Die ökonomischen und politischen Beziehungen Europas zu Russland
Euro-Imperialisten auf dem langen Marsch nach Moskau

In Russland betreibt mittlerweile eine politisch zurechnungsfähige Regierung die Wiederherstellung einer durchgreifenden Zentralgewalt und den Neuaufbau einer nationalen Ökonomie. Und im „Westen“ wird immer klarer, was Europas führende Imperialisten, federführend hier die Deutschen, von dem neuen Russland eigentlich wollen.

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Die ökonomischen und politischen Beziehungen Europas zu Russland
Euro-Imperialisten auf dem langen Marsch nach Moskau

Nach der Auflösung des Sowjet-„Imperiums“, und nachdem Russland selbst nicht mehr „sowjetisch besetzt“ ist, hat sich „der Westen“ auf breiter Front auf die Erbmasse gestürzt: mit Bedenken, ob das alles wirklich wahr sein kann, die Selbst-Liquidierung des großen Hauptfeindes tatsächlich so gemeint und definitiv unumkehrbar ist; mit Ratschlägen, Forderungen, Belehrungen darüber, wie der befreite Osten seine errungene Freiheit richtig zu gebrauchen hat, marktwirtschaftlich und demokratisch; und natürlich mit seinen geballten Machtmitteln: Geschäftsbeziehungen, Kredit, Militärmanövern, der Okkupation von Stützpunkten in Zentralasien und am Kaukasus, eigenen Kreaturen in Führungspositionen auf jeder Ebene…

In Russland betreibt mittlerweile eine politisch zurechnungsfähige Regierung die Wiederherstellung einer durchgreifenden Zentralgewalt und den Neuaufbau einer nationalen Ökonomie. Und im „Westen“ wird immer klarer, was Europas führende Imperialisten, federführend hier die Deutschen, von dem neuen Russland eigentlich wollen.

  • In seiner Eigenschaft als Mitspieler auf dem Weltmarkt gilt Russland ihnen in erster Linie als äußerst interessante Schatztruhe für Westeuropas Öl-, Erdgas- und sonstigen Rohstoff-Bedarf, mit besten Voraussetzungen und der politischen Bereitschaft, zum Lieferanten in einer großen ‚strategischen‘ Energie-Partnerschaft zu werden.
  • Mit seinen ‚maroden‘ Restbeständen an realsozialistischen Produktionsmitteln ist Russland in gewissen Sektoren einerseits eine äußerst interessante Kapitalanlagesphäre, andererseits ein potenzieller Konkurrent, auf den man aufpassen muss.
  • Mit seinen Restbeständen an realsozialistischer Militärmacht und mit deren Einsatz zur Selbstbehauptung und auch zur grenzüberschreitenden Bestandssicherung ist Russland auch für seine westeuropäischen Freunde noch immer zu mächtig, deswegen mit seiner inneren Verfassung ein Kontrollproblem – Stichworte: Demokratie und Menschenrechte –, in seinen Außenverhältnissen zu beschränken und zurückzudrängen. Einerseits.
  • In seiner Eigenschaft als Ex-Weltmacht mit Atomwaffen, einem „Hinterhof“ mehr oder weniger abhängiger Randstaaten und Ambitionen auf respektierte Mitsprache in den großen Fragen von Krieg und Frieden ist Russland für den deutsch-französischen Euro-Imperialismus andererseits ein zwar problematischer, vor allem aber sehr vielversprechender Partner im Ringen um das, was die führenden Gestalten verharmlosend „multipolare Weltordnung“ nennen.

In jedem Stück deutsch-europäischer Russland-Politik sind, in unterschiedlicher Kombination, alle diese Zugriffs-Interessen am Werk; einschließlich ihrer Widersprüche.

I. Das „beiderseits vorteilhafte“ Geschäft mit Energie

Mit dem Schwenk Russlands zur einzig menschenwürdigen Wirtschaftsweise hat der kapitalistisch schon weiter fortgeschrittene ‚Westen‘ sich herausgefordert und eingeladen gesehen, die ökonomischen Potenzen des einstigen strategischen Widersachers als Bereicherungsquelle für sich zu inspizieren. Die Interessenten aus dem Reich der freien Konkurrenz haben nicht lange gebraucht, um den nationalen Produktionsapparat insgesamt für untauglich für ihre Zwecke zu befinden – mit einer ganz großen Ausnahme: Für konkurrenzlos günstig haben sie die ausbeutbaren Energiequellen des Landes befunden.

Russland und die „Sicherheit der Energieversorgung Europas“: Historischer Glücksfall für ein euro-imperialistisches Projekt

Die Versorgung ihrer kapitalistischen Standorte mit Energie, einer elementaren Voraussetzung des Wachstums, von dem sie leben,[1] ist eine Aufgabe, bei deren Erledigung die europäischen Nationalstaaten, die EU als Organisator und eine an ihrem Profit interessierte Energieindustrie zusammenwirken. Weil die Staatschefs für den Gesamtstandort Europa Versorgungsqualität auf höchstem Niveau haben wollen, also eine Energiewirtschaft, die in puncto Sicherheit und Versorgungskontinuität zuverlässig … und wettbewerbsfähig ist, d.h. für Haushalte und Unternehmen effiziente Dienstleistungen erbringt und so einen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft … leistet (EU-Kommission, IP/03/1694), haben sie ihren Gemeinsamen Markt unter dem Titel Marktliberalisierung auch auf diese Sphäre ausgedehnt. Sie privatisieren ihre Energiewirtschaft, wandeln die bestehenden staatlichen Versorgungsbetriebe in privat wirtschaftende Großunternehmen um, setzen diese der europäischen Konkurrenz aus und geben ihnen auf diesem Wege die Gelegenheit, sich ganz Europa als ihr erweitertes Geschäftsfeld zu erschließen. Für den Zweck werden unter politischer Aufsicht und mit staatlichen Geldern Konzerne zusammenfusioniert, die in Konkurrenz gegeneinander und über die nationalen Grenzen in und außerhalb der EU hinweg an der vorrangigen Aufgabe, Europas Standorte in stets ausreichender Menge und zu günstigen Preisen mit Energie zu versorgen, verdienen und über ihre Verdienste größer werden sollen. So soll die von Europas Energiepolitikern angepeilte Gleichung von ‚zuverlässig‘ und ‚wettbewerbsfähig‘ in Bezug auf die Belieferung der Standorte mit Energie wahrgemacht werden: über das Geschäft, das zu ‚global player‘ fusionierte Großkonzerne mit Öl, Gas und Strom machen; „Energieriesen“ sollen heranwachsen, zu deren Pflichten nicht nur Profite gehören:

„Eon wurde … die Übernahme des deutschen Gasspezialisten Ruhrgas nur unter harten Auflagen genehmigt: Eon musste sich verpflichten, nicht nur mit dem Rohstoff zu handeln… Bis zu 8 Milliarden Euro sollte der Konzern auch in die Förderung oder Erschließung neuer Rohstoffquellen investieren, um somit einen Beitrag zur Versorgungssicherheit in Deutschland zu leisten.“ (Spiegel 29/04)

Die Versorgung, die die EU-Staaten sicherstellen wollen, beruht allerdings ganz wesentlich auf Importenergie, auf Erdöl und Erdgas aus Quellen jenseits der Grenzen der Union; in Ländern, die von den engagierten Multis nicht frei als Kapitalstandorte begutachtet, benutzt und wieder abgetan werden können, sondern dank einer Laune der Natur ein Monopol auf den kapitalistisch besonders wertvollen, weil unschlagbar billigen Treibstoff der Weltwirtschaft besitzen. Europas verantwortliche Energiepolitiker haben es mit einer begrenzten Zahl von Staaten zu tun, die sie zuverlässig in ihr Versorgungsprogramm einbinden müssen. Es langt nicht, auswärtigen Herrschaften für gutes Geld ihre Bodenschätze abzukaufen: Den Souveränen, die auf den fürs globale Wachstum unentbehrlichen Lagerstätten hocken, muss praktisch klargemacht werden, dass sie politisch zur Bedienung europäischer Bedürfnisse keine Alternative haben. Nur die Kontrollmacht über fremde Staatsgewalten schafft ‚Versorgungssicherheit‘ in dem Sinn, dass Europas kapitalistische Nationen wirklich Herr über eine ihrer unverzichtbaren materiellen Lebensbedingungen sind.

Was die Sache schwierig macht, ist nur einerseits die Autonomie der Lieferländer, die ihrerseits letztlich ja doch nicht viel anderes wollen als eine zuverlässig zahlungskräftige Kundschaft. Das übergeordnete Problem ist die Weltmacht USA, die in der gleichen Angelegenheit schon längst unterwegs ist; und das gleich mit dem denkbar höchsten Anspruch, nicht bloß den eigenen Bedarf zu sichern, sondern die Energieversorgung der ganzen kapitalistischen Welt unter ihre oberhoheitliche Kontrolle zu bringen – wie es sich gehört für die kapitalistische Weltmacht, die den ganzen Globus als ihr Geschäftsfeld mit Beschlag belegt und am Wirtschaftswachstum aller kapitalistischen Nationen maßgeblich beteiligt sein will. Entsprechend viel tut Amerika dafür, nicht zuletzt mit seiner geballten militärischen Macht, um ganz speziell die Öllieferanten der Weltwirtschaft politisch unter seine Kontrolle zu bringen. Das deckt sich in vielen Punkten durchaus mit dem Kontrollbedarf der EU; und generell ist der Standpunkt überhaupt der gleiche: Die Europäer sind wie die Amerikaner an einem funktionierenden Weltgeschäft im Allgemeinen und im Besonderen daran interessiert, dass die von ihnen mit hochgezogenen Energie-Multis weltweit und multilateral erfolgreich tätig sind und an ihren Lagerstätten politische Bedingungen vorfinden, die es ihnen gestatten, ‚Versorgungssicherheit‘ zu stiften – vorrangig, aber keineswegs nur in Europa. Ein insoweit deckungsgleicher Kontrollbedarf gegen „Dritte“ ändert aber gar nichts an dem prinzipiellen Konkurrenzverhältnis zwischen den Subjekten dieses Bedarfs und der dafür aufzuwendenden Kontrollmacht; im Gegenteil: EU wie USA wollen in der Lage sein, die Erfüllung ihres wahrhaft vitalen Bedürfnisses nach gesicherter Treibstoffversorgung ihres nationalen wie des internationalen Kapitalismus selber, aus eigener Kraft zu garantieren; beide Seiten sind mit weniger als der von ihnen ausgeübten oberhoheitlichen Aufsicht über die wichtigen Energie-Exporteure der Welt nicht zufrieden. Was beide Parteien also unbedingt anstreben, das praktiziert freilich die amerikanische bereits in imperialistisch vorbildlicher, Maßstäbe setzender Manier mit weit überlegenen Mitteln. Mit Krieg in der Golfregion erbeuten die USA nicht einfach ein paar orientalische Ölvorräte, sondern betätigen und beweisen sich als unwiderstehlich zuschlagende „Supermacht“, die fremden Souveränen bei Bedarf tatsächlich kaum eine Chance lässt, sich ihrer Kontrolle zu entziehen.

