Erziehungsdiktatur in Thailand
Das Militär richtet sich sein Volk zurecht

Um den Streit, wer das eigentliche Volk ist, geht es auch in Thailand. den Streit nämlich zwischen einer kopfstarken Minderheit, die ökonomisch und politisch maßgebend war und sich als eigentliches Staatsvolk aufgeführt hat, und einer Mehrheit von Underdogs, die von einem ziemlich radikalen reichen Reformpolitiker für Staat und Wirtschaft anders als zuvor in Anspruch genommen und mit einem Rechtsbewusstsein als gleichberechtigte Thai-Bürger versorgt worden sind und prompt dessen Partei mehrfach an die Regierung gewählt haben. Das hat erst einmal das Etablishment mithilfe des Militärs unterbunden; das übt jetzt nach eigener Auffassung eine Art Erziehungsdiktatur für die falsch politisierten Massen aus.

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Erziehungsdiktatur in Thailand
Das Militär richtet sich sein Volk zurecht

Im Mai letzten Jahres wurde die thailändische Regierung durch einen Militärputsch zu Fall gebracht, und seitdem herrscht in dem Land das Kriegsrecht. Den „langnasigen“ westlichen Journalisten wird von der Junta auf die Frage, wann denn nun wieder Wahlen seien, regelmäßig eine noch längere Nase gemacht und gesagt: Wenn wir welche durchführen. Enttäuschend für sie, da sie ihre freiheitlich-öffentliche Aufgabe offenbar vornehmlich darin sehen, sich nach dem nächsten Wahltermin zu erkundigen.

Dabei könnten sie, wenn ihnen schon so daran gelegen ist, sich wenigstens fragen, warum diese Junta an einen Wahltermin nicht einmal denkt – nach früheren Putschen waren ja zumindest entsprechende Absichtserklärungen gemacht worden. Stattdessen begnügen sie sich in der Regel mit dem kennerischen Bescheid, dass Militärputsche in diesem Land eine lange Tradition haben, und lassen einiges bemerkenswert Neues, das diesen Putsch auszeichnet, routiniert weg.

In der Tat gehören Militärputsche in diesem Land schon fast zum politischen Tagesgeschäft, und das Militär hat stets erneut bewiesen, dass es der wahre Souverän dieses Landes ist, der sich in allen relevanten Staatsangelegenheiten die letzte Entscheidung vorbehält. Seit Abschaffung der absoluten Monarchie 1932 war dieser nun der neunzehnte.[1] Jedoch haben sich Szenario und Stoßrichtung im letzten Jahrzehnt schon beträchtlich gewandelt: Spielten sie sich früher vornehmlich zwischen Fraktionen des Militärs ab oder trafen von ihm selbst eingesetzte Marionettenregierungen – gingen sie daher, als die einem Militärstaat angemessene Methode der Regierungsbildung, kaum jemanden etwas an –, so finden die letzten Putsche unter lebhafter Beteiligung der Öffentlichkeit statt. Sie (2006, 2014 sowie der De-facto-Putsch 2008, der in der Ersetzung der gewählten Regierung durch eine von der Militärführung ausgesuchte resultierte) sind zu einer „res publica“ im wahren Sinne geworden: zu einer Angelegenheit, die auch die Bevölkerung betrifft – und trifft.

Aufstand der Staatstragenden

Den letzten Militärcoup gehen jeweils öffentliche Unruhen voraus. Diese bleiben zwar auf die Hauptstadt Bangkok beschränkt, sind jedoch von umso radikaleren Forderungen getragen: Da geht es nicht um Brot- oder Benzinpreise, Wahlfälschungen oder unterdrückte Minderheiten, ja überhaupt nicht um die Rücknahme oder Einführung irgendeiner Maßnahme, die die Lebensumstände der Bevölkerung wesentlich beeinflusst. Initialer Aufreger ist im letzten Fall ein Amnestiegesetz der amtierenden Regierung Yingluck Shinawatra,[2] und auch dieses Gesetz erweist sich schnell als bloßer Anlass für die Proteste. Nachdem die Regierung dieses Gesetz schon längst zurückgenommen hat, geht der Aufruhr erst richtig los. Die Regierung muss erkennen, dass ihre Gesprächsangebote ins Leere laufen und dass es überhaupt nichts gibt, womit sie den Demonstranten entgegenkommen könnte. Denn diese fordern nichts Geringeres als ihre Beseitigung sowie die rückstandslose Auslöschung aller Quellen, aus denendie ihre politische Macht speist.

Die von der Regierung flugs anberaumten Neuwahlen, verbunden mit ihrer Selbst-Rückstufung zu einer bloß kommissarischen, können da den Zorn ihrer Gegner nur noch steigern, hat sich doch gerade das Wählervotum als die wesentliche Quelle ihrer Macht sowie der ihrer Vorgänger desselben Lagers – der „Rothemden“ – erwiesen, sodass die Opposition inzwischen aus Erfahrung zu der Einsicht gelangt ist, dass sie an der Wahlurne keine Chance hat. Die Auseinandersetzung eskaliert folgerichtig zu dem, was sie ist: zu einer Systemfrage der politischen Herrschaft. In selbstbewusster Umkehrung der zahlenmäßigen Mehrheitsverhältnisse reklamieren die Regierungsgegner ihren eigenen Status als in höherem Recht stehend, da den höchsten Werten der Nation verpflichtet und den traditionellen Trägern der Macht verbunden. Die Nation sei grundlegend zu reinigen: von der Unerträglichkeit einer durch plebiszitäre Machenschaften zur Macht gelangten „Clique“ sowie gleich ganz grundsätzlich von den plebiszitären Mechanismen – der Demokratie also – , die ihr zu ihren Regierungsämtern verhelfen. Die politische Macht sei wieder zurückzugeben in die Hände der „Besten“, der wahrlich Staatstragenden und daher zur Herrschaft Berufenen, als deren Exponenten und Anhänger sie sich selbst sehen.

Diese besseren, sozusagen die einzig wahren Staatsbürger sehen sich in ihrer Berufung zu keinerlei Rücksichtnahme auf das „öffentliche Leben“, geschweige denn auf demokratische Sitten, veranlasst – im Gegenteil. Es gibt ja keine Verhandlungslinie, sondern es geht ums Ganze: die Machtergreifung. Sie machen sich daher daran, der Regierung die Ausübung ihres Amtes nach Kräften unmöglich, also das Land unregierbar zu machen – und damit zugleich dem Rest der Nation die Untragbarkeit, die sie der Regierung zur Last legen, durch ihr eigenes Tun praktisch erfahren zu lassen. Die Regierungsgebäude werden belagert, besetzt und verwüstet, Parlamentarier und Kabinett in den Flüchtlingsstatus versetzt. Die Neuwahl, über die sich die Regierung erneut legitimieren will, wird sabotiert, indem Wahllokale okkupiert und demoliert, Wahlhelfer und Wähler bedroht und verjagt werden. Und da der Alltag des nationalen Geschäfts ansonsten seinen normalen Verlauf nimmt und keinerlei Anzeichen für einen allgemeinen Staatsnotstand erkennbar sind, wird ein solcher hergestellt. In der Absicht, die 10-Millionen-Metropole Bangkok „stillzulegen“, werden Geschäfts- und Verkehrszentren blockiert und dem Wirtschaftsleben der heißgeliebten Nation dadurch empfindliche Schäden zugefügt. An die Spitze der Bewegung stellt sich ein Held, der Rang, Namen und auch Vermögen hat und der sich als „das Volk“ vorstellt.[3] Theatralisch verkündet er, dass er die Sicherheiten, die ihm seine prominente Stellung bietet, selbstlos aufs Spiel zu setzen bereit sei – ja dass ihn selbst der Tod nicht davon abhalten könne, der schändlichen Regierung den Staat zu entreißen, um ihn wieder an „das Volk“ zurückzugeben. Dabei weiß er, dass er den Heldentod nicht fürchten muss, denn er sieht sich, wie auch sein die Nationalfahne schwenkendes Fußvolk, von höchster Stelle gedeckt: dem Gewaltapparat.

