußballsaison geht zu Ende, zwei Ruhrgebietsvereine gewinnen einen europäischen Wettbewerb, und unter freudiger Anteilnahme der restlichen Nation dreht eine für Fleiß, Drecksarbeit und Strukturprobleme bekannte deutsche Region zwei Wochen lang komplett durch.

An sich nicht weiter überraschend ist eine solche Entgleisung bei Leuten, die sich entschlossen haben, privat vor allem Anhänger eines Fußballvereins zu sein. Der wird darüber zu ihrem Verein, sie werden zu seinen Fans; sie haben sich entschieden, all die Notwendigkeiten, die ihr Leben sonst bestimmen, als sowieso unveränderliche Lebensumstände hinzunehmen und sich wenigstens und um so mehr die Freiheit zu gönnen, alles, was mit ihrer Mannschaft zu tun hat, für viel, viel wichtiger zu befinden. Sehr weit her ist es mit dieser Freiheit insofern freilich nicht, als sie sich regelmäßig ziemlich borniert an den Zufall der räumlichen Nachbarschaft hält und aus der bloßen Zugehörigkeit zu einem Stadtviertel den entscheidenden Beweggrund für bedingungslose Parteinahme verfertigt – ein Blödsinn, für den es ausgesprochen machtvolle Vorbilder gibt. Und es bleibt – auch das ähnlich wie bei den verbindlicheren Spielarten heimatverbundener Parteilichkeit – nicht viel Freiwilligkeit übrig, wenn einer so richtig Fan geworden ist: Dann erklärt er sich nicht bloß zum Teilhaber, sondern fühlt und benimmt sich glatt als Teil eines großen Ganzen namens Borussia Dortmund, FC St. Pauli oder FC Bayern. Ein solcher Fan weiß sich gefragt wie sonst nie, wenn seine Mannschaft gegen den Ball tritt; entsprechend viel steht auch für ihn dann auf dem Spiel. Auswärts oder daheim – dabeisein will er immer, mit Mützen, Schals, Fahnen und Gesängen das Kollektiv repräsentieren, in das er sich ohne Zwang und Not geistig eingemeindet; ein Kollektiv, das die Schönheit an sich hat, von allen leidigen Beziehungen der materiellen Art zu abstrahieren und durch die freigewählte Abhängigkeit vom Schlachtenglück der „eigenen“ Elf eine Gemeinsamkeit zu fingieren, die sich dementsprechend abstrakt verwirklicht: im tatkräftigen, nämlich vor allem lautstarken Dazu-Halten. Niederlage oder Sieg – das sind die Alternativen, an denen sich das Gefühlsleben echter Fans seine Stimmungen und Verstimmungen abholt. Und wenn schon allwöchentlich die Befindlichkeit von ziemlich vielen vom Torverhältnis der Vereine abhängt, zu denen sie halten, dann verschaffen große Siege den jeweiligen Anhängern Höhepunkte ihrer entsprechend verfaßten guten Laune: Zwei Europapokale heimgeholt – und schon verfallen ansehnliche Bevölkerungsteile einer Region – erst blau-weiß, dann schwarz-gelb maskiert – für Tage einer besoffenen Euphorie.

Doch dabei bleibt es nicht. Der nicht endenwollende Überschwang der Schalker und Dortmunder Fußballfans findet diesmal ganz auffällig viel Anklang bei Leuten, die ihn für gewöhnlich mehr als Problem zur Kenntnis nehmen, der öffentlichen Ordnung nämlich, der sie vorstehen. Schon im Vorfeld des Gekickes weisen Vertreter von Politik und Öffentlichkeit darauf hin, daß vom Ergebnis nicht nur der Sieger, sondern das Ansehen der ganzen Region abhängt. Dabei denken sie an all die Insassen der Region, die zwar absolut keinen Grund haben, mit sich, ihrer Lage und allem, was sie von ihrer Region so haben, zufrieden zu sein – die deswegen aber um so mehr einen Gesichtspunkt brauchen, unter dem sie sich als Insassen des Ruhrgebiets wohlfühlen können.

„Die Profis spielen vor Tausenden von Langzeitarbeitslosen. Die opfern ihr letztes Geld, um Borussia siegen zu sehen. Was haben sie davon?“

fragt da ein Reporter der ARD und kann sich darauf verlassen, daß sein Gesprächspartner ganz gewiß nicht „Nichts!“ anworten wird. Soziales Elend ist nämlich auch so eine Standardsituation, in der ein Fußballtrainer wie Hitzfeld sich gut auskennt:

„Ein Arbeitsloser hat eine ganz schwere Zeit durchzustehen und wenig Erfolgserlebnisse, und ein Fußballspiel, das Borussia Dortmund gewinnt, und er als Fan, er trägt die Farben von Borussia Dortmund, steigert erheblich das Selbstwertgefühl dieser Menschen, also kann er selbstbewußter auftreten, er kann rausgehen zu seinen Freunden, vielleicht auch zum Arbeitsplatz oder – ja gut, vielleicht ein Arbeitsloser weniger zum Arbeitsplatz, aber vielleicht zu Kollegen, die er hat, die auch arbeitslos sind, die vielleicht Schalke-Fans sind, die vielleicht Bayern München-Fans sind, da entsteht ’ne Rivalität und die Fans haben dann den Lebensinhalt, über den sie berichten können.“