Das hat für Amerikas europäische Konkurrenten harte Konsequenzen. Wo immer die USA es darauf anlegen, sind die EU-Mächte als alternative Kontrollinstanzen ausgemischt; und diese peinliche Lage wird keineswegs dadurch besser, dass Amerika seine Partner nach seinen Vorgaben mitmachen und allenfalls auch am Kontrollregime über wichtige Weltgegenden teilhaben lässt; das ist nicht erst seit dem jüngsten Feldzug gegen das irakische „Schurkenregime“ klar. Dieser Krieg hat zudem einmal mehr nicht bloß demonstriert, wie hoch die Messlatte für die Entfaltung wirksamer strategischer Kontrollmacht in der heutigen Staatenwelt liegt; mit ihm haben die USA diese Messlatte selber sehr hoch gelegt, kaum bis gar nicht erreichbar für europäische Imperialisten. Umso wichtiger ist es für die, unterhalb dieses höchsten Niveaus strategischer Sicherheit ein Maximum an eigenständiger Kontrolle und autonomer Verfügungsmacht über die eigenen politökonomischen Existenzbedingungen, darunter sehr weit vorne das kapitalistische Grundnahrungsmittel Energie, zu gewinnen. Aus diesem strategischen Bedürfnis heraus haben sie das Projekt einer „breiten Diversifizierung der Energieversorgung“ entwickelt: Einen noch lange nicht hinreichenden, aber ganz wichtigen ersten, nach Lage der imperialistischen Dinge absolut unerlässlichen Zuwachs an ‚Versorgungssicherheit‘ versprechen sie sich von der Doppelstrategie eines „Energie-Mix“ im Innern ihres Binnenmarkts und einer Wirtschaftspolitik nach außen, die sich an so etwas wie einem Zugriffs-Mix versucht und das Ziel verfolgt, den eigenen großen ‚Energieversorgern‘ in möglichst vielen Lieferstaaten einen möglichst freien geschäftsmäßigen Zugriff auf deren Öl- und Gasvorkommen zu sichern.

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In der Konkurrenz um die Verfügung über auswärtige Energiequellen stellt das zu Marktwirtschaft und Demokratie konvertierte Russland für Europa und ganz speziell für Deutschland einen historischen Glücksfall dar. Kaum formulieren Europas Energieplaner ihr imperialistisches Projekt und fassen die Strategien ins Auge, die sich einer Wirtschaftsmacht EU bei der Sicherstellung ihres Energiebedarfs auf einem von den USA dominierten Welt-Energiemarkt anbieten, tut sich ihnen unmittelbar vor der eigenen Haustür eine ganz neue, schier unerschöpfliche und vor allem: zwar technisch, kapitalistisch aber überhaupt noch nicht erschlossene, durch sie und daher auch unmittelbar für sie zu erschließende ‚Energiequelle‘ auf. In Reichweite ihres Zugriffs gelangen dabei nicht nur die russischen Öl- und Gasvorkommen: Westliche Investoren finden dort auch die komplette Infrastruktur vor, mit der die Industrie- und Weltmacht Sowjetunion ihr riesiges Territorium bis in den letzten Winkel hinein reichlich mit Energie zu versorgen wusste. Und was dieses Angebot überhaupt erst zu einer einzigen Bonanza für Europas politische wie kommerzielle Agenten des Energiegeschäfts macht, ist der Umstand, dass sie von der Führung des Landes, die einfach alles für dessen Erschließung durch das in Sachen ‚Effizienz‘ kompetente kapitalistische Ausland tut, ausdrücklich zur Bedienung an den stofflichen Reichtümern und Produktivkräften Russlands gebeten werden. Entsprechend legen sie dann auch los. Von einheimischen Oligarchen, die sich russische Reichtumsquellen unter den Nagel reißen, verschaffen sie sich Lizenzen für ihren Zugriff auf Öl und Gas; Hand in Hand mit denen plündern sie, wo es sich für sie lohnt, Produktionsstätten bis zum Ruin aus, lassen andere dafür brachliegen; grundsätzlich fließen die Erträge, die da in großem Stil erwirtschaftet werden, am russischen Staat vorbei und ins westliche Ausland ab, usw. – und dass diese Sorte Enteignung einer Nation in dem imperialistischen Zugriffswesen, das da unter dem netten Titel ‚Versorgungssicherheit für Europa‘ unterwegs ist, genau so vorgesehen ist, stellen Vertreter der europäischen Allianz von Politik und Kommerz dann auch noch klar: Für einen unerträglichen Rückfall in die sowjetische Kommandowirtschaft befindet man so gut wie alles, was auch nur irgendwie dem freien geschäftsmäßigen Zugriff europäischer Konzerne oder Finanziers auf russisches Öl und Gas im Wege zu stehen droht. Statt sich mit derlei marktwidrigen Eingriffen im Westen unbeliebt zu machen, soll sich der geschätzte Präsident Jelzin nach ihrem Dafürhalten besser um eine gescheite Marktliberalisierung in Russland verdient machen. Damit zum Beispiel, dass auch das russische Transportnetz zur freien Verfügungsmasse für Europas Konzerne wird und ein Konzern wie Gazprom zerschlagen wird, weil nur so das Interesse der frisch geschmiedeten Energiemultis zum Zuge kommt, vom Prospektieren und Fördern bis zum Transport und Verkauf möglichst alle Abteilungen des Energiegeschäfts frei nach den Regeln kalkulieren und bewirtschaften zu können, die eine rentable Vermehrung ihres Eigentums gebieten. Aber auch wenn unser Freund Boris für den Geschmack europäischer Imperialisten bei der ‚Privatisierung‘ ein ums andere Mal einfach nicht konsequent marktwirtschaftlich genug ist: Erfolgreich machen sich Europas Banken und Energiekonzerne zusammen mit frischgebackenen russischen Bisnismen sowie mit und in Konkurrenz zu altbekannten US-Multis über die lukrativen Teile des russischen Energiesektors her und setzen mit Firmenbeteiligungen, mit Investitionen in die russische Infrastruktur, mit dem Erwerb von Rechten auf den Ausbau vorhandener und die Erschließung neuer Energiequellen usw. ein Stück weit die Funktionalisierung Russlands für Europas Energiewirtschaft ins Werk.

Die russisch-europäisch-deutsche „Energieallianz“: Grundsätzliches Einvernehmen und unvermeidliche Streitigkeiten zwischen Partnern

Mit ihrer Art einer kapitalistischen Erschließung Russlands treiben es die westlichen Konzerne – Hand in Hand mit ihren politischen Wegbereitern – in der „wilden Jelzin-Ära“ ziemlich weit. Viel zu weit jedenfalls für Russlands neuen Präsidenten Putin: In dieser Weise an der russischen Nation vorbei darf das internationalisierte Energiegeschäft auf keinen Fall mehr gehen, und er sorgt mit der Macht, über die er gebietet, auch praktisch dafür, dass aus russischem Energiereichtum eine Geldquelle für den Staat und die Grundlage einer russischen Energiemacht wird. Er macht Ernst mit den Gesetzen zur Besteuerung des in Russland verdienten Einkommens und kommandiert seinen Rechtsapparat zur Vollstreckung der Steuerpflicht auch gegenüber seinen Bürgern, die im Energiegeschäft mächtig verdienen. Damit die von seinen Geschäftsleuten im Verkehr mit dem Ausland aufgeschatzten Devisen-Vermögen zu einem international anerkannten Reichtum auch des russischen Staates führen, werden deren Besitzer mit einer Umtauschpflicht gegen Rubel praktisch daran erinnert, dass ihr geschäftliches Engagement auch in Russland eine nationaldienliche Angelegenheit ist und ab sofort zu sein hat. Und wo dem Staat in seinem Bemühen, das internationalisierte Energiegeschäft zur Quelle seiner Bereicherung und im selben Zug Russlands Energiewirtschaft zum Nukleus einer kapitalistischen Akkumulation im Land zu machen, machtvoller Widerstand erwächst, entschließt er sich mit seiner Gewalt zur exemplarischen Durchsetzung und Klärung der Eigentumsfrage in Bezug auf die Verfügung über russische Rohstoffe: Er stellt im ‚Fall Yukos‘[2] praktisch klar, dass er keinesfalls bereit ist, eine beträchtliche Öl- und Geldquelle der nationalen Kontrolle entgleiten und den größten Ölkonzern des Landes in ausländische Hände übergehen zu lassen. So kritisiert Putin praktisch die politische Degradierung seiner Nation auf den Status eines bloßen Öllieferlandes, zu der die westliche Prospektion während der „Jelzin-Ära“ zielstrebig geführt hat, und genauso die mit dieser einhergehende ökonomische Perspektive für Russland: die Abhängigkeit der gewichtigsten Posten der eigenen Nationalökonomie wie aller Staatseinnahmen von den Zufälligkeiten des internationalen Ölgeschäfts. Wenn Europa schon so sehr an Russland als Energiequelle interessiert ist, dann haben die geschäftlichen Beziehungen, mit denen es seine Versorgung sichert, für den Chef im Kreml auch Sicherheiten für Russland zu gewährleisten: Aus dem grenzübergreifenden Handel mit russischen Rohstoffen wie aus dem Engagement europäischen Kapitals in Russland hat nach dem Willen Putins für Russland ein Geschäft zu werden und der Nation – erst einmal in diesem Sektor – das kapitalistische Wachstum zu bescheren, an dem es ihr mangelt. In den so organisierten Energiesektor mit Kapital einzusteigen, mit Kapital in Form von Kredit genauso wie in Gestalt von High-Tech-Produktivkräften, über die Russland gleichfalls nicht in gewünschtem Maß verfügt: Das ist das Angebot an Europas Staaten, Energiekonzerne und Banken. Wo Investoren die übergeordnete Zweckbestimmung respektieren, für eine kapitalistische Erschließung des russischen Energiesektors zu sorgen, die dem Staat darüber den ersten gewichtigen Posten einer kapitalisierten russischen Nationalökonomie sichert, sind sie höchst willkommen – und auf dieser Geschäftsgrundlage bietet Putin Europa und speziell Deutschland dann eine strategische Energieallianz an: Eine Zusammenarbeit zwischen zwei einander gleichberechtigten und gleichgestellten Partnern zu beiderseitigem Vorteil, die vom Handel mit den Rohstoffen über die Investitionspolitik bis hin zur politischen Garantie einer verlässlichen Versorgung auch in Krisenzeiten alle Ebenen des Energiegeschäfts umfasst.

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Europas erste Antwort auf dieses Angebot fällt bezeichnend aus. Kommerzielle wie politische Agenten der imperialistischen Allianz, die in Russland zur „Sicherung der europäischen Energieversorgung“ unterwegs ist, entdecken in Putins neu eröffneten Geschäftsgrundlagen für ein russisch-europäisches Energiegeschäft unmittelbar den von ihnen schon bei Jelzin monierten Rückfall ins sowjetische Kommandowesen. Wo sie so weit nicht gehen wollen, stoßen sie sich zumindest an für sie nicht hinnehmbaren Restriktionen – des freien Zugriffs auf russische Energieträger nämlich, von dem sie als ihrer Geschäftsvoraussetzung einfach ausgehen. Und grundsätzlich kein Verständnis hat man hierzulande für die von Putin angegangene Restaurierung einer russischen Nationalökonomie und für die Konsolidierung einer russischen Staatsmacht. Das war bei der Entdeckung Russlands als Quelle der eigenen Energieversorgung und bei der Anbahnung der zweckdienlichen Geschäftsbeziehungen keineswegs im Programm – vor allem deswegen nicht, weil der sich dem Untergang der Sowjetmacht unmittelbar anschließende ökonomische wie politische Verfall des Nachfolgerstaats für Europa die Perspektive verhieß, in der Konkurrenz um Macht und Einfluss auf dem Globus auf überaus bequeme Weise einen gewichtigen Gegenspieler loszuwerden. Auf der anderen Seite aber vermag man dem sich unangenehm bemerkbar machenden russischen Herrschaftswillen schon auch etwas Positives für das eigene Anliegen zu entnehmen: Ein kaputter Staat ist auch für westliche Investoren unbrauchbar. Es gab während der Regentschaft Jelzins auch für sie Anlass genug, über ‚mangelnde Rechtssicherheit‘ zu klagen.