Das Militär bekundet unterdessen wiederholt seine „Neutralität“, entzieht damit der eigenen Regierung ausdrücklich seine Loyalität und bedeutet den erstaunlich gut organisierten und gerüsteten, sich bei alledem auch noch bestens amüsierenden Belagerern, mit ihrem Vorhaben, die öffentliche Ordnung in der Metropole gegen die Wand zu fahren, vorerst getrost weiterzumachen. Parallel dazu macht sich der Justizapparat fieberhaft auf die Suche nach „Verfehlungen im Amt“, die, ob erwiesen oder nicht, allemal ausreichen, gleich das ganze Kabinett wg. „Mitverantwortung“ kollektiv aus dem Amt zu kegeln.[4]

Die Abteilungen des Herrschaftsapparats sind in Stellung gebracht – wer hat den ersten Schuss ab? In diesem vorläufig letzten Fall ist es das Verfassungsgericht, das an einer um Jahre zurückliegenden Personalentscheidung „unmoralische Motive“ entdeckt hatte (die Maßnahme selbst sei legal gewesen), und somit sämtliche schon seinerzeit amtierenden Minister des Amtes entheben konnte. Wenige Tage später machte das Militär tabula rasa, indem es das verbleibende Rumpfkabinett vorlädt und ihm das Ende seiner Amtszeit verkündet. Auch „das Volk“ kann wieder nach Hause gehen.

Soweit, so mehrfach erprobt. Auch die ersten Sicherungsmaßnahmen der wiederhergestellten Ordnung ergeben sich fast von selbst: Aufhebung der Verfassung (mit Ausnahme der Artikel über das Königshaus), Kriegsrecht incl. Versammlungsverbot, Verfahren zum fünfjährigen (inzwischen lebenslänglich erwogen) Politikverbot gegen vormalige Amtsträger, Ernennung des Militärchefs zum Regierungschef mit unbeschränkter und unbefristeter Amtsbefugnis, Einberufung diverser Räte von „tugendhaften Persönlichkeiten“ und einer ebensolchen verfasssungsgebenden Versammlung, Auflösung und Verbot von Parteien etc. Jedoch gibt die Junta diesmal von Anfang an zu verstehen, dass sie diese bloß äußeren Ordnungsmaßnahmen als keineswegs ausreichend betrachtet, sie sich vielmehr noch entscheidend Grundsätzlicheres vorgenommen hat.

Das falsche Volk

Die Junta, die sich „Nationaler Rat für Frieden und Ordnung“ nennt, erklärt „tiefgreifende politische Reformen“ zu ihrer vordringlichen Aufgabe: Die Wiederherstellung der Stabilität des Gemeinwesens erfordere eine fundamentale Neuausrichtung des politischen Lebens der Gesellschaft, ohne die dieses keinesfalls wieder in Gang gesetzt werden könne. Alle institutionellen Regelungen setzen ihr zufolge logisch wie historisch dieses Reformwerk voraus, weshalb z.B. auch an Wahlen bis auf weiteres nicht einmal zu denken sei. Das Militärregime reflektiert damit den keineswegs nachhaltigen Erfolg der beiden letzten gewaltsamen staatsrettenden Interventionen, die sich auf lediglich institutionelle Zwangsmaßnahmen wie die obigen beschränkt haben, mit denen sie den missliebigen Regierungen und deren Parteien die politischen Mittel entzog. Dass diese Kräfte dennoch stets unter anderem Namen und mit anderer Mannschaft wiederauferstehen können, soll nun endgültig nicht wieder vorkommen.

Die ersten und nächstliegenden Maßnahmen zielen darauf, die politische Öffentlichkeit zur militärisch besetzten Zone zu machen. Hunderte von politischen Meinungsträgern (vormalige Amtsinhaber, Akademiker und Publizisten) werden einbestellt, um ihnen unter Androhung sofortiger Inhaftierung den Verzicht auf jegliche öffentliche Äußerung abzupressen – inzwischen strebt das Regime auch Auslieferungsverfahren gegen Kritiker an, die sich im Ausland aufhalten. Die Presse wird zensiert, Diskussionsveranstaltungen werden unter Genehmigungspflicht gesetzt, soziale Medien nicht nur mitgelesen, sondern samt ihren internen Datenbeständen geentert: Durch Zugriff auf den im Lande (noch vor Facebook und Twitter) populärsten Messenger „Line“ gehen 40 Millionen täglicher Livechats in komplett rückverfolgbares Staatseigentum über.[5] Zur gleichen Zeit häufen sich die Verfahren wegen „Majestätsbeleidigung“.[6]

Zur Wiederaufforstung des Kahlschlags im öffentlichen Meinungswesen, also zur aktiven Inbesitznahme der Öffentlichkeit, dienen nicht nur die militäreigenen TV-Sender, sondern auch die allwöchentliche einstündige Unterrichtung des Volks durch den Junta-Chef Prayuth Chan-Ocha – unter dem Titel: Den Menschen in der Nation das Glück zurückbringen. Dies auch der Generaltitel des Großprojekts, mit dem die Junta erklärtermaßen die Einstellung der Bevölkerung – am besten gleich deren Empfindungen! – unter ihren direkten Einfluss bringen will.

Das Programm operiert mit Belohnungen und Zurechtweisungen. Zuallererst lässt sich der mit Hundeblick als Glücksbote maskierte General so einiges einfallen, um seinen Untertanen die Freude über seine Machtergreifung erlebbar zu machen: Er komponiert ein Lied, in dem er sich seiner Rettungstat rühmt und das sich auch gut zum so beliebten Nachsingen („Karaoke“) eignet, und greift tief in die Schätze des Unterhaltungssektors: Er lässt die Fussball-WM über den Militärsender freischalten, organisiert Volksfeste, lässt Musikanten auftreten. Er lässt Soldatinnen in hautengen Uniformen tanzen – etwas für die Herren also, die sich dann auch noch gleich einen Gratis-Haarschnitt verpassen lassen können. Er lässt die Regierungsverlautbarungen durch einen ausgesucht gutaussehenden jungen Soldaten verlesen, der auch Filmstar ist – etwas für die Damen, die sich denn auch gleich massenweise erkundigen, ob der denn schon verheiratet sei. Für die Kleinen hat sich der gute Onkel was besonders Bombiges einfallen lassen, lässt zum „Tag des Kindes“ die Panzer in die Hauptstadt rollen, zum Bestaunen und Betatschen, und zeigt damit, dass es in dem Land auch anständige Formen des Kindesmissbrauchs gibt. Und die ganze Familie darf in der Neujahrswoche bei freiem Eintritt in die Nationalparks der natürlichen Schätze der Nation teilhaftig werden.

Das ist mal „Populismus“ mit sinnvoller Absicht und Botschaft, im Gegensatz zu dem vulgären der geschassten Vorgängerregierung, die den Reisbauern den Abnahmepreis ihres Produkts hochsubventioniert hat. Doch der General gibt gleich auch zu erkennen, dass sein Zweck nicht ist, der Erbauung der Bevölkerung zu dienen. In seiner TV-Ansprache erklärt er, dazu sei die Lage viel zu ernst – und verantwortlich dafür sei der bedenklich labile Zustand des Volks. Da ist dann schnell Schluss mit lustig, denn von den Menschen sei in allererster Linie „Stärke“ verlangt:

„Die thailändische Bevölkerung und Thailand haben noch Probleme, die sofort gelöst werden müssen, und zwar durch eine Zusammenarbeit aller Sektoren, vor allem eine Zusammenarbeit der Bürger aller Klassen, aller Geschlechter und jeden Alters.
Erstens sollen wir konkreter feststellen, welche Werte Thailänder besitzen sollen, damit wir Thailand zu einem starken Land bilden können. Zuerst müssen die Menschen stark sein. Die Menschen dieser Nation sollen folgendermaßen sein ...“ (zitiert nach http://passauwatchingthailand.com, 11.07.14)

Es folgt ein Katalog von 12 idealen Werten für Thailänder, die Prayuth von seinem am längsten amtierenden Vorgänger, dem Militärdiktator und Faschismus-Bewunderer Phibun (1948 – 1957) entlehnt hat. Beginnend mit dem höchsten Gebot Jeder Thailänder soll die Nation, die Religion und den König lieben thematisieren sie alle Abhängigkeitsverhältnisse der Gesellschaft, die allesamt gleichermaßen dieselben, zu Tugenden veredelten Techniken der fraglosen Ein- und Unterordnung verlangen: „Ehrlichkeit“, „Opferbereitschaft“, „Dankbarkeit“, „Respekt“, „Genügsamkeit“ usw. usf., und vor allem „Stärke“, alle diese Tugenden aufzubringen. Aus aktuellem Anlass wird auch ein Passus Demokratietheorie hinzugefügt: Jeder Thailänder soll richtig verstehen und lernen, was die Demokratie mit dem König als Staatsoberhaupt ausmacht. Der dementsprechende Auftrag:

„Heute möchte ich den NCPO (= die Junta, ‚National Council for Peace and Order‘), die Regierung sowie alle Behörden und Organisationen im staatlichen und dem privaten Sektor auffordern, die Umsetzung dieser Werte auf kontinuierlicher Basis zu forcieren. Es wird Zeit brauchen, um diese Werte in unseren Nachwuchs einzuimpfen. Wenn wir eine qualitativ gute und starke neue Generation haben wollen, müssen wir bereits heute damit beginnen. (...) Das Bildungsministerium ist dabei, Maßnahmen zur Sensibilisierung der Bevölkerung für diese Werte einzuleiten. (...)
Vorbereitungen werden derzeit für das Projekt ‚Jugendcamp – Wertaffine neue Generation‘ getroffen. Dieses Jugendcamp soll in 354 Bezirken und an 13 regionalen Zentren im ganzen Land abgehalten werden. Ich hoffe sehr, dass die 12 idealen Werte einen Beitrag zur Reformierung Thailands leisten.“ (Gen. Prayuth, TV-Ansprache vom 10.10.14, zitiert nach passauwatchingthailand.com)

Über die genannten Umerziehungslager hinaus wird auch Anweisung gegeben, dass alle Kinder und Jugendlichen die „12 Werte“ auswendig zu lernen haben. Ebenso wird – zum Geburtstag des Königs – daraus ein Spielfilm erstellt, der in allen Kinos des Landes „kostenlos“ (also zwangsweise) vorzuführen ist.[7] Flankierend dazu wird ein Gesetz auf den Weg gebracht, das vorsieht, Studenten und Studentinnen unter 25 Jahren in getrennten und strikt überwachten Unterkünften zu separieren, so dass Zusammenkünfte zwischen Frauen und Männern nicht möglich wären. Ein eheähnliches Zusammenleben von Personen in einem noch nicht angemessenen Alter könne somit verhindert werden.[8] Auf dass die Jugend auch erkennen möge, was in ihrem jugendlichen Glück nicht vorgesehen ist!

Mit alledem gibt die Junta zu erkennen, dass sie ihre vordringliche reformpolitische Aufgabe als die einer Erziehungsdiktatur versteht – und umgekehrt: dass es der Ärger über das eigene Volk ist, der sie zu ihren Maßnahmen anstachelt. Was hat sich dieses Volk zuschulden kommen lassen? Es hat doch gearbeitet, konsumiert und gelegentlich sein „Glück“ gesucht. Hat die Gesetze geachtet und gelegentlich hintergangen, hat sich hundertmal täglich mit zum „Wai“ gefalteten Händen gegenseitig Respekt gezollt – und sich gelegentlich auch gegenseitig totgeschlagen. Kurz: Hat alle Arten und Unarten gezeigt, die ein Staat normalerweise zu benutzen und zu beherrschen weiß. Normalerweise schon. Und was seine gesellschaftliche Nützlichkeit betrifft, ist an ihm auch nicht mehr auszusetzen als an einem anderen. Diesem Staat sind seine Bürger jedoch offensichtlich politisch aus dem Ruder gelaufen, haben als Staatsbürger Eigenschaften entwickelt, die aus der Sicht der maßgeblichen Herren ihrer Untertanenrolle widersprechen – abweichendes Verhalten, das sie diesen Staatsverantwortlichen als äußerst unzuverlässig erscheinen lässt. Nach außen hin erkennbar daran, dass sie falsch gewählt haben, und das wiederholt und schon seit 2001.

Der falsche Führer

Es gab in Thailand einmal eine Regierung (2001-2006), deren namentliche Bezeichnung heute aus den Schulbüchern gestrichen und durch andere Regierung ersetzt wird – die somit aus der politischen Geschichte des Landes getilgt werden soll. Auch Juntachef Prayuth gibt den Medien seines Landes zu verstehen, dass er die Erwähnung des betreffenden Regierungschefs fortan nicht wünsche. Um es doch zu tun: Es handelt sich um Thaksin Shinawatra (sprich „Tschinawat“), den mit einsamem Abstand populärsten Politiker aller Zeiten in seinem Land. Man liegt somit völlig richtig, wenn man in dieser Person, die zum offiziellen Staatsfeind Nr.1 geworden ist, die Hauptverantwortung für das nationale Ärgernis Nr. 1 sucht.

Thaksin,[9] der in den 90-er Jahren zum (erfolg)reichsten thailändischen Unternehmer – insbesondere im Telekomgeschäft und mit Aktienspekulation – aufgestiegen ist, gründet 1998 die Partei „Thai Rak Thai“ (TRT, Thais lieben Thais), um mit ihr bei der Wahl 2001 die Staatsführung zu erringen. Ausgangs- und Bezugspunkt seiner politischen Agenda ist die „Asien-Krise“ 1997, mit welcher der massive Zustrom ausländischen Kapitals, der das Land seit Mitte der 80er Jahre in den Rang eines „Tigerstaats“ gebracht hat, sich als ebenso massive Überspekulation erweist. Während das ausländische Kapital einige Abschreibungen vornimmt und sich vorerst auf verlässlicheres Terrain zurückzieht, sind die einheimischen, ausschließlich in der Landeswährung akkumulierenden Kapitale ungleich nachhaltiger getroffen: Ihre vorherige großzügige Kreditaufnahme in Devisen (die zu günstigeren Konditionen zu erhalten waren als die der einheimischen, staatsregulierten Kreditunternehmen) schlägt mit dem Absturz der Landeswährung Baht um mehr als die Hälfte als ruinöse Überschuldung gegen sie zurück. In der Folge sind sie leichte Beute des wiederum zum Aufsammeln der Opfer hereinströmenden Auslandskapitals, so dass die letzten einheimischen Industrie- und großen Handelsunternehmen von der Bildfläche verschwinden – lediglich der infrastrukturelle Dienstleistungssektor (Kommunikation, Energie, Verkehr, Medien etc.) incl. Banken genießt weiterhin nationalen Bestandsschutz. Flankiert wird diese Flurbereinigung durch den IWF, der einen 17,2 Mrd. $-Hilfskredit nutzt, um ungehinderten Zugang für das internationale Kapital sicherzustellen, und umgekehrt die Kreditschöpfung in Landeswährung drakonischen Beschränkungen unterwirft.

Thaksin versteht diese Vorgänge als Beweis, dass sich die Nation in einem Kriegszustand befindet:

„Wir haben gerade den Kalten Krieg zwischen dem Kommunismus und der freien Welt hinter uns. Von jetzt an wird es ein Wirtschaftskrieg sein, und nicht minder brutal. In der Vergangenheit wurden Länder als Kolonien unter Einsatz von Kanonenbooten und Truppen besetzt.(...) Heutzutage hat sich die Art der Kriegsführung geändert. Es geht um die Bewegung des Kapitals und den Einsatz der Technologie für die wirtschaftliche Konkurrenz. Es ist nicht Territorium, das besetzt wird, sondern die Wirtschaft (…) Und von 2000 an wird dieser Krieg gewalttätiger.“ (Rede vom 23.8.1998. Zitiert nach Pasuk Phonpaichit / Chris Baker: Thaksin. Bangkok, 2009, S. 69)

Das ist natürlich kein Plädoyer gegen Kapitalismus und Krieg, sondern die ausdrückliche Annahme der Staatenkonkurrenz mit ökonomischen Waffen: Nur wenn die Nation alle ihre Mittel auf diesen Krieg ausrichte, habe sie eine Chance, in ihm zu bestehen, und die Unterlegenheit, die die vorangegangene Krise bewiesen habe, zu überwinden. Daraus folgt für die Politik, dass sie ihre vordringliche Aufgabe in dieser Herrichtung der Nation zu ökonomischer Kampffähigkeit habe – was recht eigentlich dasselbe sei wie das Führen eines kapitalistischen Unternehmens:

„Ein Unternehmen ist ein Land. Ein Land ist ein Unternehmen. Es ist dasselbe. Das Management ist dasselbe. Es ist Management nach wirtschaftlichen Prinzipien. Von jetzt an ist dies die Ära des Managements nach wirtschaftlichen Prinzipien. Kein anderes Kriterium gilt. Wirtschaft ist das maßgebende Kriterium.“ (Ebd., S. 101)

So ergibt sich als zentrale Botschaft der „antikolonialistischen“ Auslandsschelte eine viel grundsätzlichere Inlandsschelte: Die Führung des Staates habe es durchwegs an der Wahrnehmung ihrer zentralen Aufgabe fehlen lassen und damit im wahrsten Sinne ihren Beruf verfehlt. Dies bezeuge nicht nur ihr subalternes Agieren gegenüber den Ansprüchen des Auslands, in Form der Annahme der vom IWF aufgepressten Diktate. Auch zeige es, dass weder die Institutionen noch das Personal des Staats überhaupt das Interesse, geschweige denn die Fähigkeit besäßen, die Staatsaufgaben zu erfüllen:

„Die Schwäche der Nation ist ihr Mangel an Institutionen und Führungskräften, die in der Lage sind, das Land strategisch zu führen. Das ist es, was das Land in die Wirtschaftskrise gestürzt hat.“ (Thaksin im Jahr 1999, ebd., S. 135)

Das ist schon mehr als ein Wahlprogramm – und erst recht mehr als eines der Art, die in diesem Land bis dato üblich waren: Die Breitseite zielt auf das von Militär und Bürokratie dominierte politische System des Landes, denen Thaksin gleichermaßen – da seiner politischen Direktive entzogen – die Fähigkeit abspricht, ein Verständnis der „wirklichen“ Probleme des Landes überhaupt aufbringen zu können. Andererseits zielt sie aber auch auf die zivilen Politiker, die solches gar nicht wollten, da sie lediglich daran interessiert seien, in einem quasi-parasitären Verhältnis zu diesem System Einfluss und Pfründe zu ergattern und zu verteidigen.[10] Thaksin kennt allerdings das System gut genug, um zu wissen, warum er es vorerst besser mit pauschalen Statements bewenden lässt und sich auf die Beschwörung seiner eigenen Befähigung qua Erfolg und Kompetenz beschränkt, anstatt daraus gleich eine offensive Programmatik der Staatsumwandlung zu schmieden: Er muss die Konfrontation mit dem Apparat nicht vom Zaun brechen, denn noch vor seiner Amtsübernahme wird bereits das erste Amtsenthebungsverfahren gegen ihn auf den Weg gebracht.[11] Da wird er dann schon deutlicher:

„Es ist merkwürdig, dass der Führer, der von elf Millionen Menschen gewählt wurde, sich der Hoheit und dem Urteil zweier Institutionen beugen musste, die nur aus ernannten Kommissaren und Richtern bestehen, die das Volk nicht wählen darf. Dies ist ein entscheidender Punkt, den wir verpasst haben.“ (Bangkok Post, 5.8.01)

Nation-(Re)Building mit Kredit

Thaksins erklärtes Ziel ist nicht, sein Land gegenüber der internationalen Konkurrenz abzuschotten, sondern im Gegenteil dem Auslandskapital noch ungehinderteren Zu- (und Ab-)gang zu gewähren, zugleich jedoch (im Sinne eines dual track) eine Aufwärtsspirale nationaler Wertschöpfung in Gang zu setzen, um dem Ausland schließlich auf Augenhöhe begegnen zu können:

„Und wir müssen nicht einmal wie Malaysia bis 2020 darauf warten, dass wir ein entwickeltes Land werden. Wir können das schneller.“ (am 30.9.03, zitiert nach Pasuk/Baker, S. 100)

Entsprechend seiner Devise, alles sei nur eine Frage des richtigen Managements, will Thaksin von objektiven Beschränkungen seines Landes in der internationalen Konkurrenz gar nicht viel wissen – stattdessen attestiert er ihm eine Reihe von Stärken. Diese müssen erst gar nicht auf Tauglichkeit für den ihnen zugewiesenen Zweck hin untersucht werden, sondern ergeben sich für ihn schlicht daraus, dass sie sich bisher – wenn man bei solch einer Art der Einordnung bleiben will – als Schwächen erwiesen hatten!

So gesehen lässt sich eine Menge an „Potentialen“ finden, denn es gab und gibt in der Tat weite Bereiche der nationalen Arbeitsleistung, die von jeher quasi autark vonstattengehen: Selbst- und Nachbarschaftshilfe bei Bau und Reparatur (es gibt im ländlichen Raum bis heute noch keine professionellen Handwerksbetriebe des konstruktiven Fachs außer dem Elektriker, weil man dessen Materie nicht sehen kann und möglichst auch nicht anfassen sollte), Gemüse- und Kleintierzucht zum Eigenbedarf und als Nebenerwerb für die Oma, die sich mit den Produkten an die Straße setzt u.v.a.m. – allesamt Arbeit, die gerade die unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten deckt, meist gar keinen Geldkreislauf, geschweige denn eine „Aufwärtsspirale“ von zusätzlicher zahlungsfähiger Nachfrage und erhöhter Wirtschaftsleistung in Gang setzt, von der auch noch der Staat profitieren könnte. Aber auch Bereiche, die durch die kapitalistische Entwicklung unter die Räder gekommen sind, allen voran die Landwirtschaft, deren Bedeutung für die Nationalökonomie ebenso geschwunden ist wie die Ertragskraft, ihren Betreiber zu ernähren (s.u.), zeugen nur von vernachlässigten und ungenutzten Potentialen. All diese müssten nur für die Nation und ihren Aufschwung so richtig entwickelt und genutzt werden:

„Ich möchte erreichen, dass wir mehr Einkommen aus Landwirtschaft, Manufaktur und Dienstleistungen erzielen, indem wir unsere eigenen vorhandenen Stärken zum Einsatz bringen.“ (Am 28.4.01, ebd., S. 101)
„Asiatische Fähigkeiten, ästhetische Fertigkeiten, einzigartiges heimisches Know-how, Wissen und Engagement, kombiniert mit modernem Design der Weltklasse, Spitzentechnik, entsprechende kosteneffektive Verfahren, modernes Verpackungswesen und hochentwickelte Beherrschung von Marketing und Internet werden der Schlüssel sein zu einer neuen Seidenstraße und den neuen peppigen Lebensstilen.“ („Next generation Asia“, Rede am 9.5.01, zitiert nach „The Nation“, 10.5.01)

Beste Aussichten also für das „einzigartige heimische Know-how“, auf die Überholspur des globalisierten Markts zu wechseln. Es müsste z.B. nur der dörfliche Korbflechter instand gesetzt werden, die (doch wohl ebenso genuin „asiatische“) Plastikware aus dem Feld zu schlagen – oder er tritt gleich die Flucht nach vorne an und erobert die Flughafen-Boutiquen und Asia-Designshops der westlichen Großstädte mit seinem attraktiv verpackten Geflecht.