Als hätte er in der Uni psychologische Kompensationstheorie studiert, geht der Mann davon aus, daß Arbeitslosen vor allem der Verlust an Sinn das Leben schwer macht, und da weiß er einen prima Tip: Das Einfühlen in das Kollektiv seiner Bolzer bietet er ihnen als Weg an, sich für den Verlust zu entschädigen und das Leben wieder lebenswert zu finden. Dem Fehler, den einer aus Überzeugung macht, der sein praktisches Dasein, seine trostlose Rolle als abhängig Beschäftigter ohne Beschäftigung für unwichtig, dafür aber einen eingebildeten Lebensinhalt, den ihm keiner nehmen kann, für ungleich wichtiger nimmt, gibt der Trainer Hitzfeld Recht. Kreaturen die sich einen solchen „Inhalt“ dadurch verschaffen, daß sie als Fan leben, sich tatsächlich mit ihrem letzten Geld Eintrittskarten fürs Stadion und Alkohol kaufen, damit aus Fußball ihr persönliches Erfolgserlebnis wird – die beglückwünscht er zu ihrem wiedererlangten Selbstwertgefühl und sagt auch noch die Wahrheit dazu, daß ihr ganzes Selbst aus den Vereinsfarben und der Wert des geschätzten Gefühls aus dem Erfolg des Clubs besteht, mit dem sie so groß werden können, wie sie mit ihm angeben.

Und damit steht der Fußballehrer keineswegs allein. Alle Welt ist sturzzufrieden mit der Funktion, die der Fußball und seine Fankultur verrichten. Der Minister für soziale Betroffenheit höchstpersönlich erläutert auf seine Weise, daß dieser Dienst gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist. Als Anwalt der sozial Elenden insistiert er nachdrücklich darauf, daß die ein Recht auf Entschädigung haben, um klarzustellen, worin die besteht: in einem erfolgreichen Massenvergnügen im Westfalenstadion:

„Liebe Borussen, reißt Euch zusammen. …. Ihr spielt nicht nur für Dortmund, sondern für das ganze Ruhrgebiet und für die Ehre der Malocher.“ (Blüm)

Zu siegen galt es also, damit Kohlekumpel und Stahlkocher mit Stolz die Farben von Borussia Dortmund tragen – und sich darüber in noch ganz andere Kollektive eingemeinden als das doch einigermaßen beschränkte einer vereinsbezogenen Anhängerschar. Den normalsterblichen Zeitgenossen und den ortsansässigen Fußballclub verbindet nämlich, ob sie wollen oder nicht, die Region, in der der erstere zwar bloß seiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder noch nicht einmal eine solche findet; doch weil und soweit der letztere mit seinen Erfolgen für die Gegend, der sein Publikum entstammt, Ehre einlegt, darf jeder Nachbar an dieser teilhaben. Und das bloß weil er Nachbar ist und sein Dasein in derselben Gegend fristet, ganz umsonst also – ein ideeller Gratis-Lohn für das Dasein, das der Mensch als Einheimischer in der Nähe des siegreichen Clubs verbringt. Den Lohn nimmt ihm keiner, auch wenn es mit der materiellen Entlohnung aufgrund der schlechten Zeiten und veralteter Strukturen nicht mehr so recht klappen will. Die Ehre, die da so freigiebig verteilt wird, besteht ihrerseits ihrer unverwüstlichen Substanz nach keineswegs in irgendwelchen vergänglichen Torschüssen, sondern darin, daß kein geringerer als die ganze Nation stolz ist auf ihre erfolgreichen Fußballer; so stolz, daß alle anderen Vereine und Regionen glatt neidisch werden auf die Ruhrpott-Kanaken, bei denen, wenigstens 14 Tage lang, das Herz des deutschen Fußballs schlägt. Die Nation, ganz buchstäblich sogar in Gestalt ihrer führenden Repräsentanten, ehrt ihren Ruhrpott; die Region mit ihren erfolgreichen Kickern darf auf sich stolz sein, weil sie für die Nation Ehre einlegt. Auf diese Weise eint der Erfolg des Vereins den letzten Malocher der Gegend mit dem ganz, ganz großen Kollektiv, das sich keiner so freiwillig herausgesucht hat wie der Fan die Vereinsfarben: dem nationalen. Und das kann gar nicht genug gefeiert werden.

Irgendeiner hat dann doch sein Befremden darüber ausgedrückt, daß sich die Massen mit einem bißchen Glück beim Fußball so umstandslos zu lokalem Patriotismus bewegen und sich mit dem so gründlich für das Elend entschädigen lassen, in dem sie ansonsten leben:

„Der Ruhrpott ist kaputt, aber er strahlt. Was Arbeitsförderungsmaßnahmen und Regionalentwicklungspläne nicht zustande gebracht haben, schaffte spielend der FC Schalke 04: Millionen von Arbeitslosen, demnächst Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern haben endlich wieder etwas zu lachen. Brot und Spiele heißt das Rezept, und wenn das Brot allmählich knapp zu werden beginnt, müssen’s die Spiele eben allein herausreißen. Oder, wie Karl Marx zu sagen pflegte: Fußball ist Opium fürs Volk.“ (SZ 24/25.5.97)

Mit der Bemerkung, daß sich der Pöbel seit der römischen Kaiserzeit irgendwie gleichgeblieben sein muß, ist der große Durchblicker von der Süddeutschen Zeitung aber auch schon wieder fertig mit dem Thema. Er wäre der letzte, der dem Volk sein „Opium“ mißgönnen würde, geschweige denn an seiner Begeisterung die zum Fanatismus gesteigerte bornierte Parteilichkeit fürs nationale Kollektiv zu entdecken wüßte. Deswegen entgeht ihm glatt, daß seit Karl Marx nicht der Fußball, sondern das falsche Bewußtsein seiner Fans als das bewährte Rezept feststeht, das Elendsfiguren frohe Laune beschert.