Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die große Fernsehrebellion in Tschechien

Journalisten kämpfen um ihre Unabhängigkeit, während die tschechischen Politiker ihre Parteienlandschaft noch nicht so weit gefestigt und im Griff haben, dass sie bereit wären, sich auf einen geregelten Proporz bei der Bestellung ihrer Hofberichterstatter zu verständigen. Der Präsident ergreift Partei gegen die „Arroganz der Parteien“ überhaupt.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Die große Fernsehrebellion in Tschechien

Mitte Dezember setzt das sogenannte „Machtkartell“, das Bündnis zwischen den regierenden Sozialdemokraten (CSSD) und der Demokratischen Bürgerpartei (ODS), vermittels des von ihnen mehrheitlich besetzten Fernsehrats den Generaldirektor des tschechischen Fernsehens ab und innerhalb weniger Tage „parteinahe Journalisten“ als neue Fernsehchefs ein. Daraufhin entfaltet sich ein regelrechter Fernsehkrieg. 50 erboste Nachrichtenjournalisten besetzen die Studios, produzieren weiter „ihre“ Nachrichten und rufen zu Demonstrationen für die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Senders Ceska televize (CT) auf. Von seiten des neu bestallten Generaldirektors Hodac hagelt es Kündigungen und Strafanzeigen gegen die Rebellen; er fordert die Polizei auf, das Sendegebäude zu räumen, aber das dafür zuständige Innenministerium verweigert den Auftrag. Der Streit hat nämlich mittlerweile alle Instanzen der tschechischen Demokratie erfasst: Der Staatspräsident persönlich stellt sich nach einer Woche hinter das Anliegen der Streikenden, die regierenden Sozialdemokraten spalten sich an der Behandlung der Frage, die Bevölkerung sympathisiert mehrheitlich mit den Besetzern und demonstriert zu hunderttausend gegen die „Demokratura“.

Nach drei Wochen tritt Hodac entnervt zurück, das Parlament beschließt im Eilverfahren neue Besetzungsregeln für den Fernsehrat und bestellt schließlich Mitte Februar einen Interimsintendanten, der die Hodac-Mannschaft entlässt und die von deren Chef ausgesprochenen Entlassungen rückgängig macht.

Das nahe Ausland wundert sich anfangs ein bisschen, wie eine Personalfrage im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die in den demokratisch gefestigten Ländern kaum einen Hund vor den Ofen locken kann, zu solchen Protesten, ja zu einer regelrechten Machtauseinandersetzung innerhalb der politischen Klasse geraten kann. In der Mehrheit wird dann Partei ergriffen für den „mutigen Freiheitskampf“; offizielle Stellen bis hin zur EU-Kommission werfen die Frage auf, ob der Journalistenprotest nicht auf ernstzunehmende Mängel der tschechischen Demokratie verweist. Einzig die FAZ kreidet den Journalisten Missachtung des Instanzenwegs an, befindet wieder einmal den Formalismus der Demokratie für wichtiger als den tschechischen Freiheitsdurst und und warnt vor der „Art von Demokratieverständnis“ (8.1.01), die wir uns mit solchen Anschlusskandidaten einhandeln.

Um ein Stück Demokratie geht es in der Tat. Und das korrekte Verständnis ist, wie es aussieht, schon ziemlich entwickelt.

Ein Kampf um ein Instrument der Macht

Die empörten Journalisten kennen den neuen Mann; zuvor hat er sich schon einmal einschlägig betätigt, eine Diskussionssendung abgesetzt und den Moderator entlassen, „nachdem der ‚zu scharfe Fragen‘ an Zeman und Klaus (die Chefs der Sozialdemokraten und der ODS) gestellt hatte.“ (Die Presse, 3.1.) Sie begrüßen ihn als Zensor:

„Herr Hodac, wir erkennen ihre Wahl zum Direktor nicht als legitim an. Sie sind eine Marionette der rechtsgerichteten Demokratischen Bürgerpartei!“ (Welt am Sonntag, 18.1.)

Sie kennen auch das Anliegen seiner Auftraggeber: eine personalpolitische Säuberung, die das Staatsfernsehen zu vermehrter Hofberichterstattung zugunsten der amtierenden Regierung anhalten soll. Sie haben ihre Erfahrungen im Umgang mit den Machern der tschechischen Politik, die mit ungefähr demselben grollenden Verdacht auf Majestätsbeleidigung, wie er im Umgang deutscher Kanzler mit den Medien öfters vorkommt, darauf bestehen, dass das Staatsfernsehen doch wohl dafür da zu sein hätte, Propaganda für sie zu betreiben. In aller Höflichkeit wagen sie sogar zu „vermuten“, dass deren Personalpolitik etwas mit den letzten Wahlniederlagen und den kommenden Parlamentswahlen zu tun haben könnte:

„Die Aufständischen vermuten, dass die Bürgerpartei mehr Einfluß auf das Fernsehen und die öffentliche Meinung gewinnen will, um im Parlamentswahlkampf, der im Sommer 2001 beginnen wird, einen Machtwechsel herbeizuführen. Ziel der Bürgerlichen sei es, ihre konservativ-liberale Konkurrenz, die Viererkoalition aus dem Äther zu verdrängen. Bei den jüngsten Senatswahlen hatte diese Koalition, die Havel nahe steht, glänzend abgeschnitten und vielerorts die Bürgerlichen geschlagen.“ (HB, 28.12.00)