Daher findet man am neuen Kurs des Chefs im Kreml auch Geschmack an dem Umstand, dass sich die Staatsmacht da auf ihre Weise ja um dauerhafte Solidität in den Geschäftsbeziehungen mit einem für Europas Energieversorgung sehr gewichtigen und auf lange Zukunft fest verplanten Posten verdient macht, zum Beispiel für Steuergesetze sorgt, mit denen sich kalkulieren lässt. Das ist für Leute, die in Russland endlich ohne ‚mafiose Strukturen‘ Geschäft machen wollen, von Gewicht, also erweist man Putin den verlangten Respekt eines Partners in einer Allianz und steigt mit ihm in einen Energiedialog ein. Man setzt darauf, sich schon auch in dieser Partnerschaft Russland in der Rolle einer funktionellen Rohstoffquelle erhalten zu können, und diese dann doch nicht so harmonische Interessenskonstellation bestimmt die Agenda des bilateralen Diskurswesens: Auf allen Ebenen werden die energiewirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Partnern der Allianz Angelegenheiten eines Streits über die Definition des stofflich-substanziellen Inhalts der gemeinsamen Sache, die man betreiben will, näher darüber, welche Rechte den beiden Partnern bei ihrer gemeinschaftlichen Bewirtschaftung eines euro-asiatischen Energie-Binnenmarktes jeweils zustehen. In welchem Maß sich deutsche Banken und Energiekonzerne wie Eon und RWE in russische Unternehmen einkaufen dürfen, welche Rechte ihnen aus ihrem Engagement erwachsen, auf welche Geschäftsfelder des Energiesektors diese sich erstrecken, wozu also die private Geldmacht auswärtiger Kapitalisten allenfalls ermächtigt werden darf, worauf umgekehrt sie in jedem Fall verpflichtet werden muss usw.: All dies ist Gegenstand von Verhandlungen zwischen der russischen Seite, die bei der Eröffnung von Zugriffsrechten fürs Ausland den Nutzen für ihr nationales Aufbauprojekt im Auge hat, und Europas Konzernen, die allein nach Maßgabe ihrer Kalkulationen so frei auf möglichst alle Abteilungen von Russlands Energiesektor zugreifen möchten, wie sie es wollen. Wo man sich einigt, darf dann mit der BASF-Tochter Wintershall – wie in Zeitungen hier vermeldet wird: erstmals! – ein ausländisches Unternehmen in Russland Gas fördern und können andere Großunternehmen Anteile am russischen Monopolisten Gazprom erwerben; im Gegenzug verschafft sich Russland darüber neue Investitionen in Sibirien und erhält über neue, gemeinsame Vertriebs- und Kraftwerksgesellschaften in Deutschland und Großbritannien Zugang zum europäischen Markt. Im Wege der Kapitalverflechtung ihrer Großkonzerne stiften beide Seiten gemeinsame Betreuungsobjekte ihrer strategischen Partnerschaft, insbesondere Deutschland treibt mit Russland Europas sichere Energieversorgung voran: Zur Einsparung von Transitgebühren und zur Vermeidung etwaiger politischer Erpressungsversuche durch die NATO- und EU-Partner in der unmittelbaren östlichen Nachbarschaft Deutschlands einen Leitungsstrang an deren Hoheitsgebieten vorbei zu bauen, ist im Fall der in Angriff genommenen Ostsee-Gaspipeline das Interesse Russlands. Deutschland wiederum geht es um den Vorteil einer eigenen nationalen Direktverbindung mit dem russischen Gasleitungsnetz und um die Verfügung über einen eigenen Terminal zur Weiterleitung des Stoffes – und beiden Seiten ist ihr je eigenes Interesse an diesem weiteren Schritt zur ‚Vertiefung der Partnerschaft‘ wichtig genug, sich von ernsthaften Verstimmungen ihres gemeinschaftlich ausgegrenzten gemeinsamen Nachbarn Polen überhaupt nicht beeindrucken zu lassen.

Die Strategien in Europas „strategischer Energiepartnerschaft“ mit Russland

Kanzler Schröder hat ganz recht, wenn er zum deutsch-russischen Energiewirtschaftswesen vermerkt: Von strategischer Partnerschaft rede ich nicht nur wegen der Gasversorgung. Das wäre wirklich zu kurz gegriffen. (SZ-Interview, 2.10.04) Es ist schon auch der besondere politisch-strategische Gebrauchswert dieser Versorgung, der die Geschäftsbeziehungen mit Russland für ihn so wichtig macht. Mit Deutschland an der Spitze sucht sich Europa immerhin die Mitverfügung über ein Segment des Weltenergiemarkts und –geschäfts zu verschaffen, das vom Mittelmeer bis nach China reicht und an seiner Südflanke die Einbeziehung prospektiver Großkunden wie Indien ermöglicht. Innerhalb dieses gigantischen euro-asiatischen Energiestandorts autonom auf verlässliche Energiequellen zugreifen und sich als Energiemacht eigenen Vermögens betätigen zu können, ist für Europa nicht nur geschäftlich lukrativ: Es verspricht, die EU auch von den eingangs erwähnten Unsicherheiten zu befreien, die mit der militanten Durchsetzung von Amerikas ‚neuer Weltordnung‘ am Golf und anderswo einhergehen. Und zur Herstellung wie zur Ausweitung seines autonomen Zugriffs verfolgt Europa dann in seiner Allianz mit dem Partner Russland Strategien, die das partnerschaftliche Verhältnis immer wieder einmal härteren Belastungen aussetzen. Denn Europas Interesse, die Staatenwelt seiner östlichen Hemisphäre in den Dienst an der Sicherung der eigenen Energieversorgung einzuspannen, erstreckt sich selbstverständlich auch auf Russlands Anrainer und Staaten der GUS. Sei es, weil in ihrem Boden Öl oder Gas vergraben ist, sei es, weil sie in der Rolle eines Transitlandes für deren Durchleitung von Ost nach West sorgen: Europas Griff nach den begehrten Stoffen mit dem Interesse, möglichst exklusiv über sie und die Leitungswege ihres Transports zu verfügen, mischt alle politischen wie wirtschaftlichen Beziehungen auf, die diese Staaten mit Russland pflegen. Unter Parolen wie Diversifizierung und Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer drängt man darauf, das russische Monopol bei der Gewinnung wie beim Transport der Energieträger zu brechen. Unbedingt am Allianz-Partner und seiner Gazprom vorbei – und das auch noch im Wettstreit gegen die Weltmacht und ihre vor Ort gleichfalls rührigen Multis – will man Staaten im GUS-Raum unter eigener Regie als Öl- und Gasquelle bewirtschaften können, bewegt zum gleichen Zweck andere dazu, sich beim Transit der Rohstoffe vermehrt nach Westen zu orientieren, also an Europas Interessen auszurichten – und im einen wie im anderen Fall zielen die Anträge an diese Staaten darauf, die politische und ökonomische Machtstellung zu zersetzen, die der Allianz-Partner Russland im GUS-Raum innehat, und statt dessen Europa als energiestrategische Machtgröße in der Region zu verankern. Sich in Konkurrenz gegen Russland wie gegen die USA in Kasachstan, Turkmenistan und sonst wo in der kaspischen Region das Verfügungsrecht über Gas und Öl sowie über die Routen zu erkämpfen, auf denen beides nach Europa oder sonst wohin gelangt: Anders als so fühlt Europa sich in seiner Energieversorgung einfach nicht sicher genug.

II. Spekulation auf einen Kapitalismus im Werden

Mit dem Beschluss zur kapitalistischen Bewirtschaftung des Landes hat die erste demokratisch legitimierte Präsidentschaft viel ruiniert, vor allem das Volk. Die neuen Eigentümer, denen sie die produktiven Potenzen der Nation, ihr industrielles und menschliches Inventar, zur privaten Bereicherung überantwortet hat, haben diese nur in einer sehr beschränkten Hinsicht produktiv gemacht – sie haben die nationale Industrie geplündert, viel davon brach gelegt und verrotten lassen. Dass von dem, was die untergegangene sozialistische Weltmacht an sachlicher Ausstattung ihrer Nationalökonomie hinterlassen hat, immer noch einiges vorhanden ist, verdankt sich den Subsistenzbemühungen von Betriebsführungen und ihrer Belegschaften, die die Produktion auch ohne Gewinn bzw. Lohnzahlungen irgendwie am Laufen gehalten haben; große Industrie- und landwirtschaftliche Kombinate, von denen ganze Regionen abhängen, haben auf diese Weise recht und schlecht überlebt. Der Atom- und Rüstungsindustrie, dem „High-Tech“-Sektor hat die Zentralgewalt den Fortbestand gesichert – gegen alle marktwirtschaftliche Vernunft, d.h. entgegen allen wohlmeinenden Ratschlägen aus dem westlichen Ausland, wo man das alles längst wegen fehlender Rentabilität abgeschrieben, für kapitalistisch wertlos und daher „marode“ erklärt hatte.

Russland stellt sich ökonomisch neu auf

Aus den schlechten Erfahrungen, die Russland mit der Einführung der Marktwirtschaft gemacht hat, hat der Nachfolger Jelzins gewisse „Lehren“ gezogen – vor allem die, dass die Kapitalisierung Russlands ein Projekt ist, bei dem der Staat gefordert ist. In seiner Wiederaufbaupolitik setzt auch er nachdrücklich auf Investitionen aus dem kapitalistisch erfolgreichen Ausland – auch die neue Führung ist der Überzeugung, dass der reiche Bestand an entwickelten Produktivkräften, über den Russland verfügt, in Kombination mit der Finanzkraft auswärtiger Konzerne, die das alles kapitalistisch nutzbar und zu Geldquellen macht, Russland den Aufstieg zu einer respektablen Weltwirtschaftsmacht bescheren wird. Sie hat sich nur zu der Einsicht vorgearbeitet, dass der russische Staat einiges tun muss, damit sich auswärtige Investoren auf seinem Standort engagieren – und damit ihr Engagement nicht nur sie, sondern auch Russland reicher macht.

In diesem Sinne nimmt die russische Regierung Abschied von den Illusionen der Jelzin-Ära. Präsident Putin gibt zu Protokoll, dass er begriffen hat, dass Kapitalismus eine Konkurrenzveranstaltung ist:

„Um uns herum sind Länder mit hoch entwickelten Ökonomien. Wir müssen dem Faktum ins Auge sehen, dass diese Länder Russland aus dem Weltmarkt herausdrängen, wenn sie dazu die Chance haben.“ (Botschaft an die Föderale Versammlung, 16.5.03)

Und er lässt auch keinen Zweifel daran, wie seine Einsicht zu verstehen ist: Er will dafür sorgen, dass Russland diese Herausforderung erfolgreich besteht. Seine Regierung restauriert das Kommando der Moskauer Zentralmacht über die Gesellschaft, über die Regionen, über die Ressourcen des Landes. Sie sorgt dafür, dass die wenigen wirklich ertragreichen Geschäfte – der Export von Öl und Gas und ein florierender Handel mit Rüstungsgütern – nicht der staatlichen Kontrolle entgleiten. Sie unterbindet die Praktiken, mit denen findige heimische Geschäftsleute im Verein mit ihren auswärtigen Partnern ihre Bereicherung am russischen Staat vorbei organisiert haben; verpflichtet sie dazu, das auswärts verdiente Geld gegen Rubel bei der Staatsbank abzuliefern und Steuern zu zahlen.