Diese phantastische Metamorphose soll dadurch zustande kommen, dass jeder im Lande sich selbst als Unternehmer versteht und verhält: Noch in der kleinsten Hütte des Landes solle statt borniertem Herumwerkeln risikofreudige entrepreneurship Einzug halten. Jeder solle seinen Erwerb nach rein profitlichen Kriterien beurteilen und einrichten, und falls er dazu nicht taugen sollte, eben die „Anlagesphäre“ wechseln, so wie es das Kapital vormacht. Dass es auch noch Leute braucht, die sich die Arbeit machen, diese Gewinnchancen zu materialisieren – eine lohnabhängige Klasse –, kommt in seiner frohen Botschaft unternehmerischer Schöpfungskraft freilich nur als das Gegenteil vor – als die Chance, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien:

„Wenn ich regiere, werde ich den Menschen, die die Neigung und Fähigkeit zum Unternehmertum besitzen, diese Wahl ermöglichen, damit Menschen, die jetzt Gehälter verdienen, die Gelegenheit bekommen, ihren Dienst zu quittieren und Unternehmer zu werden, ohne ein zu großes Risiko damit einzugehen.“ (Matichon Sutsabda, 11.9.1998)

Die Lohnabhängigen mögen ruhig kündigen Kapital bleibt dagegen unverzichtbar:

„Kapitalismus braucht Kapital – ohne Kapital kein Kapitalismus. Wir müssen Kapital in den ländlichen Raum puschen.“ (21.8.03, zitiert nach Pasuk/Baker, S. 115 )

Und dies ist dann die reale Hauptseite des Thaksinschen ökonomischen Programms: Er öffnet die vorher vom IWF versiegelten Schleusen des nationalen Kredits. Die Hauptpunkte seiner ökonomischen Agenda:

  • Übernahme aller faulen Kredite durch eine „Bad Bank“ in Staatshand (Thai Asset Managament Corporation), dadurch Wiederingangsetzung des Kreditgewerbes;
  • Kredite für Straßenhändler und andere Kleinunternehmer (Government Savings Bank)
  • Schuldenmoratorium für Kleinbauern;
  • 1-Mio.-Baht-Kredit für jedes Dorf im Land – mit der Auflage, sich was Sinnvolles dafür auszudenken;
  • Anschubfinanzierung dörflicher Spezialitätenproduktion in Form von (handwerklichen oder landwirtschaftlichen) Kooperativen (One Tambon One Produkt – OTOP).

Inwiefern der Kredit, in Regionen und Wirtschaftsbereiche gestreut, von denen das Kapital bisher mangels Verwertungsaussicht die Finger gelassen hatte, oder die bereits durch den Kredit in den Ruin geraten waren, zumindest langfristig zu der von Thaksin anvisierten Erfolgsstory geführt hätte, lässt sich nicht mehr nachweisen. Manchen Beobachtern erschien das schon damals als hinausgeworfenes Geld, laut Statistik tragen die stimulierten Neugründungen in den Jahren seiner Regierung nur minimal zum Aufschwung bei.[12] Zunächst geht es sowieso in erster Linie darum, die bereits aufgehäuften Schulden auf die Staatskappe zu nehmen, und damit, wenn überhaupt irgendetwas, dem kleinen Kreislauf des Konsums ein wenig unter die Arme zu greifen. Aber viel wichtiger noch: Die wirklich durchschlagende Wirkung seines Programms vollzieht sich in der Sphäre der politischen Herrschaft. Die macht nationalökonomische Vor- und Nachteilsrechnungen schnell irrelevant, denn seitdem entscheidet über die Beurteilung staatlicher Wirtschaftsmaßnahmen nur noch, welche Regierung sie ins Werk setzt und – das war für die Opposition gegen Thaksin ein und dasselbe – welchem Lager sie folglich zum eigenen Machterhalt und -ausbau dienen: Entwicklungspolitik ist dann Populismus, Sektorförderung dann Günstlingswirtschaft und Kaufkraftstärkung Wählerkauf, je nachdem.

Das Thaksinsche Programm findet, insbesondere in dem von ihm erstmalig ausdrücklich adressierten ländlichen Raum, eine überwältigende Anhängerschaft, denn die dortige Bevölkerungsmehrheit ist zuallererst schon allein dadurch von ihm und für ihn eingenommen, dass er sie überhaupt in seine (national)ökonomischen Rechnungen einbezieht – und ihnen dafür, für ihre stärkere Nutzbarmachung nämlich, auch materielle Unterstützung zukommen lässt. Dementsprechend sieht sie sich auch noch durch eine nahezu kostenlose staatliche Gesundheitsversorgung bedacht, die Thaksin ihnen denkt schuldig zu sein, wenn er sie schon allesamt in das Geschirr der nationalen Wirtschaftsleistung spannen will. Und dann halten es die Massen auch noch kaum für möglich, dass er, kaum an der Regierung, alle seine Ankündigungen glatt wahrmacht – alle drei Dinge sind schließlich bis dato unerhörte Vorgänge in der thailändischen Politik.[13] Die so wertgeschätzten Massen vom Lande zahlen ihm all das mit nachtragender Dankbarkeit zurück.

Um die politische Wirkung nachzuvollziehen, die Thaksin vor allem bei der ländlichen Bevölkerung erzielt, ist ein Blick auf die materielle Lage nützlich, in der sich die Bauernschaft zum Zeitpunkt seines politischen Auftretens befindet – insbesondere deren größter und für das Land traditionell bedeutsamster Teil, die Reisbauern.

Das Elend des Landvolks

Die thailändische Reisproduktion wird schon Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Weltmarkt ausgerichtet und Thailand wird zu einem der größten Lieferländer: 1986 steigt das Land zur Exportnation Nr. 1 für dieses elementare Nahrungsmittel auf. Erkauft wird diese Marktführerschaft ausschließlich durch extensive Erweiterung in Form von verschwenderischer Umwidmung von Natur- in Ackerflächen. Deren Produktivität, in Ertrag pro Fläche gemessen, stagniert jedoch zugleich bzw. geht sogar in dem Maße zurück, wie zunehmend auch schlechtere Böden in benachteiligter Lage unter den Pflug genommen werden. In punkto Ertragskraft hält der Exportweltmeister die rote Laterne, weit hinter Japan und China, aber selbst hinter Nachbarländern wie Myanmar. Die preis-egalisierende Wirkung des Weltmarkts hat zur Folge, dass das Produkt des thailändischen Bauern nicht annähernd halb so viel erlöst wie das seines japanischen oder chinesischen Kollegen mit gleicher Anbaufläche – zunächst unabhängig davon, wie viel von dem Handelserlös überhaupt an ihm hängen bleibt. Diese hoffnungslose Konkurrenzsituation ist ein Kollateraleffekt des Booms, der Thailand seit Mitte der 80-er Jahre zum „Tigerstaat“ aufsteigen lässt.

Es ist die Eigenart dieser Feldfrucht, in dieser Klimazone überhaupt nicht von Jahreszeiten abhängig zu sein – so dass auch bis zu drei Ernten pro Jahr möglich sind –, dafür aber vollkommen vom genau für die jeweilige Phase der Wachstumsperiode benötigten Wasserstand, und das vor allem während der Pflanz- und der Erntezeit: Zu viel Wasser kann ebenso verheerende Wirkung auf die gesamte Ernte haben wie zu wenig. Eine Reiswirtschaft, die von der jährlichen Regen- und Überschwemmungsperiode abhängig ist, muss daher bestenfalls mit einem Drittel des möglichen Ertrags zurechtkommen, schlechtestenfalls droht der Totalverlust. Um die Erträge zu erhöhen oder zumindest zu sichern, sind Regulierungs- und Speichersysteme – um mehrere Ernten einzufahren, entsprechend größere – unabdingbar. Aufgrund des hohen Investitionsbedarfs und der Weitläufigkeit solcher Systeme – und der damit gegebenen bodenrechtlichen Implikationen – sind solche Maßnahmen für den privat wirtschaftenden Bauern jedoch grundsätzlich außerhalb seiner Reichweite.[14] Den individuellen Kleinproduzenten ist somit die erste und grundlegende Methode zur Verbesserung ihres Ertrags grundsätzlich verwehrt, denn sie erfordert planwirtschaftliche Intervention als staatliches Infrastruktur-Projekt bzw., unter ausnahmsweise günstigen Voraussetzungen hinsichtlich Lage und Losgröße, zumindest eine entsprechend starke Kapitalbasis.

Beides wird den Reisproduzenten unter der generalstabsmäßigen Prioritätensetzung auf die Entwicklung der industriellen Exportindustrie grundsätzlich verwehrt, wobei der parallele Verfall des Reispreises auf dem Weltmarkt die gesamtwirtschaftliche Bedeutung dieses Sektors zusätzlich zum Schwinden bringt. Der Staat setzt alle Aufmerksamkeit und Mittel auf die Förderung des industriellen Sektors; das „Rice Department“ des Landwirtschaftsministeriums wird aufgelöst und „Agrarpolitik“ – vor allem, wenn sie etwas kostet, was sie in aller Regel tut – ist praktisch out; stattdessen werden die Bauern mit königlichen Ermahnungen zur selbst organisierten Genügsamkeit versorgt.[15] In Anbetracht dessen, dass der Anteil des Reisexports am Gesamtexportvolumen des Landes auf relativ unbedeutende 7 % abgesunken ist, ist der Entzug jeder staatlichen Betreuung sicherlich für das Staatsinteresse locker zu verantworten; der Umstand, dass weiterhin die Hälfte der Bevölkerung am Tropf dieses darbenden Wirtschaftszweigs hängt, ist da kein Einwand.