Mit derlei Vermutungen dürften sie kaum daneben liegen. Dagegen treten sie an, allerdings nicht einfach als Kritiker solcher Machenschaften. In den personalpolitischen Schachzügen der Obrigkeit sehen sie ein Komplott zur Gleichschaltung der Massen – gerade so, als wäre die Herrschaft über den Chefsessel beim Fernsehen schon dasselbe wie der komplette Durchgriff auf die politischen Ansichten des Volkes. Mit der Installierung einer „Marionette“ an der Spitze ihres Senders, befürchten sie, hängen auch schon sie selber und mit ihnen das gesamte Publikum an den Strippen, die die Machthaber dann nach Belieben ziehen können. Sie kämpfen für die Freiheit des politischen Meinens und Wollens, von der sie als gute Demokraten die weniger gute Meinung haben, sie wäre durch Fernsehbilder und -nachrichten umstandslos auszuhebeln; gegen eine Politikermannschaft, die das unter umgekehrten Vorzeichen genau so sieht. Sie proben den Aufstand, weil sie ihr Metier für ein Manipulationsinstrument halten, bei dem es eben deshalb fürchterlich darauf ankommt, wer es in Händen hält. In diesem Sinne berufen sie sich auf den „Informationsauftrag des öffentlichen Fernsehens“, den die Demokratie ihnen erteilt hat und den sie sich von keiner demokratischen Autorität nehmen lassen wollen, und beteuern ausdrücklich, nur im Rahmen dieser ihrer Staatsfunktion tätig sein zu wollen. Eine unbefugte politische Einmischung ihrerseits sei keinesfalls beabsichtigt:

„Es geht uns hier nicht um Politik. In erster Linie liegt unser Motiv darin, dass wir Hodac als schlechten Manager sehen, der nicht dazu fähig ist, die Unabhängigkeit des Senders zu garantieren.“ (Prager Zeitung, 4.1.)

Und mit der „Unabhängigkeit des Senders“ steht die „Aufklärung der Nation“ auf dem Spiel – also nichts geringeres als das Recht des Volkes darauf, von unabhängigen Journalisten und insofern nicht manipuliert und geistig enteignet zu werden:

„Das Fernsehen gehört den Leuten, nicht den Parteien!“ (Die Presse, 3.1.)

*

Und wie sieht sie aus, die unersetzliche Aufklärungsarbeit, der journalistische Dienst am Volk? Mustergültig demokratisch, das muss man sagen. Deswegen hier ein paar ausführlichere Anmerkungen zu einem exemplarischen Fall freiheitlichen journalistischen Denkens.

Nimmt man einmal die Auskünfte her, wie sie von den Kämpfern am Fernsehen wie von sympathisierenden Kollegen der Presse über ihren Fall und dessen Hinter-Gründe in den allgemeinen Missständen der Republik abgegeben werden, so erfährt man folgendes:

„Die Grenzen zwischen den Parteien und der Wirtschaft wurden verwischt. Über die Privatisierung großer Unternehmen wurde häufig in den Hinterstuben der Parteizentralen entschieden. Die Korruption saugte am Organismus der jungen Demokratie. Die volkswirtschaftlichen Verluste, beschönigend als Transformationskosten bezeichnet, stiegen ins Astronomische… Zwar existieren Gesetze und demokratische Einrichtungen, doch werden sie häufig immer noch nicht konsequent befolgt oder umgesetzt. Die Krise war vorprogrammiert. Die Wirtschaft schlitterte in die Rezession, plötzlich stieg die Zahl der Arbeitslosen, Parteispendenaffären erschütterten die Gesellschaft. Die Konservativen wurden abgewählt, Sieger der Parlamentswahlen waren die Sozialdemokraten. Die Bürger erhofften sich von einem Regierungswechsel die Gesundung des gesellschaftlichen Klimas und ein Zurückdrängen der Parteienmacht. Nichts davon erfüllte sich. Die sozialdemokratischen Wahlsieger schlossen eine verdeckte Koalition mit den Bürgerlichen Demokraten von Klaus. Posten und Funktionen wurden untereinander aufgeteilt. Wichtige Entscheidungen wurden nicht mehr nachvollziehbar und transparent gefällt, sondern hinter den Kulissen ausgehandelt. Beide Parteien gingen daran, ihre Herrschaft für die Zukunft zu zementieren. Ein neues Wahlgesetz wurde verabschiedet, das die kleinen Parteien benachteiligt, die Kompetenzen des Präsidenten wurden beschnitten.
Die Bürger wandten sich enttäuscht ab. Politik erhielt immer häufiger das Attribut schmutzig. Die erhoffte Wende war nach den Wahlen nicht eingetreten. Und die Parteichefs der Sozialdemokraten und der Bürgerlichen Demokraten führten sich zunehmend arroganter auf. Premier Milos Zeman beschimpfte öffentlich Journalisten, sein Kollege Klaus tat dies dezenter, doch nicht minder aggressiv.“ (Prager Zeitung, 19.1.)