Aufgrund dieser Maßnahmen hat der russische Staat am Energiegeschäft kräftig mitverdient. Der Energiesektor boomt – nicht zuletzt wegen des für Russland glücklichen Umstands immer weiter steigender Weltmarktpreise für Energie – und erbringt einen gewaltigen Prozentsatz der russischen Wirtschaftsproduktion. 2003 entstammen 22% der russischen Wirtschaftsleistung und 30% der gesamten russischen Industrieproduktion diesem Sektor. Er beschert dem Staatshaushalt fast die Hälfte seiner Einkünfte und das Gros seiner Deviseneinnahmen; der Waffenhandel – die zweite veritable Geldquelle des russischen Staates – trägt seinen Teil dazu bei.

„Der Stabilisierungsfonds könne sich am Jahresende auf 1,5 Billionen Rubel (52 Milliarden Dollar) belaufen, wenn die Ölpreise über 60 Dollar pro Barrel liegen würden, meinen die Experten… Laut vorläufigen Angaben der Bank von Russland belief sich das Profizit der Handelsbilanz von Russland in den ersten neun Monaten von 2005 schon auf 93 Milliarden Dollar. Außerdem stiegen trotz der Tilgung der Auslandsschulden in Höhe von 19 Milliarden Dollar die Brutto-Devisenreserven der Zentralbank der Russischen Föderation von Januar bis September um mehr als 40 Milliarden Dollar an und erreichten Anfang Oktober 159,5 Milliarden Dollar.“ (RIA Nowosti: Die Weltbank ist in Bezug auf Russland eher optimistisch, 1.11.05)

Dieser Devisenreichtum hat Russland erst einmal aus einer Zwangslage befreit. Dem russischen Staat ist es gelungen, seine ökonomische Handlungsfähigkeit wieder herzustellen, die ihm unter Jelzin abhanden gekommen war. Russland hat sich erstens herausgewirtschaftet aus der „Schuldenfalle“. Es kann seine Schulden wieder bedienen; es zahlt sogar Schulden zurück und kauft sich so Stück um Stück aus einer Tributpflicht heraus, der das Land neulich nicht mehr gewachsen war. Russland hat zweitens seine Geldkrise überwunden. Der Rubel, dem die internationale Finanzwelt gleich zum Einstand in der Marktwirtschaft seine Untauglichkeit als Geschäftsmittel und damit Wertlosigkeit bescheinigt hat, ist in Kurs. Der russische Staat verfügt über ein eigenes Geld und damit über eine eigene Kreditmacht, mit der er seinen Standort bewirtschaftet. Drittens ist Russland in seinen Bemühungen um die Konsolidierung seines Staatshaushaltes vorangekommen. Es kann seinen Haushalt mittlerweile auf die Erträge seiner Rubelwirtschaft gründen. Für die westlichen Gläubigerbanken, die ihre Ansprüche bedient sehen, sowie die internationalen und europäischen Kreditagenturen, die dem russischen Staat insgesamt ein ordnungsgemäßes Rechnungswesen bescheinigen, ist Russland damit wieder kreditwürdig; es kann sich wieder verschulden; neuerdings sogar in seiner eigenen Währung. Und auch seine Konzerne können sich auf dem internationalen Finanzmarkt Geld beschaffen. Schließlich bürgt der russische Staat mit seinem Devisenschatz auch für ihren Kredit.

So freilich, war das Projekt „Marktwirtschaft in Russland“ nie gemeint, dass der natürliche Reichtum des Landes auswärts zu Geld gemacht wird, und das war’s dann im Wesentlichen. Vorgesehen war nach dem Willen der russischen Regierung vielmehr schon immer, dass die ganzen produktiven Potenzen des Landes – die Arbeitskraft seiner Bevölkerung, seine entwickelte industrielle Basis, sein wissenschaftlich-technologisches Know-How – möglichst vollständig und kapitalistisch effizient erschlossen werden. Demzufolge soll auch das Geldvermögen, das die Energieunternehmen an Land ziehen, zum Hebel für die Kapitalisierung des Landes werden. Doch in der Funktion gelangt es zum Leidwesen des russischen Präsidenten so recht nicht zum Einsatz:

„Weil die Exporteinnahmen keine effektive Anwendung in anderen Wirtschaftszweigen in Russland finden konnten, kommt im Ergebnis die Modernisierung unserer Wirtschaftsstruktur nicht voran, die Ausrichtung unserer Ökonomie auf Rohstoffe bleibt erhalten… Wir leben nach wie vor überwiegend von einer ‚Renten-‘ und nicht von einer Produktionswirtschaft… Womit wird das Geld hauptsächlich gemacht? Mit Öl, Gas, Metallen, mit anderen Rohstoffen. Die im Export erreichten zusätzlichen Einkünfte werden entweder ‚verfressen‘ oder sie nähren den Kapitalabfluss, oder sie werden im besten Fall wieder in denselben Rohstoffsektor investiert.“ (Putin, Botschaft zur Lage der Nation, zit. nach gazeta.ru, 4.4.2001)

Putin ist unzufrieden damit, dass die finanzstarken Konzerne den nationalen Dienst schuldig bleiben, den er von ihnen erfüllt sehen will: Statt in die russische Wirtschaft zu investieren und zu deren „Diversifizierung“ beizutragen, schaffen sie ihr Geld ins Ausland oder stecken es bestenfalls wieder in das lukrative Geschäft, in dem sie bereits engagiert sind. Worüber er sich der Sache nach beklagt, ist, dass sie kapitalistisch rechnen und ihr Geld dort anlegen, wo es sich für sie am meisten rentiert. Er leidet darunter, dass der Rentabilitätsvergleich, den sie anstellen, zuungunsten des russischen Standorts ausgeht. Und er will ihnen die Freiheit auch gar nicht nehmen. Nur sehr vorsichtig jedenfalls geht die russische Regierung unter ihm dazu über, die geldmächtigen Unternehmer im Land in ihrem Drang zu beschränken, ihr Geld ins Ausland zu schaffen und dort zu vermehren – sie will sich ja auch nicht als Schranke für die Ertragskraft der einzig funktionierenden Geldquellen ihres Staates betätigen. Der russische Staat sieht sich vielmehr dazu herausgefordert, seinen Standort so aufzumöbeln, dass er im internationalen Vergleich der Anlagesphären bestehen kann, und springt dafür mit seiner Finanzmacht und seinem Kredit ein:

  • Er nimmt die Gründung von Schlüsselindustrien in die Hand. Unter Einsatz von Staatskredit wird aus den aus Sowjetzeiten übrig gebliebenen und vor sich hin schrumpfenden Flugzeugbaubetrieben ein schlagkräftiger „Vereinigter Flugzeugbau-Konzern“ zusammengeschmiedet, der international mitmischen soll. Eine nationale Raumfahrtagentur sammelt die Erträge aus der Vermietung russischer Raketen für die Beförderung von Satelliten ins All ein und sorgt dafür, dass sie zusammen mit staatlichen Geldern zur Finanzierung der einschlägigen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zur Verfügung stehen. In ähnlicher Weise kümmert sich eine nationale Agentur darum, dass das Geld, welches der einträgliche Waffenhandel einspielt, in die Rüstungsindustrie gesteckt wird, damit auch auf dem Feld neue Verkaufsschlager zustande kommen.
  • Der Staat finanziert Programme zur Modernisierung der Infrastruktur; die soll den Anforderungen des kapitalistischen Geschäfts an einen international konkurrenzfähigen Standort gerecht werden. Mit diesen Modernisierungsprogrammen wird „Geld in die Wirtschaft gepumpt“. Und weil der russische Staat sich auch die Ausstattung seines eigenen Gewaltapparates einiges kosten lässt – und er seine Rechnungen mittlerweile auch wieder bezahlen kann –, fließen der neu aufgestellten Flugzeugindustrie, dem Schiffsbau und den anderen High-Tech-Abteilungen seiner Wirtschaft vermehrt Aufträge und Geld zu.
  • Gleichzeitig muss er dem niedrigen Entwicklungsstand seines Standorts Rechnung tragen. Er muss z.B. dafür sorgen, dass die nationale Energieversorgung zu Preisen stattfindet, die seine Rubelwirtschaft auch verkraften kann. Auch so herum kümmert sich der russische Standorthüter um die Bedingungen des Geschäfts. So, wie der Standort verfasst ist, sieht eben auch die Standortpflege aus: Der russische Staat muss da immer noch sehr viel für die Erhaltung ökonomischer Grundlagen tun, weil der Grad ihrer geschäftlichen Benutzung so niedrig ist; auch die Versorgung des Volks ist in diesem Land Gegenstand staatlicher Sorge, weil es nicht gebraucht wird. Z.B. muss der Staat bei der Rentenkasse mit seinem Geld einspringen, weil die Einkommen, die das kapitalistische Geschäft in seiner Gesellschaft stiftet, die Finanzierung einer solchen Kasse einfach nicht hergeben.

Das alles lässt sich der russische Staat einiges kosten. Weil aber die Kapitalisierung des Landes nur mühsam vorankommt – aufschlussreich sind in dem Zusammenhang die Klagen über den nach wie vor hohen Grad der Dollarisierung der russischen Wirtschaft und die nur unzureichenden Fortschritte bei ihrer Diversifizierung –, hat die russische Regierung bei allen Anstrengungen, die sie zur Förderung und Entwicklung ihres Standorts unternimmt, ein ziemlich fundamentales Problem am Hals: Sie gefährdet mit ihnen ihre Erfolge bei der Konsolidierung des Staatshaushalts, die Solidität der Staatsfinanzen und den Geldwert der nationalen Währung. Aus Furcht vor einem Rückfall in die ihr noch sehr präsenten Zeiten der „Hyperinflation“, in denen das Geld plötzlich nichts mehr wert war, demobilisiert sie beträchtliche Teile des nationalen Geldvermögens; sie entzieht sie ihrem Gebrauch als Mittel der nationalen Standortpflege und weist ihnen als Schatz Garantiefunktionen zu. Der russische Staat schatzt nicht nur in enormem Umfang Devisen auf, um sich gegenüber der internationalen Finanz- und Geschäftswelt für die Geldqualität seiner nationalen Währung verbürgen zu können. Er zieht außerdem noch einen stattlichen Anteil der Exporterlöse seiner Energiekonzerne an sich, um sie in einem „Stabilisierungsfonds“ zu parken, dessen Mittel ausdrücklich nicht in den Staatshaushalt eingestellt werden – weil er weiß, wie wenig er sich auf diese seine einzige Geldquelle verlassen kann, und davon ausgeht, dass ein Preisverfall beim Öl die Haushaltsführung sofort vor unlösbare Probleme stellt. Beide Standpunkte – die staatliche Sorge um die Bewirtschaftung des Standorts und die Sorge ums Geld als der ersten Bedingung, mit der ein Standort steht und fällt – liegen in dieser Nation beständig im Konflikt. Ausgetragen wird der zurzeit als Streit zum Thema „Wohin mit dem Geld?“, in dem die eher wirtschaftspolitisch argumentierenden Beratern der Regierung darauf verweisen, dass der russische Staat nicht 30 oder 50 Mrd. Dollar ungenutzt herumliegen lassen kann, wenn er gleichzeitig noch sehr viel mehr Geld in die Kapitalisierung seines Landes stecken muss, damit die in Gang kommt, während die mehr geldpolitisch argumentierenden Berater der Regierung (darunter die wohlmeinenden aus dem Ausland) davor warnen, dass jede Verausgabung der aufgeschatzten und für Garantiefunktionen vorgesehenen Finanzmittel nur die Inflation schürt.