Die die Zeichen der Zeit erkennenden, sich stürmisch in Industrie, Immobilien und Dienstleistung für den aufkommenden urbanen Bedarf engagierenden Kapitalisten sehen erst recht keine Veranlassung, in die kränkelnde Reisbranche mit ihren minimalen Margen zu investieren. Soweit, etwa in begünstigten Lagen der Tieflandebene um Bangkok, eine Übernahme des Reisanbaus in kapitalistischen Großgrundbesitz stattgefunden hat, ziehen es die Eigner vor, die realisierten Überschüsse in Shrimps-Farmen oder Shopping Malls zu reinvestieren oder das Land für Housing Estates oder Industrial Zones umzuwidmen. So bleibt denn dem Gros der Reisbauern nicht trotz, sondern wegen ihrer armseligen wirtschaftlichen Existenz das Schicksal der Enteignung erspart, und sie können weiter über ihr Land verfügen – aber auch nicht über mehr als eben dieses.

Während sie zu Zeiten der Subsistenzwirtschaft darüber entschieden haben, inwieweit sie ihre Ernte zum Tauschhandel bringen oder zum eigenen Konsum oder Wiederanbau bevorraten, sind sie unter dem Diktat der Geldwirtschaft zum sofortigen Abverkauf an Handelsunternehmen gezwungen, die ihre faktische Monopolstellung großzügig nutzen, um die Abnahmepreise auf ein Minimum zu drücken. Da somit keine reinvestierbaren Überschüsse bei ihnen verblieben, sind die Bauern von einer naturabhängigen Subsistenz zu einer marktabhängigen Subsistenz übergegangen, deren Ergebnisse bestenfalls das Weitermachen ermöglichen. Die Einkünfte gehen für die vom Geld abhängig gewordenen Bedarfsgüter drauf und reichen höchstens noch für die Ausbildung der Kinder, von der man sich eine bessere Zukunft erhofft.

Dass diese, dem Ruf neuer lohnabhängiger „Gelegenheiten“ in den aufkommenden industriellen Wirtschaftszweigen folgend, in Scharen die elterlichen Schollen verlassen (und gerade mal ihre Säuglinge zurücklassen), erhöht auf den Feldern die Notwendigkeit, menschliche Arbeitskraft durch mechanische Hilfen zu substituieren und die individuelle Arbeitsproduktivität mit agrochemischen Mitteln zu erhöhen – die selbstverständlich allesamt zugekauft werden müssen. Der Mangel an eigenen Mitteln hierfür zwingt sie in den Kredit, der ihnen jedoch nicht gewährt wird, jedenfalls nicht zu marktgängigen Konditionen: Dem regulären Kreditgeschäft sind die Sicherheiten völlig unzureichend, die lediglich in ihrem Boden bestehen – soweit sie über den überhaupt mit verpfändbaren Eigentumsrechten verfügen (der Übergang von geduldeter Nutzung des Bodens zu handelbarem Eigentum vollzieht sich heute noch). Sie verfallen somit lokalen Wucherern, die gar nicht erst mit dem späteren Rückfluss der Grundsumme kalkulieren, sondern mit Zinssätzen von ca. 20 % pro Monat (!) danach trachten, diese bereits nach einigen Monaten wieder einzusaugen, mit der Option auf Fortsetzung bis zum Ruin des Schuldners. Die örtlichen Schullehrer tun sich in diesem Erwerbszweig besonders hervor, da sie großenteils rechnen können.

Gegen Ende der 90-er Jahre, im Verlauf der „Asienkrise“, verschärft sich die Lage der Bauern abermals dramatisch: Der Reispreis stürzt ab, während zugleich, infolge der massiven Abwertung des Baht, die Kosten für importierte Hilfsgüter steigen. Millionen der in die Lohnarbeit abgewanderten Angehörigen verlieren ihre Jobs, so dass sie, anstatt die heimische Landwirtschaft weiter querzusubventionieren,[16] aufs Land zurückkehren und den heimischen Haushalten zusätzlich auf der Tasche liegen. Es häufen sich die Armutsaufstände, in denen die Bauern Highways blockieren und in Massen auf Traktoren und Pickups in die Hauptstadt strömen. Es kommt bis zu 1000 solcher Demonstrationen pro Jahr, meist koordiniert von der „Assembly of the Poor“, einem Zusammenschluss aller, die durch die Industrialisierungspolitik unter die Räder gekommen sind: überschuldete Bauern, durch Großprojekte von ihrem Land gejagte Siedler, ihrer Fanggründe beraubte Binnen- und Küstenfischer etc. Zugleich mit ihrer materiellen Misere bringen sie mit der Form dieser Proteste auch ihre politische Mittellosigkeit zum Ausdruck:

„Die Macht des Soldaten liegt in seinem Gewehr. Die Macht des Geschäftsmanns liegt in seinem Geld (…) Nach unserer Erfahrung liegt die Macht von uns Armen in unseren Füßen.“ (Armensprecher Wiraphon Sopha, zitiert ebd., S.220)

Oder: Nur Gewalt und Kapital sind gültige Mittel der Interessendurchsetzung – uns bleibt nur die bloße Physis.

Die Erhebung des elenden Landvolks in den Status von (gleich)berechtigten Staatsbürgern

Das Programm der Regierung Thaksin zielt nicht nur darauf, die Masse der traditionell elenden bzw. frisch verelendeten Bevölkerung für eine produktive nationale Wirtschaftsentwicklung in Anspruch zu nehmen, also zusätzliche, und zwar heimische Menschen-„Potentiale“ zu erschließen, die dazu beitragen sollen, aus dem thailändischen Sektor der internationalen Handels- und Kapitalströme die ökonomische Basis einer erfolgreichen nationalen Akkumulation zu machen. Thaksins politische Bezugnahme auf die Landbevölkerung will – deswegen – von dieser keineswegs, wie vordem üblich im Lande, lediglich die Wahlstimmen abholen. Er will sie vielmehr in seine Politik der nationalen Erneuerung einbinden, d.h. die ehedem nur passiven underdogs zu anerkannten Staatsbürgern machen. Als solche sollen sie seiner Partei zugleich den Status der dominierenden „Staatspartei“ sichern und auf die Weise die Machtfrage zu seinen Gunsten (mit)entscheiden. Thaksin und seine Mannschaft tun alles dafür, diesen social contract anzufeuern; das Ergebnis ist eine Politisierung des Landes ohnegleichen. Lückenlose Medienpräsenz und in die hintersten Winkel des Landes strömende Kampagneteams sorgen dafür, dass der Mobilisierungsmission für alle verehrten Thai-Brüder und -Schwestern

„Lasst mich das Wissen und die Erfahrung meines Lebens nutzen, um die Probleme der Bevölkerung zu lösen“

– niemand entgehen kann; ein moderner „Parteienforscher“ hätte seine helle Freude daran, wie professionell in diesem ersten Programmwahlkampf der Thai-Geschichte die „Wähler mitgenommen“ werden. Und auch während seiner Amtszeit versäumt Thaksin es nicht, dem staatsbürgerlichen (Selbst)Bewusstsein seines Volks unter die Arme zu greifen und durch praktische Maßnahmen zu bekräftigen, dass seine Partei auf es und seine produktiven Kräfte setzt: kostenlose PCs für Schüler, Fahrräder für Kinder mit weitem Schulweg, Solarkollektoren noch für das entlegenste Dorf – da das TV-Gerät in diesem Land wichtiger ist als die Beleuchtung, kann damit jeder rund um die Uhr „connected“ bleiben. Dazu der Regierungschef zum Anfassen: tournusmäßige Kampagnenreisen und öffentliche Kabinettssitzungen in den Provinzen – ein greller Kontrast zu den vormaligen politischen Eminenzen, die sich allenfalls auf Wahlplakaten hatten blicken lassen.