Missstände werden aufgedeckt, und nach einem ziemlich vertrauten Muster wird nach den „Gründen“ geforscht: Die Nennung gewisser Orte, an denen Entscheidungen getroffen werden, die „Hinterstuben der Parteizentralen“, die „verdeckte“ Koalition, die angeblich hauptseitig „hinter den Kulissen“ agiert, soll den Verdacht auf Korruption belegen, nach dem es den herrschenden Parteien auch nur um die unrechtliche Beschaffung von Geld und Macht zu tun ist. Warum Parteien, die auf Bereicherung aus sind, deshalb gleich die ganze Volkswirtschaft in den Sand setzen und die „Krise programmieren“, und inwiefern die zitierten Methoden der Entscheidungsfindung überhaupt für solche Phänomene wie „volkswirtschaftliche Verluste, Krise, Arbeitslosigkeit“ etc. verantwortlich zu machen sind, interessiert die Herren Aufklärer nicht die Bohne. Warum die „Transformationskosten ins Astronomische steigen“, warum Figuren, die von der Politik den Zuschlag zur privaten Aneignung von Betrieben erhalten, des öfteren das damit erworbene Vermögen lieber auf den Bahamas verschwinden als in Tschechien Dienste für Arbeitsplätze leisten lassen, warum sie die Schließung von Betrieben nach der Veräußerung von Betriebseigentum für lohnender halten als deren Fortführung, warum Banken „faule Kredite“ anhäufen, die die Regierenden auch noch mit neuen Krediten abstützen, statt alles auffliegen zu lassen – die ökonomischen Gründe dieser Phänomene interessieren nicht. Damit, die geltenden marktwirtschaftlichen Berechnungen zu ermitteln, die diese unschönen Erscheinungen zur Folge haben, halten sich die Meinungsbildner gar nicht erst auf. Ihre Optik ist so parteilich wie schlicht: Parteilich für den nationalen Erfolg, der nicht eingetreten ist, parteilich daher gegen die, die in ihre Regierungsämter doch eingesetzt worden sind, um diesen Erfolg herzustellen. Anhand des schlichten Vergleichs von Auftrag und nicht eingetretenem Erfolg ist nämlich das Urteil erschöpfend und fertig, dass die Macher dann wohl offenkundig ihre Pflicht nicht getan haben, Gesetze nicht befolgen, die Erwartung der Wähler nicht erfüllen und damit zuguterletzt zusätzlich zu allen Krisensymptomen auch noch eine politische Krise namens Politikverdrossenheit stiften. Die amtierenden Politiker dienen nicht dem Allgemeinwohl.

Mit dieser einsinnigen Beweisabsicht liefern die aufsässigen Journalisten eine Auskunft darüber, wie sie ihr Gewerbe begreifen. Als staatlich ins Amt gesetzte und befugte Wächter des Gemeinwohls wollen sie die Politik auch nur anhand von deren eigenen Maßstäben beurteilen, danach also, ob deren Erfolgskriterien sowie dem verfassungsmäßig gewollten rechtlichen und politischen Procedere Genüge getan wird oder nicht. Eben deshalb kennt ihr Recht auf kritische Kontrolle genau genommen auch nur einen einzigen Gegenstand: die personelle Besetzung der Macht und deren pflichtgemäßes oder -versäumendes Wirken. Weil einwandfrei das letztere der Fall ist, eröffnet sich der kritischen Erforschung nach der Logik des Verdachts ein neues Feld: welchen Interessen die Politiker entgegen ihrem Auftrag nachgehen. Und das können nur eigennützige, also verwerfliche sein, die deshalb auch das Tageslicht scheuen. Nur so erklärt sich die alberne Beschwerde darüber, dass die politischen Entscheidungen „nicht mehr nachvollziehbar und transparent gefällt“ würden. Reichlich unkritisch gehen die kritischen Volksaufklärer von der Unterstellung aus, dass „transparente“ und weise Entscheidungen jede Privatisierung zum Erfolgsmodell machen und, wird das richtige, d.h. verantwortungsvolle Personal eingesetzt, Erfolg und Wachstum einfach verbürgt sein müssten; folglich sind sie sich sicher, dass die faktischen Entscheidungen zugunsten von Dunkelmännern und Gangstern gefallen sind. Die Vertreter des Standes, der tagaus tagein nichts anderes zu erledigen hat, als Entscheidungen der Politik öffentlich zu verkünden, können an denen offenkundig wenig Anstößiges entdecken; statt dessen verfolgen sie mit dem ganzen Ethos ihres Berufes überall den Verdacht, letztlich würden ganz andere, vor ihnen verheimlichte Entscheidungen aus den „Hinterstuben“ das Land regieren. Sie befinden es für völlig uninteressant bis unmöglich, aus dem, was sie öffentlich bekannt geben, kritisch aufklärende Schlüsse auf die Politik zu ziehen; die Objektivität, die sie anstreben, fängt damit an und hört auch schon wieder damit auf, das, was im Dunkeln bleiben soll, aufzudecken. Wer da wen trifft, Seilschaften bildet, Posten zuschanzt und Geldpäckchen zuschiebt, über welche dunkle Vergangenheit und heutigen Geschäftsinteressen die betreffenden Figuren verfügen – auf Personalfragen dieser Art richtet sich ihr journalistischer Wissensdurst. Dass ihnen das nicht offiziell gedankt wird, finden sie skandalös:

„‚Berufsethos ist hier kaum ein Thema‘, sagt eine junge Radioreporterin, alle Versuche eines investigativen Journalismus würden gewöhnlich schon im Keim erstickt.“ (FAZ, 4.1.)