Das sind so die Grundlagen, auf denen die russische Regierung die dringliche Einladung ans kapitalistisch erfolgreiche Ausland erneuert, sich mit Investitionen in der russischen Wirtschaft zu engagieren. Denn zur erfolgreichen kapitalistischen Nation, zu der sie Russland machen will, mangelt es Russland selbstverständlich nach wie vor – an Kapital. Sie kann für sich allerdings in Anspruch nehmen, dass sie einen äußerst interessanten Fall von Kapitalmangel regiert. Mit dem Selbstbewusstsein einer Nation, die einiges zu bieten hat, ermuntert sie Europa nicht nur dazu, sich den russischen Wachstumsmarkt zu erschließen. Präsident Putin bietet den europäischen Führungsmächten Deutschland und Frankreich eine vollwertige Technologie- und Produktionsallianz an, appelliert unter Verweis auf die technologischen Fähigkeiten Russlands in Bereichen wie Luft- und Raumfahrt, Maschinenbau für die Energiewirtschaft, Schiffsbau und Optoelektronik an das wohlverstandene Eigeninteresse deutscher Unternehmer und Politiker, Russland nicht länger als Rohstoffland zu behandeln, stellt im Rahmen einer solchen Allianz in Aussicht, dass die europäischen Partner Zugang nicht nur zu geschäftlich, sondern auch zu militärisch-strategisch hoch interessanten Spitzentechnologien bekommen, über die Russland verfügt und die Europa gut brauchen kann. Und die russische Seite wirbt für eine solche strategische Kooperation offen mit dem Argument, dass Europa durch sie eine Spitzenposition in der Welt erobern und zu einer Macht aufsteigen kann, die sich in der Konkurrenz gegen Amerika anders aufstellt.

Auf dieses Angebot ist man von europäischer Seite mittlerweile umfassend eingestiegen.

Europa entdeckt Russland als interessante Geschäftssphäre

Erstens gibt es einen neuen Markt zu erobern: Die Zahlungsfähigkeit der russischen Massen haben die großen europäischen Lebensmittel- und Handelskonzerne (Nestle, Metro, IKEA etc.) schnell auf sich gezogen. Sie haben gleich nach der Wende damit begonnen, ihren Schrott im großen Stil über die Grenze zu schaffen und dort, wo es sich lohnt, in den Zentren, über ihre Filialen zu vertreiben; russische Produzenten können da nicht mithalten, werden von der Konkurrenz aus dem Westen zügig aus dem Feld geschlagen bzw. kommen gar nicht erst auf die Beine. – Seitdem der russische Standorthüter unter Einsatz seiner Finanzmacht einige Anstrengungen unternimmt, seinen Standort auf Vordermann zu bringen, ist man in Berlin darauf bedacht, dass die deutsche Wirtschaft daran maßgeblich mitverdient. Anlässlich der Eröffnung der Hannover Messe 2005 erklärt Kanzler Schröder Russland zu einer der interessantesten Wirtschaftsregionen der Welt… Die Modernisierung der Infrastruktur und der industriellen Basis sei in Russland in vollem Gange. Dabei böten sich deutschen Investoren vielfältige Möglichkeiten. Siemens und andere deutsche Vorzeigeunternehmen können bei der Gelegenheit denn auch gleich diverse Großaufträge an Land ziehen. – Unter dem Vorzeichen einer gefestigten russischen Staatsmacht und der Konsolidierung der Verhältnisse, die sie regiert, werden auch die industriellen Potenzen Russlands neu inspiziert. Da scheint doch nicht „alles marode“ zu sein, was der Sozialismus hinterlassen hat. Jedenfalls sind die europäischen Technologie-Unternehmen schwer unterwegs, um sich auf dem Wege der Kooperation auf Firmenebene oder über Kapitalbeteiligungen das wissenschaftlich-technologische Know-How zugänglich zu machen, das russische Firmen in den Sparten Flugzeugbau, Weltraumfahrt, Satellitennavigation, Kraftwerk- und Turbinenbau etc. besitzen.

Zweitens erklärt man sich von Seiten der Europäischen Union für die staatlich gesetzten Konkurrenzbedingungen und die Geschäftsordnung auf dem neuen Markt für zuständig.

So ‚marode‘ kann ein Land gar nicht sein, dass es von Seiten der etablierten Weltmarktmächte nicht auch gleichzeitig als Konkurrent besichtigt wird. In den Verhandlungen über Abkommen zwischen der EU und Russland sowie in den Verhandlungen über den WTO-Beitritt Russlands, bei denen Europa die Verhandlungsführerschaft übernommen hat, wird das Innenleben der russischen Wirtschaft als eine Ansammlung von unfairen Handelspraktiken durchgenommen: Staats-Monopole versperren dem auswärtigen Kapital im Versorgungsbereich ganze Sphären, die nach wie vor gültigen Preisregulierungen auf dem russischen Markt lassen sich ebenfalls als Ausschluss auswärtiger Konkurrenz verstehen, der man damit die Gelegenheit zum Gewinnemachen bestreitet. Andererseits dienen die staatlich reglementierten Preise als Technik zur Subventionierung – v.a. billige Energie- und sonstige Rohstoffpreise –, mit denen sich Russland unerlaubte Konkurrenzvorteile verschafft.

Vom Standpunkt Europas steht da noch sehr viel an Liberalisierung an – gefordert ist im Prinzip die Einstellung aller Rücksichtnahmen des russischen Staats auf seine heimische, wenig weltmarktfähige Industrie. Unter Berufung auf die Zulassungsbestimmungen für den europäischen Binnenmarkt und die WTO-Regeln ist der Streit darum eröffnet und in einen Verhandlungsprozess überführt worden. Bei dem haben sich beide Seiten zu einem Entgegenkommen bereitgefunden – die russische Regierung erachtet einiges für machbar und die EU gesteht zu, dass es sich um „politisch heikle Reformen“ handelt,[3] bei denen der Standpunkt der anderen Seite, zumindest noch für eine Übergangszeit, zu respektieren ist –, und bescheinigen sich damit ihr steigendes Interesse aneinander als Wirtschaftspartner.

Befördert wird der Einigungswille auf Seiten Europas nämlich auch durch die Aussicht auf ein Projekt höherer Rangordnung: für den im Entstehen begriffenen Kapitalstandort die Weichen von vornherein so zu stellen, dass er zur erweiterten Sphäre europäischen Geschäfts wird. Unter dem Titel der „Vier Gemeinsamen Räume“, in denen sich Europa mit Russland gemeinsam einrichten will, kümmert man sich auch um den besonderen russischen Bedarf an der Einrichtung bzw. Fertigstellung einer dementsprechenden Rechtsordnung. Gegenstand der Verhandlungen sind alle Fragen des Zugangs zum Markt der jeweils anderen Seite: für Geld, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen; aber darüber hinaus auch der gesamte Rechtskorpus, den ein kapitalistisches Wirtschaftsleben zu seiner Abwicklung benötigt. Die EU entdeckt dabei auf der russischen Seite noch sehr viel „Anpassungsbedarf“; hier geht man nämlich davon aus, dass die Prinzipien, die „auf beiden Seiten“ mit Leben erfüllt werden sollen, im Prinzip feststehen: Was für ein geregeltes kapitalistisches Geschäftsleben tatsächlich alles an staatlichen Vorschriften für den erlaubten und verbotenen Umgang mit Eigentum notwendig ist, von den technischen Normen bis zum Patent- und Aktienrecht, von einer Bankgesetzgebung bis hin zum Konkursrecht, ist auf dem europäischen Binnenmarkt, im europäischen acquis communautaire schon fix und fertig vorhanden. Und die EU setzt darauf, dass die Wucht des europäischen Binnenmarktes die russische Führung davon überzeugt, dass sie mit der Übernahme der dort gültigen Konkurrenzordnung gut beraten ist. Wenn Russland bei sich die entsprechenden Marktregeln und Konkurrenzbedingungen einführt, garantiert das den europäischen Geschäftspartnern die besten Standortbedingungen, dieselben wie zu Hause, und eröffnet den europäischen Wirtschaftsmächten einen „Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum“, der im Prinzip von Portugal bis an die chinesische Grenze reicht.

Drittens schließlich hat Europa sein Interesse an einer Partnerschaft mit Russland auch deshalb entwickelt, weil es sich bei dieser Nation dann doch um etwas mehr handelt als um eine Ansammlung maroder Fabriken und einen komplett marktwirtschaftlich und rechtspolitisch überholungsbedürftigen Standort. Russland hat mit seiner Atomindustrie und mit seinen High-Tech-Sphären extrem spannende Handelsartikel aufzuweisen, die berühmten Dual-Use-Güter, die deshalb besonders lukrative Geschäftsaussichten besitzen, eine ausnehmend zahlungsfähige Kundschaft ansprechen, weil sie zugleich als Machtmittel taugen.

Die ökonomische Kooperation, die Europa mit Russland anbahnt, rührt damit an einen Komplex von ziemlich politischen Fragen: Die reichen von der Erwägung, ob man Russland überhaupt als Akteur auf den einschlägigen Weltmärkten, also auch als Konkurrent um politischen Einfluss zulassen möchte oder nicht nach besten Kräften dagegen intervenieren sollte; bis zu Versuchen, die Beziehungen, die Russland zu einigen Weltgegenden unterhält, für europäische Interessen zu funktionalisieren. Da, wo sich Russland nicht ausschließen lässt, bietet die Kooperation die Perspektive, Einfluss auf diese Sphäre zu gewinnen, beispielsweise die russischen Beziehungen zum Iran zum Hebel für die europäische Konkurrenz in Weltordnungsfragen nutzbar zu machen. Und nicht zuletzt kommen die russischen Potenzen auf dem Gebiet dieser Technologien ja auch als ein Feld in Betracht, auf dem sich die europäische Luftfahrt-, Rüstungs-, Raumfahrtindustrie äußerst nützliche Synergieeffekte im Hinblick auf die amerikanische Konkurrenz ausrechnet.

III. Europas Umgang mit Russland als Macht

Europa kommt also mit Russland zunehmend ins Geschäft. Und dennoch versteht es sich für die Führer dieses Staatenblocks gar nicht von selbst, dass die nützlichen Beziehungen, die man zu Russland eingehen will, das Interesse an einer sich konsolidierenden Staatsmacht einschließen. Vom Standpunkt seiner höheren imperialistischen Ambitionen aus, von dem eines herausgehobenen Mitmachers und Nutznießers einer Weltordnung, in der auf Grundlage einer Hierarchie von Gewalten die Aufsicht über den Rest der Staatenwelt ausgeübt wird, stößt sich Europa nämlich an Russland als einer Macht, die in diese Weltordnung nicht recht hineinpasst.