Die so Angesprochenen wählen nicht nur – sie machen mit. Ein Schneeball-Einwerbesystem sorgt dafür, dass die Partei mit dem Slogan Neu denken, neu handeln, für jeden Thai schon vor der ersten Wahl 8 Millionen Mitglieder zählt (Gesamtbevölkerung gut 60 Millionen), ein Quantensprung für ein Land, dessen Parteien bisher lediglich Wahlbündnisse interessierter Patrone gewesen sind und dessen Wähler sich bisher gehütet haben, Loyalität zu einer von ihnen schon vor der Wahl einzugehen – zumindest so lange noch die Chance bestand, dass dafür zumindest ein Kochtopf rüberkommt statt nur ein Trinkglas mit Partei-Logo von der Konkurrenz. Die Bindung greift:

„Ich habe von dem 30-Baht-Gesundheits-Plan profitiert (= die von Thaksin eingeführte pauschale Gebühr pro Krankenhausbehandlung). Ich bin Thaksin sehr dankbar. (…) Wir sind glücklich über diese Art Politik, und wir fühlen, dass er uns eine Wichtigkeit zuerkannt hat. Vorher hat niemand auf unsere Interessen geachtet.“ [17]

Mit dieser stabilen und aktiven Basis kommt die TRT schon auf Anhieb (2001) knapp zur absoluten Mehrheit, 2005 zur Zweidrittelmehrheit, und sitzt schließlich, nach den Neuwahlen 2006, fast alleine im Parlament, da die zuvor relevanteste Oppositionspartei der „Demokraten“ erst gar nicht mehr angetreten ist. Damit lässt sich Staat machen.

Jedoch: Es gibt schon einen Staat, eine Führung, und auch ein Volk.

Wem gehört der Staat?

Es entbrennt sofort ein Kampf um die Schaltstellen der Macht, der nicht nur die grundsätzliche Relativität von Wahlmehrheiten erweist, sondern auch die Unvereinbarkeit von Thaksins unumschränktem Weisungsanspruch mit einem Herrschaftsapparat, dessen Träger – allen voran das Militär – in allen direktiven und personalen Fragen weitgehend unabhängig von jeglicher Exekutive agieren und diese jederzeit aus eigener Hoheit zu Fall bringen können. Und die ihr Herrschaftsamt nicht nur ausüben, sondern auch von ihm leben: Schön nach den Stufen der Hierarchie gestaffelt, übersteigen die Nebeneinkünfte „aus Beteiligung an der Herrschaft“ die jeweiligen regulären Gehälter der Staatsagenten zumeist um ein Vielfaches.

Thaksin macht sich sofort daran, den Apparat unter seine Kontrolle zu bringen, was wiederum aufgrund von dessen Struktur nur durch günstige „Arrangements“ mit den vorhandenen oder durch Betätigung von eigenen Seilschaften möglich ist. Es hebt eine Personalschlacht an, die stets dann kulminiert, wenn altgediente Amtsanwärter, die sich eigentlich an der Reihe sehen, niedere Chargen oder gar Verwandte von Thaksin auf der Karriereleiter an sich vorbeiklettern sehen. Es ergibt sich von selbst, dass den wechselweisen Vorwürfen bei solchen Auseinandersetzungen darüber, wem legitimerweise die Herrschaft gebührt, nichts Politisch-Programmatisches anhaftet, sondern sie sich darin erschöpfen, die Gegenseite der einseitigen Einfluss- und Vorteilsnahme – kurz: der notorischen „Korruption“ – zu bezichtigen. Dabei können dann schon mal ‚ökonomische Argumente‘ wie dasjenige, Thaksins Wirtschaftspolitik habe das Land ruiniert, die feststehende Kampfansage an den politischen Rivalen bebildern.

Der bestehende Herrschaftsapparat hat aber auch sein Volk, das den Widerstand gegen Thaksins Dominanz auf einen grundsätzlichen politischen Nenner bringt. Dieses Volk besteht vorwiegend aus den Bewohnern Bangkoks und des industrialisierten Umfelds sowie der südlichen, recht prosperierenden Großplantagenregionen – abzüglich der aus den Armenregionen zugewanderten Löhner, Taxi- und Tuktukfahrer, die Thaksin die Stange halten. Jene Bevölkerungsschichten, die über die nötigen Erfolgsmittel verfügen, sind mit dieser Herrschaft cum grano salis recht gut gefahren und können sie insofern auch als ihren Staat betrachten.

Thaksins Regierung, mit der Ankündigung angetreten, aus dem ganzen Volk ein Volk von Gewinnern zu machen, hat denn auch, wie seine Gegner schon vorher wussten, tatsächlich eine Reihe von Verlierern hervorgebracht – und zwar auch unter denjenigen, die etwas zu verlieren hatten. Das sind zunächst Kollegen aus der Unternehmerklasse, die sein Versprechen, das Land ausschließlich kapitalistischen Prinzipien zu unterwerfen, anfänglich emphatisch unterstützt haben, sich jetzt jedoch auf den harten Boden der Konkurrenz zurückgeworfen sehen. Zudem müssen sie erkennen, dass sie als Unterstützer einfach zu viele geworden sind, um als Günstlinge weiter gehalten werden zu können. Thaksin hat das bis dato übliche, durch wechselnde Koalitionen arrangierte Proporzsystem politischer Zuteilung zugunsten seiner ausschließlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungshoheit abgeschafft, und diese legte ihm des Öfteren auch nahe, den eigenen Unternehmen qua bereits erwiesener „Erfolgstüchtigkeit“ den Vorzug einzuräumen.

Die enttäuschten Konkurrenten bilden die Vorhut einer Anti-Thaksin-Koalition aus verschiedenen Interessenlagen, aber mit gemeinsamem Feindbild: Medienleute, denen Thaksin in seiner Interpretationshoheit über die Interessen der Nation übers Maul gefahren ist, Intellektuelle, die sich um die politische Hygiene und Ausgewogenheit sorgen, aber auch Grassroot-Aktivisten, die feststellen, dass die industriellen Großprojekte nun noch größer geworden sind, und Belegschaften von staatseigenen Betrieben, die sich der unter seiner Regie nochmal beschleunigten Privatisierung ihrer Betriebe widersetzen. Die Quelle all dieser Unzufriedenheiten ist keine substanziell neue, auch vorherige Regierungen hatten von entsprechenden Maßnahmen freizügig Gebrauch gemacht. So wären auch die Widerstände dagegen vereinzelt geblieben, hätte nicht Thaksins Monopolisierung der Macht das Motiv abgegeben, sie zu einer Front zusammenzuführen. Der zahlenmäßig überwältigende Zuspruch der Wählermassen, mit dem er seine Macht legitimiert, schlägt nun voll gegen ihn zurück – als Vorwurf, sich den ganzen Staat unter den Nagel reißen zu wollen.

Auch Menschen, die gar nicht zu irgendeiner bedrohten „Elite“ gehören und gar keinen speziellen Nachteil aus seiner Amtsführung gezogen haben, schließen sich der Koalition an. Sie sorgen für eine gewisse kritische Masse und Breite der oppositionellen Bewegung, die sich hinter der einigenden Generallosung versammelt, den Nationalismus der bestehenden Ordnung zu organisieren – auf eine griffige Formel gebracht: der Emporkömmling wollte gar ihrem König an den Karren fahren. Damit entsprechen sie dem höchsten Gebot der nationalen Werteordnung, das die Verehrung des Königshauses als absoluten Fixpunkt jeglichen patriotischen Denkens verordnet. Zur Veranschaulichung der drohenden Gefahr werden sie mit dem Gerücht beliefert, Thaksin habe in Finnland mit ehemaligen kommunistischen Studentenführern ein Komplott zum Sturz der Monarchie geschmiedet.

Das Imperium schlägt zurück

Das Volk Nr.1 steht auf, um seinen Staat zu retten – gegen seine Regierung, die es der feindlichen Übernahme bezichtigt. Es übernimmt den Part, das öffentliche Leben lahmzulegen und die Regierung damit vor den Zwang zu stellen, die öffentliche Ordnung nur durch Anwendung von Gewalt aufrechterhalten zu können – was sie aber ohnehin nicht vermocht hätte, da der Gewaltapparat ihr die Loyalität verweigert. Die Demonstrationen und Belagerungen haben dementsprechend den Charakter nationaler Großkundgebungen: ins höchste Recht gesetzt, gut organisiert, gesponsort und abgesichert. Da kann, ja soll jeder mitmachen, dem diese Nation oder auch bloß der König am Herzen liegt, und selbst ansonsten eher harmlose Zeitgenossen folgen dem Ruf, mittels öffentlichem Aufruhr der Regierung das Dach über dem Kopf anzuzünden.