Um so hingebungsvoller üben sich die streikenden Journalisten in diesem Berufsethos und vermelden stolz,

„sie hätten einen ‚Undercover Agenten‘ in Bobosikovas Team eingeschleust, der heimlich Video-Aufzeichnungen angefertigt habe und im besonderen über die Kontakte Bobosikovas (eine der neu eingesetzten Figuren aus dem Umkreis der ODS) zu Politikern Bericht erstatten sollte.“ (FAZ, 13.1.)

über die Kontakte also, die ja schon den allgemein bekannten Ausgangspunkt der Entrüstung ausmachen.

Das ist der Stoff, den sie für ziemlich entscheidend halten: nicht bekannt gemachte facts and figures, Skandale, die darin bestehen, dass sich Leute in führenden Funktionen von Staat und Wirtschaft bewegen oder dafür empfehlen, die gar keine weiße Weste besitzen. Und Flecken auf Westen lassen sich leicht und reichlich finden; erstens schon deswegen, weil das der Transformation gewidmete Staat-Machen des öfteren Misserfolge zu verzeichnen hat. Kulturminister Dostal, der sich hinter die Rebellion gestellt hat, wühlt mit herum im innertschechischen Affärenwesen und verweist darauf, dass der von Hodac eingestellte Finanzchef Beznoska vormals die privatisierte IPB-Bank mit schlecht gedeckten Krediten nahezu in den Ruin getrieben hat (Prager Zeitung, 18.1.). Der Autor der Prager Zeitung nimmt an den guten Beziehungen zwischen Parteien und Wirtschaft, die sich in anderen Nationen z.B. ein Autokanzler als besonderes Verdienst zurechnet, deshalb Anstoß, weil er sie für die „astronomischen Transformationskosten“, d.h. die ansehnliche Anzahl von Pleiten, für „Krise, Rezession“ etc. haftbar macht. Zweitens schöpft ein solcher „investigativer Journalismus“ auch aus der kommunistischen Vergangenheit viel Stoff: Für das Urteil ‚Wendehälse‘ sind im Prinzip alle Staatsinsassen mit Ausnahme der 3 bis 24 anerkannten Dissidenten geeignet, angefangen von der Präsidentengattin, die in ihrer Eigenschaft als führende Blondine im Volkstheater seinerzeit einen Aufruf gegen die Charta 77 unterzeichnet hat, über sämtliche Funktionäre des alten Regimes, die ohne gewisse Bekenntnisse zu dessen Zielen nicht hätten Karriere machen können, bis zu allen mittelmäßigen und kleinen Mitmachern. Dementsprechend wird denn auch während des Streiks „enthüllt“:

„Die streikenden CT-Redakteure enthüllten mittlerweile, dass Hodac in den siebziger Jahren militärpolitischer Redakteur einer regimetreuen Zeitung gewesen ist. Das habe Hodac in seinem offiziellen Lebenslauf und auch in seinen Bewerbungsunterlagen verschwiegen.“ (Die Presse, 4.1.)

Von diesem investigativen Geist beseelt, unterwegs in der Mission, Aufklärung über die Dunkelmänner zu verbreiten, denen die Nation ihre Leiden zu verdanken hat, befinden die aufständischen Meinungsmacher, dass ihnen, recht besehen, eigentlich die Dankbarkeit der Allgemeinheit zusteht und kein „Zensor“:

„Nur unter autoritären Regimen brauchen die Politiker das Lob der Medien. In demokratischen Staaten, selbst dort, wo Politiker vom Schlage eines Winston Churchill keine Rücksicht kannten, waren und sind Politiker teilweise sogar dankbar, wenn Journalisten ihnen rechtzeitig zu wissen geben, dass der König nackt ist. Und wenn es in funktionierenden Demokratien keine Politiker mehr gibt, die für die Kritik der Medien dankbar wären, dann werden rechtzeitig durch die Medien ihre schlechten Dienste aufgedeckt und die steuerzahlende Öffentlichkeit kostet der Spaß weitaus weniger.“ (Dana Mazalova, Prager Zeitung, 9.1.)