Die Führungsmächte der freien Welt haben zwar keine feindliche Weltmacht mehr vor sich, wohl aber einen Problemfall zu bewältigen: Der abgetretene Gegner hat ein entsprechend dimensioniertes Erbe hinterlassen – einen auf die Russische Föderation geschrumpften Rechtsnachfolger, der sich aber immer noch über einen halben Kontinent erstreckt, der über Mittel verfügt, auf sein staatliches Umfeld, namentlich auf die früheren Brudervölker nachdrücklich Einfluss auszuüben, der einen militärischen Aufbau übernommen hat, der zu einer Weltkriegsdrohung geeignet war und von dem trotz seiner Dezimierung viel übrig ist. Dieses Erbe ist viel zu groß, als dass sich die Betätigung einer solchen Macht nicht als unerwünschte Konkurrenz und Beeinträchtigung des maßgeblichen Weltordnungswillens auswirken würde; eine Sorge, die sich regelmäßig mit der Warnung vor einem angeblichen Rückfall zu Wort meldet, wenn sich die russische Politik um Reparatur oder Stabilisierung ihrer Macht kümmert. Andererseits ist dieselbe russische Herrschaft, vom Standpunkt der imperialistischen Mächte aus begutachtet, auch wieder viel zu beschädigt, von inneren Notständen und Schadensfällen betroffen; da, wo man sie funktionalisieren möchte, hat sie keine zuverlässigen Garantien zu bieten; die Kontrolle, die sie über ihre Waffen, ihr Gebiet, ihr Volk ausübt, lässt sehr zu wünschen übrig. Sie reiht sich aber auch nicht einfach in die Liste von untauglichen Herrschaften ein als ein weiteres Aufsichtsobjekt, das sich eingrenzen und mit Missachtung strafen ließe; dafür ist diese Macht wiederum zu eigenwillig und zu potent. Am Bedarf der Hüter der Weltordnung gemessen, stellt das neue Russland in eben dieser Mischung ein Ärgernis vor: Es besitzt gleichzeitig zu viel Machtmittel und zu wenig Kontrollgewalt darüber, ist dabei aber ehrgeizig und im Namen eigener Ambitionen sperrig gegenüber den Benimmregeln, die seine neuen imperialistischen Partner aufstellen.

Immer noch zu viel russische Machtmittel

Russland mag zwar einen kompletten Systemwechsel hingelegt haben – und dennoch ist es die Gegnerschaft in einer Hinsicht nicht losgeworden: Mit den russischen Waffenarsenalen, mit den verbliebenen Stützpunkten und Bündnispartnern außerhalb der russischen Grenzen können und wollen sich die führenden Staaten nicht abfinden. Auf diesem Gebiet gibt es ihn daher immer noch: „den Westen“ – die strategische Einigkeit der imperialistischen Nationen gegenüber der Macht im Osten. Man arbeitet daran, die Mittel der ehemaligen Supermächtigkeit unschädlich zu machen oder zumindest unter Kontrolle zu bekommen. Das durch die Selbstabschaffung der Sowjetunion etablierte neue Kräfteverhältnis will gesichert sein für den Fall, dass die Nachfolger auf die Idee kommen sollten, dass ihr Weg einer Selbstentmachtung in einer imperialistischen Welt doch vielleicht nicht die beste Idee war; und es will auch ausgelotet sein, bis wohin sich die Zerstörung von Waffen und die Beseitigung strategischer Positionen Russlands in anderen Weltgegenden, in Europa und in der GUS treiben lässt.

Bei solchen Gewaltfragen höheren Kalibers sieht sich Europa nach wie vor auf das Bündnis mit den USA verwiesen; zumal das Geschäft der Abrüstung und Rüstungskontrolle im Bereich der Atomwaffen ausschließlich Sache der USA und Russlands ist. Die USA arbeiten dabei auf ein Gewaltmonopol der besonderen Art hin: Die einzige Supermacht etabliert ein Abstandsgebot zum Rest der Welt. Europa profitiert von der Demontage der benachbarten Supermacht, und hat auch einen Kollateralnutzen zu verzeichnen: Das Geld, das die Mitglieder des freien Westens zur Vernichtung von sowjetischen Waffen spendieren, dient als Eintrittskarte, sich erstmalig in die bis dahin den Supermächten vorbehaltene Sphäre einzuschalten; auch sie erhalten gewisse Gelegenheiten, sich an die sowjetische Rüstung als Gegenstand der Ausforschung und Experimentierfeld fürs Verschrotten von U-Boot-Atomreaktoren bis zu den Überbleibseln sowjetischer Versuche im Bereich von B- und C-Waffen anzunähern.

Auf dem Gebiet der Rüstungsbeschränkung ist einiges geleistet worden, ergänzt auch durch die Sorte naturwüchsiger Abrüstung, die der Zusammenbruch der Staatsgewalt in Russland bewirkt hat. Der Bush-Diplomatie ist es daher auch wie eine unerträgliche Beschränkung ihrer Sicherheitspolitik vorgekommen, sich mit Russland überhaupt noch nach den Spielregeln der Rüstungsdiplomatie ins Benehmen zu setzen und den Schein eines irgendwie gleichgewichtigen Schachers fortzusetzen, aber ihr Kontrollbedarf, was russische Waffen angeht, hat sich damit nicht erledigt. Seitdem sich Russland der von Amerika vorgegebenen neuen Tagesordnung der Weltpolitik unter dem Titel einer gemeinsamen Terrorbekämpfung angeschlossen hat, legen die USA mit ihrem durch eben dieses Programm geschärften Sicherheitsbedarf ihrem neuen Partner das Vorhandensein seiner Kriegsmittel als gemeinsam zu bewältigendes Risiko nahe: nämlich als Möglichkeit, dass sie in falsche Hände – welche auch immer – geraten könnten. An die Stelle der Rüstungsdiplomatie alten Stils haben die USA die Aufgabe der Non-Proliferation gesetzt, bei der es an Russland als unzuverlässigem Hüter von Proliferationsmaterial (Raketen, atomare Anlagen aller Art, Berge von ausgemusterter Rüstung, ein nach wie vor reichhaltiges Know-How und entsprechende Produktionsanlagen für Rüstungsgüter aller Art) sehr viel auszusetzen d.h. zu kontrollieren gibt. Nicht zuletzt deshalb, weil Russland damit selber eine konkurrenzfähige Macht ist.

Ergänzt wird die partielle Entschärfung des russischen Waffenarsenals durch die Besetzung des staatlichen Umfelds; die Aufnahme der früheren europäischen Bündnispartner der Sowjetunion und der baltischen Sowjetrepubliken in die NATO engt den militärischen Aktionsradius der Russischen Föderation schon drastisch ein. Aber auch die direkte Nachbarschaft, der von Russland als Nahes Ausland und Interessengebiet deklarierte Umkreis von Staaten wird mit dem weitreichenden Sicherheitsbedarf der freien Welt mit dem Ziel eines neuen Containment vertraut gemacht. Auf die vielen neuen völkerrechtlichen Subjekte wird militärisch, ökonomisch, politisch eingewirkt, damit sie den von ihnen erwünschten Beitrag zum Kräfteverhältnis leisten, einen möglichst stabilen antirussischen cordon sanitaire. Der freigesetzte Nationalismus wird als Hebel gegen Russland ausgetestet; ebenso die russischen Fähigkeiten dagegenzuhalten; ob da überhaupt so etwas wie russische Besitzstände anzuerkennen wären und welche, ist einen Langzeitversuch wert.

Von der Osterweiterung zur Europäischen Nachbarschaftspolitik

Europa beteiligt sich an dieser großangelegten Neuorganisation des Ostraums aus dem gleichen Interesse an der Eingrenzung russischer Macht heraus, zugleich allerdings im Namen des zusätzlichen europäischen Interesses an einer Erweiterung seines Einflusses, seiner Besitzstände. Dass Europa in dieser Himmelsrichtung so überaus sensibel für die Rechte aller Völker und Minderheiten – mit Ausnahme der russischen – eintritt und russische Einmischung, Übergriffe, Hegemonie, und was auch immer bekämpft, ist ja schließlich nur die verlogene Ausdrucksweise dafür, dass ein europäischer Zugriff auf dieses Gebiet stattfindet, dass Europa die ehemaligen Sowjetrepubliken und heutigen GUS-Staaten sich als Machtzentrum zuordnen will.

Auch hier handelt es sich um einen historischen Glücksfall für Europa: In einer längst entkolonialisierten, aufgeteilten Welt ist durch die Selbstaufgabe der Sowjetunion eine Art Niemandsland freigeworden, eine Sphäre, unmittelbar vor der europäischen Haustür, in die hinein eine europäische Zuständigkeit ausgedehnt werden kann. Zur Neuaufteilung freigegeben ist dieses Gebiet in dem Sinn, dass es von Staatsgewalten besetzt ist, denen die Mittel zum Staatmachen abgehen, was sie zu Objekten für die europäische Machtentfaltung prädestiniert, indem es sie für auswärtige Hilfe, wie die offizielle Sprachregelung lautet, empfänglich macht. Geographisch reicht die Nachbarschaftsdefinition Europas mittlerweile schon bis zu den Staaten im südlichen Kaukasus.

Mit der Aussicht auf eine EU-Perspektive nehmen die Europäer den passiven Imperialismus dieser Staatenwelt in Anspruch und lenken den freigesetzten Nationalismus auf sich: Man setzt auf die Attraktion, die der europäische Wirtschaftsblock auf die Krisenregion ausübt, nicht zuletzt auch durch die negative Wirkung der Osterweiterung – die Beitritte kappen einen Großteil der Wirtschaftsbeziehungen –, und definiert die angrenzenden Staaten als neue „Nachbarn“, denen Europa schon wieder alle möglichen „Hilfen“ und Programme zur Heranführung zu bieten hat; eine Neuauflage der schon in Mitteleuropa bewährten Strategie, bei der Gelder als Belohnung für Schritte auf dem Weg der Unterwerfung unter europäische Vorgaben in Aussicht gestellt werden. Gedacht ist an die Herstellung einer Nachbarschaft von auf Europa hin orientierten, einer europäischen Richtlinienkompetenz unterstellten Staaten; die EU ist also dabei, einen neuen Status zu konstruieren, den von EU-Vasallen, deren Anbindung auch ohne die Gegenleistung einer Mitgliedschaft, ohne die Gewährung von entsprechenden Rechten, zu organisieren sein muss. Wenn schon mehr oder weniger alle ehemaligen Sowjetrepubliken in Brüssel als Bittsteller auftreten, darf man das doch wohl mit einem Bedürfnis dieser Staatenwelt gleichsetzen, unter europäische Zuständigkeit überzuwechseln. Z.B. in der Manier, das „Problem“ aufzuwerfen, dass Europa der Ukraine zur Zeit noch keine Beitrittsperspektive bieten kann. Auf die Weise wird die angekündigte europäische Machterweiterung Russland gegenüber als Selbstbestimmung seiner Nachbarn ausgegeben, die es gefälligst zu respektieren hat. Konfrontationen lassen sich aber dann doch nicht ganz vermeiden; die europäischen Ansprüche stehen im Gegensatz zu russischen Interessen, aber auch zu durchaus handfesten Interessen in den betreffenden Nationen: Europa hat regelrechte Unvereinbarkeitsbeschlüsse verkündet, dekretiert, dass die Teilnahme der Ukraine am von Russland geplanten Einheitlichen Wirtschaftsraum mit der Perspektive der Annäherung an Europa nicht verträglich ist. Was die Europäer als Wahrheit über ihren Weltmarkt und die eigenen Gepflogenheiten nie gelten lassen würden – die Gleichung: Handel-Abhängigkeit-Unterwerfung – wird an der russischen Politik nämlich ohne Problem entdeckt. Die strategische Behandlung der Wirtschaftsbündnisse leistet im übrigen ihren Beitrag zur Fortschreibung der ökonomischen Notstands: Vorstellungen von einem Marshall-Plan für die GUS-Kreaturen, von dem in den Gründerjahren zuweilen die Rede war, entbehren zwar jeder Realität, aber Chancen für eine russische Wiederinbetriebnahme alter Beziehungen oder von Restbeständen der alten Arbeitsteilung darf es deswegen noch lange nicht geben. Alle Versuche, die in diese Richtung zielen, werden bekämpft.