So sieht dann auch der Dienst am Volk aus, in dessen Namen sich die Rebellen zum Aufstand berufen fühlen: Indem sie die moralische und sonstige Eignung von Politikern zum Führen überprüfen, in deren nicht ganz so öffentlichen Machenschaften herumschnüffeln, um sie daran als ungeeignet zu blamieren, liefern sie dem Volk Entscheidungshilfen zum Wählen und Abwählen von Politikern. Das Geschäft des Führens selber geht komplett in Ordnung, auch das Programm des Führens steht außer Zweifel – seine Meinung und seinen dementsprechenden Willen darf und muss das Volk sich aber darüber bilden, ob der jeweilige König noch Bewunderung verdient. Zu mehr ist das Volk in seiner neuen demokratischen Freiheit nicht da als dazu, sich regieren zu lassen und periodisch zur Neubesetzung der Ämter sein Vertrauen zu verschenken. Und nicht einmal dazu ist so ein demokratisches Volk dank seiner eigenen Verstandeskräfte in der Lage: von alleine zu entdecken, dass der König keine Kleider anhat. Medien, professionelle Kenner und Begutachter von Führungsqualitäten und -stilen sind vonnöten, von denen es sich erst noch sagen lassen muß, wer und wer nicht sein Vertrauen verdient! Die gewaltige Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Meinungsbildung reduziert sich in der Sache letztlich auf die schäbige Funktion der Anleitung der Massen zur wohl abgewogenen Ermächtigung von Machthabern. Dafür allerdings schreiben sich die Medien mit der Rolle des Königsmachers eine enorme Bedeutung zu: Allen Ernstes halten sie den Besitz der Öffentlichkeit für das Instrument, die Geschicke des Staates zum Guten oder zum Bösen zu lenken – zum Guten, wenn sie aufdecken dürfen, wer die guten und wer die schlechten Führer sind.

Ein reichlich elitäres Bewußtsein also zeichnet die Profis des demokratischen Mediengeschäfts aus. Und das haben die streikenden Nachrichtenmacher samt Sympathisanten in Prag zu dem vertrauten freiheitlichen Weltbild ausgestaltet, in dem mit dem mangelnden Respekt gegenüber ihrer Profession letztlich der Staatszweck selbst auf dem Spiel steht. Der undemokratische Zugriff auf die Meinungs- und Willensbildung des Volkes durch das „Machtkartell“ soll nämlich per Privatfernsehen schon so weit voran gekommen sein, dass höchste Gefahr angesagt ist:

„…gelang es Nova durch ein westlich geprägtes Programm mit Sex und Crime das Publikum zu fesseln… An jedem Tag vermeldete Nova mindestens eine gute Nachricht über die ODS oder den Parlamentsvorsitzenden Klaus.“ (Karl von Schwarzenberg, ehemaliger Vorsteher der Präsidialkanzlei, Welt, 8.1.) „Doch dem Duopol (der Zusammengehörigkeit der beiden privaten Fernsehsender Nova und Prima) fehlt das ‚Öffentlich-rechtliche‘ für die vollkommene Macht.“ (Prager Zeitung, 26.1.)

Bei aller Verdrossenheit über Zeman, Klaus und deren „schmutzige Politik“, die dem Volk zugeschrieben wird – wenn das Publikum von Sex und Crime „gefesselt“ wird, scheint der geschickt darin verpackte Klaus unwiderstehlich zu sein. Mit dem Angriff auf das Öffentlich-Rechtliche geht es daher gewissermaßen um das letzte Dorf im besetzten Gallien, das letzte Stück unabhängiger Denkungsart, das den Usurpatoren von Meinungs- und damit Staatsmacht noch Widerstand leistet:

„‚Was ist das für ein öffentlich-rechtlicher Sender, der endgültig zur Marionette der großen Parteien gemacht werden soll?‘ sagt Daniela Drtinova, Redakteurin und im Krisenstab der Rebellen an vorderster Front. Drtinova bringt das Problem auf den Punkt: Anders als in westlichen Demokratien sitzen im CT-Rat ausschließlich Vertreter der tschechischen Parteien, vorzugsweise der beiden großen. Beide Parteien haben nach den Wahlen 1998 durch einen so genannten Oppositionsvertrag die Machtpositionen im Staat unter sich aufgeteilt. Nur Ceska Televize fehlte bisher in diesem Mosaik. Der neue Generaldirektor Hodac, eng mit der ODS verbunden, sollte das ändern.“ (Die Presse, 3.1.)

Man hat es also mit einer Art Staatsstreich zu tun, und der richtet sich gegen die frisch erkämpfte Demokratie:

„…warnte das Notstandskomitee: ‚Die letzte unabhängige Fernsehanstalt ist in Gefahr, es geht um die Demokratie!‘“ (FAZ, 22.12.) „Die Qualitätszeitung ‚Dnes‘ beklagte, damit stehe man nach zehnjährigen Bemühungen um den Aufbau der Demokratie wieder an der Schwelle zu einer Bananenrepublik.“ (NZZ, 27.12.) „Die Demokratie, die einst Masaryk eingeführt hatte, die im Prager Frühling versucht und 19 Jahre später tatsächlich erkämpft wurde, sei binnen eines Jahrzehnts zu einem bloßen Machtkartell der Parteien verkommen, die sich um demokratische Mechanismen nicht mehr scheren, sagte ein Redner unter breiter Zustimmung der Menge.“ (Die Presse, 5.1.)

Das schlagendste Argument der Streikenden besteht schließlich darin, dass sie sich von den zur demokratischen Parteienkonkurrenz gehörigen Intrigen schwer an frühere Zeiten erinnert fühlen und die Errungenschaften der glorreichen Wende schon wieder bedroht sehen:

„Es ist wie damals… Ich war mal als Staatsfeind eingesperrt. Und bin es wieder. Absurd.“ (Jan Urban, Ex-Bürgerrechtler und Teilnehmer an der Aktion, Welt am Sonntag, 18.1.) „Sie sagen, dass ihr Unabhängigkeitskampf an die Tradition der samtenen Revolution anknüpft… Jan Urban, ein listiger Star der alten Tage, der sich aus nostalgischen Gründen ins Nachrichtenstudio eingeschmuggelt hat. ‚Es geht um dieselben Werte.‘“ (Economist, 6.1.) „Die von den Hodac-Leuten produzierten Nachrichten verschweigen den Appell des Parlaments, Hodac möge freiwillig zurücktreten. Daraufhin fühlte sich Kulturminister Dostal an die TV-Nachrichten aus der Zeit des realen Sozialismus erinnert: ‚Nur Lügen und Halbwahrheiten‘.“ (Die Presse, 8.1.)

Aus dem aparten Berufswahn der Öffentlichkeitsarbeiter, nach dem die Herrschaft von Diktaturen auf Verschleierung und Manipulation, „Lügen und Halbwahrheiten“ beruht, während eine Demokratie das Gegenteil praktiziert, aus diesem Glaubenssatz hat offenkundig auch schon ihre hauptsächliche Kommunismuskritik bestanden. Wider besseres Wissen im Übrigen: Dass das Staatsfernsehen das Sprachrohr der Partei war, ist keine besonders neuzeitliche Entdeckung; Witze über die amtliche Schönfärberei waren fester Bestandteil der Volksbelustigung, die Verschleierung war also nicht übermäßig effektiv, vielmehr als durchschauter Usus der Regierung belacht. Doch für eine demokratische Öffentlichkeit, und für deren Macher schon gleich, unterscheiden sich die politischen Systeme im wesentlichen darin, ob Journalisten ihre Direktiven von regierenden Politikern bekommen – wenn nicht, herrscht Freiheit, egal wer und was sonst noch alles herrscht. So kommt es dazu, dass eine personalpolitische Querele zwischen Parteien und Fernsehmachern allen Ernstes zum Freiheitskampf überhöht wird, bei dem fast der Systemwechsel noch einmal erkämpft werden muß. Demokratische Meinungsmacher messen eben die Qualität der Politik ganz an deren Umgang mit ihnen selbst: Wenn „Premier Milos Zeman öffentlich Journalisten beschimpft, sein Kollege Klaus dies dezenter, doch nicht minder aggressiv“ tut, dann kann es mit deren demokratischer Berechtigung zur Herrschaft nicht weit her sein, und das Gemeinwesen ist in Gefahr.

*

Im Prager Fernsehstreit geht es also durchaus um eine Machtfrage, wenn auch nicht gerade um eine vom Kaliber ‚Freiheit contra Sozialismus‘. Die Journalisten mit ihrer staatlichen Ermächtigung zur Willensbildung sind die Instanz, die in der Demokratie über Erfolg oder Mißerfolg von Politikerkarrieren mitentscheidet und an jeder x-beliebigen Materie dem Volk vordenkt, in der Hand welcher Partei das nationale Wohl am besten aufgehoben ist. Gerade deshalb geraten sie auch mit den Parteien über Kreuz, die ihrerseits an das von den Journalisten verwaltete Medium ihre Ansprüche knüpfen, den Journalisten Verfahrensregeln im Sinne ihrer PR-Wünsche vorschreiben möchten –

„Unter anderem wollte der Beirat den Journalisten untersagen, aktuelle Stellungnahmen von Politikern mit ihren früheren Aussagen zum selben Thema zu vergleichen oder bei Politiker-Diskussionen den Gesprächsverlauf zu steuern.“ (FAZ, 22.12.)

und am liebsten das Fernsehen gleich nur mit ihrer Gefolgschaft bestücken würden. Das ist also der wirkliche Gegenstand des Streits: die Macht, Politiker gut oder schlecht aussehen, sie mit unpassenden Zitaten aus der Rolle fallen zu lassen und bei Bedarf als prinzipienlose Machtmenschen und Wendehälse zu demaskieren; mit positiver oder negativer Hofberichterstattung Karrieren zu beeinflussen; zu entscheiden, wie, wie oft und ob überhaupt die konkurrierenden Herrschaftsfiguren im Fernsehen vorkommen; und so das Urteil der zusehenden Wähler zu instruieren. Der Streit, den und so wie ihn Journalisten und Politiker in Prag austragen, knüpft allerdings sehr frei an dieser wirklichen Funktion des Fernsehens an. Tatsächlich wird er von beiden Seiten mit dem demokratie-typischen Standpunkt geführt, wonach der Besitz des Kommunikations-Instruments auch schon dasselbe sein soll wie seine durchschlagende Wirkung. Dass die die Multiplikatoren von Meinungen über die entscheidenden Schalthebel der Macht gebieten, weil die Absicht, die politischen Meinungen des Volkes übers Fernsehen zu kontrollieren, mit dem Zugriff auf das Medium auch schon verwirklicht wäre: diese falsche Vorstellung von Öffentlichkeit ist es, die die Kontrahenten eint. Und weil sich die Journalisten über das Prinzip mit der Regierung so einig sind, streiten sie dermaßen erbittert darum, wem die Lizenz zum Gebrauch dieser Wunderwaffe legitimerweise zusteht.