Aus den Bedingungen, die die EU für gute Nachbarschaft aufmacht, unterstrichen durch die Berufung auf „gemeinsame Werte“, auf die sich die östlichen Nachbarn verpflichten sollten, erwächst ganz wie von selbst ein europäisches Recht auf Aufsicht über den (korrekten) Gebrauch von Staatsmacht in der GUS. Gemeinsam mit den USA, als OSZE, als NGOs und unter anderen zivilgesellschaftlichen Tarnkappen arbeitet die EU, überhaupt nicht risikoscheu, an einer Entwicklung der politischen Kultur, die auf Umsturz abzielt. Unter der Parole, wir beschützen die Unabhängigkeit dieser Staaten, bzw. sorgen für Demokratie, findet ein Kampf um die Macht, d.h. um die Einsetzung der Machthaber in diesen reichlich ungefestigten und wenig existenzfähigen Gebilden statt. Wo auch immer ein Interesse an einer Rekonstruktion nützlicher Beziehungen zu Russland sich meldet, wird der „Rückfall“ beschworen und verfolgt; erst recht natürlich dort, wo ein Staatschef wirklich die Auffassung praktiziert, dass sich sein Sprengel nur im Anschluss an Russland behaupten kann. Die Auffassung weist ihn dann – egal mit welch überwältigenden Mehrheiten er gewählt worden ist – als „letzten Diktator in Europa“ aus.

Daneben entwickelt die EU besonderen Handlungsbedarf bezüglich der sogenannten „eingefrorenen Konflikte“. Spiegelverkehrt zur Behandlung der unter dem Kommando der Hohen Kommissare eingefrorenen Balkan-Konflikte verspürt man dort das Bedürfnis, die nationalistischen Krisenherde wieder aufzurühren. Deren eingefrorener Zustand ist deshalb so unerträglich, weil russische Friedenstruppen, von der GUS beauftragt oder sogar noch von der OSZE genehmigt, für diverse Waffenstillstandsabkommen zuständig sind. Dagegen wird jeweils die von Russland gebremste Partei mobilisiert, indem man sie – nach bewährter Tradition – dazu anhält, nach internationaler Hilfe zu rufen, wie im Falle Moldawien, das am Separatismus der Republik auf der anderen Seite des Dnjestr leidet; oder Georgien mit den beiden separatistischen Landesteilen Abchasien und Südossetien.

Das Ziel dieser vielfältigen Aktivitäten besteht darin, Russland als Ordnungsmacht aus seinem nahen Ausland herauszudrängen. Die Forderung wird allen Ernstes wie ein Sittlichkeitsgebot vertreten, nach dem Russland gerade deshalb, weil es seine demokratische Läuterung gegenüber seinen demokratischen Partnern und Förderern glaubhaft zu machen hätte, seine Interessen und seinen Einfluss haarscharf an den eigenen Grenzen enden lassen muss. Als ob es in einer Weltordnung, in der Nationen um ihre Durchsetzung auf dem Weltmarkt und die Ausdehnung ihrer Zuständigkeit für andere Mächte konkurrieren, so üblich wäre, dass sich eine Herrschaft höflich und bescheiden auf ihr eigenes Territorium zurückzieht. Das Prinzip dürfte jedenfalls ein imperialistisches Ideal bleiben.

Weil das so ist, entwickelt Europa einen neuen Bedarf an gewaltmäßiger Rückversicherung gegen Russland. Immerhin wenden sich die europäischen Vorstöße gegen die russische Beschlagnahme des Gebiets als nahes Ausland, beschädigen mindestens ebenso ‚vitale‘ russische Interessen, treiben für Russland die Kosten seiner Einflussnahme hoch; der Stoff, an den Europa mit seinem Zugriffswillen rührt, die Konflikte, die es in ihrem eingefrorenen Zustand einfach nicht belassen möchte, sind ihrer Natur nach Bürgerkriegs- bzw. Kriegsszenarien, mit Russland als mehr oder weniger erklärter Schutzmacht, bzw. Ordnungsmacht auf der anderen Seite – insofern bleibt das Bündnis mit den USA für Europa eine unerlässliche Bedingung. Europa will seine Vorstöße gedeckt wissen, z.B. durch die Gemeinsamkeit mit den USA im Rahmen der OSZE, und weiß sich auch auf die militärische Rückendeckung der USA durch den Zusammenhalt in der NATO angewiesen.

Die europäische Begehrlichkeit erhält also das Interesse an einer Schwächung der immer noch viel zu mächtigen Macht in dieser interessanten Nachbarschaft aufrecht, und das macht wiederum vor deren Grenzen selbstverständlich nicht Halt. Wie es um die Verfassung der russischen Staatsmacht im Inneren bestellt ist und wie sie dort zum Einsatz kommt, auch das ist für Europa daher ein Gegenstand von erstklassigem Interesse.

Europäische Alternativen bei der Definition des Demokratiebedarfs in Russland: Betreuter Staatszerfall oder „Rettung von Staatlichkeit“?

Alle Fragen der Macht und des Machtgebrauchs in Russland werden von Europa aus unter den mit dem Titel ‚Demokratie‘ versehenen Vorbehalt gestellt, als ein problematisches, äußerst korrekturbedürftiges Kapitel des russischen Staatsaufbaus behandelt, das gerade im Sinne des neuen guten Einverständnisses unter dem Zeichen „gemeinsamer Werte“ das Ausland zu Mahnungen und Interventionen berechtigt. Seitdem sich der zweite russische Präsident daran zu schaffen macht, das staatliche Gewaltmonopol zu sichern und die Defekte der Staatsmacht zu beheben, gilt das in deutschen und internationalen Kreisen allen Ernstes als „Abbau von Demokratie“ – gemessen an den guten alten Zeiten unter Jelzin. Die weitere Zerlegung von Herrschaft, Anti-Nationalismus als Regierungslinie, das wäre nach dieser Lesart die passende Demokratie für Russland. Auch wenn Putin jetzt seit geraumer Zeit den G-8-Kollegen seine Fassung vorbuchstabiert, nach der sie doch auch keine Freunde eines schwachen Staates, von Chaos und Anarchie sein könnten, wollen die sich damit nicht anfreunden. Sie kümmern sich lieber um den Aufbau einer „Zivilgesellschaft“, die Einrichtung einer Opposition, die sich ihre Direktiven in Washington und Brüssel abholt, und von Organen einer regierungsfeindlichen Öffentlichkeit, angeleitet durch Radio Liberty und Deutsche Welle. Sie bestehen nämlich weiterhin auf ihrem guten Recht, dass die Ausbildung des politischen Willens in Russland vermittels der russischen Parteienlandschaft und Meinungsherstellung auch ihre Sache ist, um den möglichst auf die Schranken festzulegen, die sie für ein gedeihliches Auskommen nötig erachten. Analog zu den Demokratisierungsoffensiven in der GUS spitzen sich die Anstrengungen auf die Frage der Putin-Nachfolge zu: Lassen sich taugliche Konkurrenten aufbauen und Wahlkampf und Wahlen in Russland dirigieren, wie das zu Jelzins Zeiten einmal so schön gelungen ist?

Des weiteren gilt das europäische Interesse allen Konflikten und Kräften, die den Bestand der Russischen Föderation selber in Frage stellen. An den verschiedensten Stellen in der Föderation sind interessante Sprengsätze in der völkischen Zusammensetzung zu beobachten und werden vom westlichen Ausland mit Aufmerksamkeiten bedacht, vor allem aber der andauernde Bürgerkrieg im nördlichen Kaukasus, den europäische Schreibtischstrategen gerne als eigentlich „koloniales Gebiet“ definieren, dessen Befreiung noch nachzuholen wäre. Immerhin war ja die russische Herrschaft dort unter Jelzin schon einmal teilweise außer Kraft gesetzt. Der fortdauernde Konflikt hält die Erwartung in Kurs, dass die Grenzziehung der Russischen Föderation selbst noch keine ausgemachte Sache sein könnte, dass möglicherweise der Umfang der russischen Kontinentalmacht durchaus noch zu korrigieren geht. Und auch der Krieg selbst, solange er andauert, tut seinen Dienst als Beeinträchtigung der russischen Staatsmacht, okkupiert das Militär, bereitet materielle und moralische Kosten, schränkt ihre Handlungsfreiheit ein, hält sie womöglich von anderen „militärischen Abenteuern“ ab. Die westlichen Partner halten sich daher die Entscheidung in verschiedenen Abstufungen offen, ob, wann und wie sie dem russischen Antrag auf Subsumtion des tschetschenischen Aufstands unter die Definition internationalen Terrorismus und Unterstützung nachkommen.

Man kennt aber auch entgegengesetzte Bedenken: Insoweit man eben auch an einer Kontrolle der Zustände in der östlichen Nachbarschaft interessiert ist und sich dieses Anliegen dann doch kaum am russischen Souverän vorbei verfolgen lässt – die besonderen Dimensionen dieses Falls machen sich auch in dieser Hinsicht geltend – sondern nur im Einvernehmen mit der dortigen Exekutive, sind auch die negativen Wirkungen des Bürgerkriegs auf die politische Lage in Rechnung zu stellen. Und da lässt sich nicht ignorieren, dass die Schwächung, die Russland durch den Terror am Kaukasus erleidet, das Land nicht leichter handhabbar und beeinflussbar macht, sondern ungeeigneter für alle ökonomischen Interessen, außerdem auch widerspenstiger gegen europäische Bevormundung. Bei einer Eskalation des Bürgerkriegs droht womöglich eine wachsende Unberechenbarkeit der russischen Politik. Schließlich stellt sich Putins Russland inzwischen auch fordernder auf, was politische Unterstützung angeht. Die unentwegt wiederholte russische Beschwerde, die westlichen Partner würden im Umgang mit Terrorismus doppelte Standards anlegen, verweist ja auch auf Leistungen, bei denen die russische Kooperation gefragt ist, und besteht auf Gegenleistungen. Es darf nicht sein, dass in Russland der Standpunkt aufkommt und sich durchsetzt, dass die amerikanisch-europäische Weltordnung eine Rücksicht auf vitale russische Interessen nicht vorsieht. Deswegen fühlt sich z.B. ein Außenpolitiker der SPD bemüßigt, nach der Geiselnahme von Beslan, genauer: nach der bei diesem Anlass veranstalteten Hetze gegen die russische Staatsmacht, davor zu warnen, dass man damit den eigenen Einfluss auf Russland gefährdet. Auch die Nation leidet ja keinen Mangel an vaterländischen – ‚nationalbolschewistischen‘, ‚neofaschistischen‘, links-/rechtsextremen oder wie auch immer titulierten – Kräften, bei denen im Auge zu behalten ist, ob sie an Boden gewinnen.