Ein Machtkampf, der von den Kinderkrankheiten der tschechischen Demokratie zeugt

Hiesige Liebhaber der „4. Gewalt“, also vor allem deren Repräsentanten, tun anlässlich des Prager Fernsehkriegs ihre Zufriedenheit darüber kund, wie gelungen die Unabhängigkeit der Berichterstattung bei uns geregelt ist. Auch und gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Wer mit seiner freien Meinung beim Bayerischen Rundfunk nicht ankommt, kann sie statt dessen bei Radio Bremen unterbringen… Feste Grundlage dieser hohen Meinung von der Organisation der „4. Gewalt“ in der deutschen Demokratie ist also im Grunde nichts weiter als die schöne Errungenschaft, dass die hiesigen Staatsparteien die Institute der öffentlich-rechtlichen Meinungsbildung untereinander aufgeteilt haben und sich den Pluralismus wechselseitig genehmigen – Meinungen, die sich keiner etablierten, anerkannten Partei und öffentlichen Anstalt subsumieren lassen, sind auch nicht wert, bekannt gemacht zu werden. Auch unter dieser gedeihlichen Regelung fallen dann zwar noch genügend Querelen an, bei denen Politiker und Journalisten einander befehden und wechselseitig an ihren Karrieren herumsägen. Solche Animositäten wachsen sich aber nie zu einem regelrechten Aufruhr aus.

Dass eben dies in Tschechien geschieht, zeugt davon, dass man es dort – erstens – noch nicht zu einem solchen geregelten Proporz bei der Bestellung von Hofberichterstattern gebracht hat. Und das hat seinen Grund: So ein feiner Proporz ist schwerlich zu haben, solange sich – zweitens – die Parteien in einer Art und Weise bekriegen, die auf den Untergang der Konkurrenz abzielt. Das berüchtigte „Machtkartell“ hat sich schließlich deshalb zu einem solchen zusammengeschlossen, um die Regierungslinie nicht von den wechselnden Kalkulationen verschiedener Kleinparteien abhängig zu machen, ihr vielmehr sichere Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu garantieren. Zudem hat es sich vorgenommen, den ebenso hohen demokratischen Wert eines stabilen Regierens – der nicht zuletzt auch aus Brüssel angemahnt wird – auch über die eigene Regierungszeit hinaus in der Staatsverfassung zu verankern: Vermittels eines neuen Wahlgesetzes soll der Einzug von kleinen Parteien ins Parlament erschwert und in der unübersichtlichen Parteienkonkurrenz mit ihren zahlreichen Spaltungen und Neugründungen aufgeräumt werden, damit nicht zuletzt der Wähler eine gewisse Orientierungshilfe erhält. Dabei denken die beiden großen Parteien verständlicherweise auch ein bißchen an sich selbst, nämlich an die bittere Erfahrung, dass auch große sehr schnell zu kleinen Parteien mutieren können, weil der vorfindliche, noch reichlich ungebildete Wählerwille dazu neigt, die „Transformationskosten“ zum Regierungsmalus umzumünzen, entsprechend erdrutschartig eine regierende Partei abzuwählen, eine Oppositionspartei in die Regierung hinein- und nach Ablauf ihrer Herrschaftsperiode wieder hinauszuwählen…

Mit diesen Bemühungen treffen Klaus und Zeman – drittens – auf den erbitterten Widerstand eines weiteren Staatsorgans, des Staatspräsidenten. Der reicht aus Sorge um die Pluralität (Die Presse, 27.1.) Klage gegen die Wahlrechtsnovelle ein, bezichtigt die beiden Parteien, mit gesetzlichen Mitteln das System konstitutionell garantierter Prinzipien zu unterhöhlen und der Demokratie ihre Basis zu stehlen (NZZ 26.1.), diskriminiert sie also regelrecht als Verfassungsfeinde und gewinnt dann auch noch das Verfahren. Die regierenden Parteien erklären umgekehrt die Amtsführung des Präsidenten zu einer permanenten Störung der nach allen demokratischen Regeln ihnen zustehenden Aufgabe unbehelligten Regierens und haben in ihrem Toleranzabkommen u.a. beschlossen, die Kompetenzen des Präsidenten zu beschneiden, damit der sich endlich einmal auf die ihm zustehende Aufgabe des Repräsentierens beschränkt. Der seinerseits bleibt dabei, die Zurückdrängung der Parteienmacht im Allgemeinen und des Parteienbündnisses im Besonderen allen Ernstes zu einer Überlebensfrage der tschechischen Demokratie zu erklären. Auf allen Ebenen – mit seinen wöchentlichen Reden an die Nation, mit der Besetzung von Posten und mit verfassungsrechtlichen Einwänden gegen Gesetzesvorlagen – geht er gegen die von ihm diagnostizierte Gefahr vor. Dabei weiß er das Staatsfernsehen als sein Instrument hinter sich. Folglich schlägt er sich im Streit zwischen Fernsehleuten und Machtkartell auf die Seite der Journalisten und setzt deren Protest mit der gesamten Autorität seines Amtes ins Recht:

„Havel sah zwar die Wahl des Intendanten als ‚konform mit dem Buchstaben des Gesetzes‘, sie ‚stehe jedoch im Widerspruch zu dessen Sinn und Geist‘. Die Lage sei sehr gefährlich, meinte der Präsident, und nannte als Analogie die Machtübernahme der Kommunisten in Tschechoslowakei im Februar 1948. Auch damals sei alles formell nach dem Gesetz abgelaufen, habe aber dem Geist der Verfassung widersprochen, das Resultat sei eine Jahrzehnte dauernde Diktatur gewesen.“ (NZZ, 28.12.)

Der Präsident weiß deshalb so genau zwischen Buchstaben und Geist der Gesetze zu unterscheiden, weil ihm unter dem Titel Demokratie das Ideal einer etwas umständlichen Form von Herrschaft vorschwebt:

„Havel hat aus seiner Ablehnung des ‚Parteienstaates‘ nie ein Hehl gemacht. Seiner Auffassung nach braucht die Verfassung einen starken Präsidenten, um die ‚Bürgergesellschaft‘ als kräftigen Puffer zwischen Staat und Individuum zu festigen und gegen die Arroganz der Parteien zu stärken.“ (FAZ, 4.12.)

Seiner Meinung nach braucht das „Individuum“ zwar unbedingt einen Staat, muss aber zugleich gegen die „Arroganz“ von dessen Machern geschützt werden, so dass so etwas wie eine dritte Ebene ins Staatsgebäude eingezogen werden muß, die „Bürgergesellschaft“ als „Puffer“. Und solange diese noch nicht so recht etabliert ist, nimmt er vorläufig als oberster Repräsentant des Staats deren Funktion wahr. Einfacher gesagt: Der Präsident traut den regierenden Parteien die ordentliche und vertrauensstiftende Organisation des staatlichen Innenlebens nicht zu. Er ist sogar der Auffassung, dass sie mit ihren Machenschaften die Einheit von Volk und Staat gefährden. In seiner Neujahrsrede macht er den eigentlichen Quell seiner Sorgen deutlich: Wenn man nicht höllisch aufpaßt, könnte das „Individuum“ glatt am Nutzen seines Staates zu zweifeln beginnen – so wie die Parteien diese Institution dastehen lassen. Da gibt es nämlich auf der einen Seite

„…die großen ‚Betrüger‘, die im Laufe von elf Jahren auf verschiedene Art und Weise Besitz in einer Größenordnung von vielleicht einigen hundert Milliarden Kronen gestohlen haben. Das ist ein schrecklicher Tribut für unsere Transformation, und es fragt sich, in welchem Maß dieser notwendig und in welchem Maß er überflüssig war. Hervorheben möchte ich jedoch etwas anderes: Diese gefährliche Gruppe der berühmtesten ‚Betrüger‘, falscher Unternehmer, Mafiosi, Gaukler im Bankwesen oder sogar Verbrecher, die die historisch einfach niedagewesene Situation, die die Privatisierung mit sich brachte, allein zu ihren Gunsten mißbrauchten, darf auf die genannten zwei Millionen unternehmerischer Subjekte, auf die Mehrheit also, kein schlechtes Licht werfen.“

Auf der anderen Seite steht

„die große Mehrheit… diese Menschen waren und sind nicht auf Rosen gebettet: Mancher hat ihnen erklärt, dass sie lernen müssen, mehr zu arbeiten, dass man den Gürtel enger schnallen muss und sich nicht wundern darf, wenn man zufällig arbeitslos wird. Ich meine, dass die große Mehrheit das begriff und ihre Mühsal tapfer ertrug, sogar auch dann, wenn sie die Gürtel, wie sich später herausstellte, im Interesse irgendwelcher Konten in Steuerparadiesen enger schnallten, jener Konten, die auf Kosten einer sinnvollen Unternehmensentwicklung und einer verantwortlichen Suche nach dem Markt für ihre Erzeugnisse gegründet wurden. Ohne guten Willen, Verständnis für die Sorgen des Landes und Geduld, also wieder ohne ein bestimmtes moralisches Bewußtsein, würden diese Menschen wohl stärker aufbegehren.“ (Prager Zeitung, 4.1.)

Es ist diese Sorge, ob der Staat nicht Schaden nimmt, die Havel dazu bewegt, ausgerechnet die regierenden Parteien zur Gefährdung der Demokratie zu erklären: Nicht nur, dass das sinnreiche Verhältnis von arm und reich schwer verständliche Sinnfragen aufwirft, wenn sich der Reichtum in Steuerparadiese absetzt – mit dem üblen Geruch, den ihre Privatisierungsarbeit verbreitet, beschädigen die Parteipolitiker das Kostbarste, was die Macht in Tschechien hat, die Glaubwürdigkeit der Wende, und setzen am Ende den Gehorsam der Massen aufs Spiel.

*

Das Volk dankt seinem Präsidenten dessen Fürsorge. Wie immer gerne bereit, sich von seiner Obrigkeit betrogen zu fühlen, wenn ihm die Segnungen von Marktwirtschaft und Demokratie präsentiert werden, stellt es sich zu hunderttausend auf den Wenzelsplatz und ruft wieder nach Freiheit. Dieses Mal nach der Freiheit, sich seine Meinung von garantiert nicht parteilich manipulierten Journalisten nicht manipulieren, sondern bilden lassen zu dürfen.