Der europäische Bedarf an Kontrolle der Krisenregion wird durch die nicht unbeträchtlichen Wirkungen auf die Tagesordnung gesetzt, die vom Staatszerfall auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ausgehen: Flüchtlinge, Seuchen, Kriminalität, Havarien und Umweltverseuchungen werfen ja ihrerseits die Frage auf, ob ein zerfallender Nachbar, und zwar einer in den Dimensionen Russlands, mehr ein Glücks- oder ein Schadensfall ist und legen die Erwägung nahe, dass Europa kaum dazu in der Lage dürfte, Gegenden zu kontrollieren, die eine russische Staatsmacht nicht mehr kontrollieren kann. Für diese Sichtweise hat sich in Europa Kanzler Schröder stark gemacht:

„Wenn Sie sich die Lage in der Region anschauen und erkennen, welche Auswirkungen das politisch wie ökonomisch auf Deutschland haben kann, dann kann niemand ein Interesse haben, dass die territoriale Integrität der russischen Föderation in Frage gestellt wird.“

Dass ein anderer Umgang mit Russland angebracht wäre, ist dem Kanzler nicht zuletzt wegen der geschäftlichen Berechnungen eingefallen, die sich an Putins Wachstumsprogramm knüpfen. Nachdem man an den neuen politischen Bedingungen, die die russische Führung mit ihrem Programm zur Restauration der russischen Zentralgewalt und v.a. mit ihrem exemplarischen Machtkampf gegen die Oligarchenwirtschaft für das Geschäft setzt, ohnehin nicht vorbeikommt, ist die Einsicht in die generelle imperialistische Geschäftsregel gereift, nach der jedes auswärtige Geschäft darauf angewiesen ist, dass die Staatsmacht, auf deren Boden das Geschäft stattfindet, dessen Bedingungen sichert. Und daraus folgt, dass ein Umgang mit Russland angebracht ist, der konstruktive Beiträge dazu leistet, dass sich die dortige Staatsmacht als Garant der Verhältnisse bewähren kann, die man sich nutzbar machen will:

„Es ist an der Zeit, sich einmal mit der Frage zu beschäftigen, vor welchen Herausforderungen der russische Präsident stand und steht: Es geht ihm um die Rekonstruktion von Staatlichkeit. Seine Aufgabe besteht zunächst einmal darin, den Staat als Garant von innerer Sicherheit, von äußerer Sicherheit und von Investitionssicherheit wiederherzustellen.“ (SZ, 2.10.04)

Schröder und Chirac, die sich in Europa für die Linie stark gemacht haben, auf Russland als eine Macht zu setzen, die im Inneren funktionieren muss, kommen wiederum nicht umhin, sich daraufhin befragen zu lassen und sich auch selber festzulegen, wie sich Europa zu Russland als einer Macht mit eigenen Ambitionen stellen soll, welche Rolle, welche Bedeutung es Russland in der Konkurrenz der Mächte zugestehen will. Auf solche Berechnungen werden die Euro-Politiker seit geraumer Zeit auch durch die andere Partei in diesem imperialistischen Dreiecksverhältnis, durch die USA, gestoßen. Mit ihrer Politik der Neuordnung der Welt im Sinne einer globalen Koalition der Willigen zur Ausrottung des Antiamerikanismus hat die Führungsmacht Beihilfe geleistet für das Entstehen einer Entente cordiale zwischen Frankreich, Deutschland und Russland in der Ablehnung des Irak-Kriegs, aber auch darüber hinaus.

Gemeinsame Verantwortung für eine „Multipolare Welt“

Weil Europa an den Umtrieben der amerikanischen Weltordnungsmacht leidet, die ihr Interesse an proamerikanischer Herrschaft überall auf der Welt rücksichtslos gegen die Interessen ihrer europäischen „Partner“ durchsetzt, kommt Russland in seiner Eigenschaft als weltpolitisch agierende Großmacht ins Blickfeld, die zur Relativierung des amerikanischen Machtanspruchs beitragen kann; d.h. vor allem die BRD und Frankreich sind bemüht, diese Linie in der EU durchzusetzen.

In Sachen Antiamerikanismus ist Russland als Partner nicht zu verschmähen. Die Euro-Politiker dieser Linie kalkulieren mit Russland als Staat, der willens ist und fähig sein könnte, mit seiner schieren Größe und seinen ererbten Potenzen an weltkriegsstrategischer Rüstung die Übermacht der USA auf diesem Sektor zu relativieren. Außerdem verbessert jedes Moment von Beschränkung, jedes Hindernis, auf das die USA treffen in ihrem Bemühen, die Macht zur Weltordnung zu monopolisieren, die Voraussetzungen für Europa, sich von Amerikas Weltmacht zu emanzipieren und zum ernst zu nehmenden Konkurrenten aufzubauen. Für eine Partnerschaft mit Russland sprechen da auch noch dessen andere Potenzen, auf die man als Zugewinn zur Stärkung der europäischen Mittel im weltweiten Kräftemessen spekuliert: seine Position im Sicherheitsrat, seine Sonderbeziehungen und sein Einfluss auf Dritte, z.B. den Iran; Russlands Bedeutung, um europäischen Initiativen wie dem Kyoto-Protokoll und dem internationalen Gerichtshof mehr Gewicht zu verleihen; und schließlich die Möglichkeiten einer Kooperation auf dem Gebiet des militärisch-industriellen Komplexes.

Einen neuen Widerspruch handeln sich die Vertreter dieser neuen Völkerfreundschaft zwischen Europa und Russland allerdings auch ein: Sie spekulieren auf Russland als Rückendeckung für den europäischen Anti-Amerikanismus gerade in der Eigenschaft, als weltpolitisch agierende Macht, in der Russland seine eigenen Ambitionen verfolgt und keineswegs daran denkt, sich auf die Rolle eines europäischen Mitmachers zu reduzieren. Europas Wunsch nach einem strategischen Partner stößt auf Gegenliebe – soweit das die Ambitionen Russlands in Sachen Anerkennung durch die USA fördert. Beschränken lässt es sich in seinen entsprechenden Kalkulationen dadurch nicht so ohne Weiteres; schon gar nicht festlegen – so wenig wie die Europäer auf eine Kündigung ihrer transatlantischen Allianz.

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An allen Schauplätzen ist Europa präsent und mit seinen Interessen an Beschränkung der russischen Macht wie auch an ihrer Benützung unterwegs; das macht die Beziehungen außerordentlich vielfältig, und deswegen haben die Diplomaten auch genug zu tun. Der Ausbau nützlicher Beziehungen und die Demontage russischer Macht – beides wird praktiziert: Euro-Führer finden überhaupt nichts dabei, auf Veranstaltungen wie der Hannover-Messe Umarmungsorgien mit dem russischen Präsidenten zu absolvieren und gleichzeitig im russischen Nahen Ausland dem russischen Einfluss das Wasser abzugraben, z.B. Russlands engsten Bündnispartner Lukaschenko zu Europas Hauptfeind zu erklären, oder alle Anstrengungen zu unternehmen, um Russland zivilgesellschaftlich zu unterwandern. Das erfordert dann freilich parallel zum eigenen Aufmischen der russischen Nachbarschaft ein gewisses Bemühen um Beschwichtigung; überhaupt gerät dieses Gesamtkunstwerk von Politik des öfteren zu einer Frage der Gewichtung der gegensätzlichen Gesichtspunkte und der Dosierung der jeweiligen Vorstöße. Manchmal muss man sich auch entscheiden, was einem wichtiger ist: der Energiepakt mit Russland oder die Rolle der Ukraine als antirussisches Transitland; Deutschland entscheidet sich für die Ostseegaspipeline. Russland nötigt auch seine Partner zu Entscheidungen, z.B. dazu anzuerkennen, dass kein europäischer Alleingang zu haben ist, dass Russland über Mittel gebietet und die auch zum Einsatz bringt. Dann bewährt sich wiederum die Linie der Russlandfreunde in Europa bei der so benannten Aufgabe, „Russland einzubinden“ – um einen Interessensabgleich zu organisieren und damit Russland zur Tolerierung zu bewegen, z.B. in der Ukraine-Krise. Auf die Weise kommen interessante Tauschgeschäfte zustande und die Politik zeigt ihre Meisterschaft, was sie alles kompatibel zu machen versteht: Die russische Unterschrift unter das Kyoto-Abkommen ist eine gewisse Unterstützung beim Dauergemetzel in Tschetschenien wert; ein europäisches Zugeständnis bei der Inanspruchnahme der Terrorismusdefinition macht sich bezahlt durch den Einsatz russischer Geschäftsbeziehungen in Sachen Nukleartechnik als Druckmittel gegen den Iran…

Daneben führen die Profis imperialistischer Politik auch noch den Linienstreit in ihrem eigenen Lager über die richtige und europa-nützliche Politik gegenüber Russland. Denn das ist auch schon wieder ein Gebiet, auf dem Europa überhaupt nicht mit einer Stimme spricht. Einerseits fällt die Gewichtung der verschiedenen euro-imperialistischen Interessen je nach Nation höchst unterschiedlich aus: Nur einige europäische Nationen können z.B. die Nutzenberechnungen gegenüber Russland überhaupt anstellen; etliche andere treten Russland nur oder vorwiegend wegen ihrer nationalen Wege oder territorialer Sonderinteressen als gegnerische Macht gegenüber. Andererseits enthält die dezidiert antiamerikanische Linie Risiken – die Führungsmacht hat da nichts im unklaren gelassen –, auch die werden national unterschiedlich gewichtet im Verhältnis zu den jeweiligen Vorteilsberechnungen; deshalb ist die Linie ja auch im Inneren der Nationen umstritten. Kanzler Schröder hat eine regelrechte Überzeugungskampagne für erforderlich gehalten, um die historische Chance der strategischen Partnerschaft populär zu machen; C-Politiker kritisieren das als gefährliche „Äquidistanz“ und versprechen eine Schadensminderung im transatlantischen Verhältnis, bei gleichzeitiger Fortsetzung der guten Beziehungen zu Russland selbstverständlich, aber auch zu Polen… Drittens mischen sich die einschlägigen Standpunkte gegenüber Amerika und Russland mit innereuropäischen Konkurrenzrechnungen gegenüber anderen Mitgliedern des Bündnisses, Ressentiments gegenüber der deutsch-französischen Hegemonie sind z.B. umgekehrt ein guter Grund für Pro-Amerikanismus.

Die Politik der EU-Kommission ist das Produkt dieses Linienstreits, gibt daher einerseits auch viel Anlass für die Beschwerde, dass im europäisch-russischen Dialog mehr Parolen als wirklicher Fortschritt zustande kommen. Andererseits wird genau das Doppelspiel im Umgang mit Russland produktiv gemacht; man selber wäre ja konziliant in gewissen Fragen, was russische Forderungen angeht, aber andere Kräfte in Europa eben nicht… Und drittens fördert das Verfahren auch wieder das Leiden, dass Europa nicht „mit einer Stimme“ spricht.

[1] Zur politisch-strategischen Dimension des Energiegeschäfts und seinen ökonomischen Besonderheiten ist alles Nötige nachzulesen in dem Artikel ‚Zur politischen Ökonomie des Erdöls: Ein strategisches Gut und sein Preis‘, GegenStandpunkt 1-01, S.87.

[2] Siehe dazu den Artikel ‚Der Fall Yukos: Der Gegensatz zwischen Staatsmacht und privater Geldmacht in Russland‘, GegenStandpunkt 4-03, S.36.

[3] „… weil viele russische Städte nahezu in totaler Abhängigkeit jeweils eines einzigen Industrieunternehmens leben, die unter Umständen Bankrott anmelden, wenn man ihnen die Subventionen kappt.“ (Mitteilung der Kommission)