Die Generalität bereitet unterdessen den Putsch vor, spricht sich mit dem Königshaus ab (das seine Komplizenschaft nicht erwähnt sehen will) und schwört seine Kohorten auf den Inlandseinsatz ein:

„In der Vergangenheit kämpften wir gegen Kommunisten, Feinde, deren Identität und Herkunft wir kannten. Jetzt aber haben wir es mit einem internen Feind zu tun, der dem Bösen entstammt, der der Gier, dem Egoismus und dem Mangel an Ethik und Moral entsprungen ist. (…) Es gibt immer noch eine starke politische Gruppe, die schamlos alles so hindreht, dass es der Hoheit seiner Majestät zuwiderläuft. Es ist ganz klar: Das sind absolut keine echten Thailänder (...) Wir werden mutig sein und mit Freude den Kampf aufnehmen.“ (Gen. Saprang Kalayanamit. 25.7.2006, zitiert nach Pasuk/Baker: Thaksin, S. 279)

Allzu große Tapferkeit ist nicht mehr erforderlich, nachdem die Panzer gegen die Thaksin-treuen Garnisonen gerollt sind, während der feindliche Führer bei der UN in New York eine Rede hält. Jedoch: Das fremde Volk steht immer noch im eigenen Land.

Zweimal wird Thaksins Partei nach seiner Entmachtung verboten und ihre Funktionäre werden aus der Politik verbannt. Jedes Mal formiert sie sich unter neuem Namen und mit neuer Mannschaft neu und wird mit klarer Mehrheit wiedergewählt, das Land folglich unregierbar gemacht und die Regierung wieder weggeputscht. Unter dem Eindruck der sich wiederholenden Ereignisse hat die Parole ihrer Anhängerschaft sich von der personalen Loyalität zu ihrem Führer, der seit 2008 im Exil lebt, etwas abgelöst und prinzipiellere Züge angenommen – sie reklamiert zunehmend Demokratie:

„Sie machten ihrem Ärger Luft über die ‚doppelten Standards‘, womit sie die ungleiche Behandlung von Gelb und Rot[18] durch die Gerichte und die Armee meinten, aber noch grundsätzlicher die Ungleichheiten in der ganzen Gesellschaft. Sie nannten sich selbst ‚phrai‘ und ihre Gegner ‚ammat‘, feudale Begriffe für Diener und Herr, um den Paternalismus der Bürokraten und bürokratisch eingestellten Politiker aufs Korn zu nehmen. (…) Sie hatten gelernt, Wahlen zu schätzen, als ein Mittel, um einen größeren Anteil zu erreichen. Wie es ein Teilnehmer ausdrückte: ‚Die Leute in Bangkok haben schon ein gutes Leben, sie brauchen keine Wahlen, um etwas zu ändern, aber wir brauchen sie‘.“ (Pasuk/Baker: A history of Thailand, S. 277)

Die „Roten“ haben also die demokratischen Wahlen schätzen gelernt, als Inbegriff und Ausweis der rechtlichen Gleichstellung, als Chance, eine Partei der ‚Ihren‘ an die Regierung zu bringen und als – einziges – Mittel, auch den eigenen materiellen Status ein wenig zu verbessern. Sie präsentieren sich als treue Anhänger Thaksins und der von ihm veranstalteten Mobilisierung des anderen, des unteren Volkes für das Vorankommen des geliebten Thailand. Er und seine Partei haben schließlich nicht nur die Beförderung der Thais zu anerkannten politischen Bürgern versprochen, sondern ihre Wertschätzung als Volksteil, der national produktiv(er) zu machen ist, auch praktisch mit einigen sozialen Maßnahmen verknüpft und gefördert.

Bangkoks Bourgeoisie hingegen und die sonstigen „Gelben“ um sie herum haben diesen Standpunkt des „roten“ Volks und die darin wahrgenommenen Forderungen als ein einziges Missverständnis von ordnungsgemäßer, guter und vor allem echt thailändischer Herrschaft gebrandmarkt. In der ihr eigenen Art des elitären, rassistischen Urteilens erklärt dieses eigentliche, das obere Volk den Ruf nach Rückkehr zur Demokratie zum Ausdruck des geistigen und moralischen Defizits jener zurückgebliebenen „Wasserbüffel“, die eben zu primitiv seien, um in Verantwortung für die Nation denken und fühlen zu können; sie kröchen stattdessen dem Erstbesten auf den Leim, der ihnen etwas verspricht oder gar ausspuckt. Das beweise nur, dass sie weiterhin in der für sie vorbestimmten und passenden Abhängigkeit am besten aufgehoben sind. Immer neue Anregungen kursieren folglich, das Prinzip „One Man, One Vote“ über Bord zu werfen, da es zur thailändischen Gesellschaft einfach nicht passt.

Wie könnte sie aussehen, die genuin thailändische Demokratie mit dem König an der Spitze? Sollten die ländlichen Wählerstimmen gedrittelt oder abhängig vom Einkommen gemacht werden, oder der Bürgermeister für alle abstimmen? Könnte gar der König kandidieren – natürlich auf allen Listen gleichzeitig? Es ist die Aufgabe einer verfassungsgebenden Versammlung, sich über die institutionelle Ausgestaltung einer für Thailand angemessenen Demokratie Gedanken zu machen, und das erlauchte Gremium hat schon gleich als erste Amtstat reklamiert, dass sie dafür sehr viel Zeit braucht. Mittlerweile geht die Militärjunta das Gröbere an und zeigt dem falschen Volk, wo der Hammer hängt, um die ihm attestierte Dummheit in die richtige Richtung zu zwingen: Zurück zur Anbetung der Herrschaft in Gestalt ihres Monarchen.

[1] Seit dem Sturz des absoluten Monarchen durch ein Komplott von Herrschaftsagenten 1932 regiert das Militär die längste Zeit selbst bzw. durch von ihm eingesetzte „Technokraten“; gelegentliche gewählte Regierungen werden stets seiner Billigung unterworfen, andernfalls unverzüglich weggeputscht.

 Es gilt von Beginn an das politische Primat des Militärischen, mit dem der moderne thailändische Staat die Rückeroberung von Gebieten in Nachbarländern, die dem Land durch die Kolonialmächte abgepresst worden waren, an die Spitze seiner Agenda gestellt hat – nach dem 2.Weltkrieg unter der Patronage der USA. Die Alimentierung durch die USA zwecks Herrichtung des Landes zu ihrem strategischen Aufmarschgebiet im „Kampf gegen kommunistische Umtriebe“ – und später auch zum ökonomischen Frontstaat – bildete schließlich die Grundlage dafür, dass der Militarismus nicht nur integraler Bestandteil der Staatsräson, sondern auch des Staatsmaterialismus wurde: Der Staat verdiente an seinem Militär, anstatt es als Kostenfaktor ins Verhältnis zu seinem Budget setzen zu müssen, und das Militär selbst konnte sich auch ökonomisch als die selbständige Macht etablieren, die es bis heute ist.

[2] Mit diesem Gesetz beabsichtigte die Regierung, einen Schlussstrich unter die politische Konfrontation der vorherigen Jahre zu ziehen und eine „nationale Versöhnung“ einzuleiten; alle mit dieser Konfrontation zusammenhängenden Verurteilungen und Verfahren sollten aufgehoben werden. Dass die Amnestie sich auch auf den 2006 gestürzten ehemaligen Premierminister Thaksin bezogen hätte, machte der Opposition den politischen Versöhnungsakt jedoch unerträglich. Alles Wesentliche zu dieser Hassfigur im Fortgang dieses Artikels.

[3] Dass derselbe Suthep Thueagsuban als amtierender „gelber“ – d.h. dem militärischen Herrschaftsapparat dienender – Innenminister 2010 ein Blutbad anordnete, das über 90 Angehörige des Volkes das Leben kostete, sollte ihm nicht als Widerspruch angelastet werden, denn Volk ist nicht gleich Volk; mehr dazu im Folgenden.

[4] Die Staatsbürokratie, insbesondere der Justizapparat, bildet in Thailand eine selbständige, sich reihum gegenseitig selbst ernennende Kaste. Zur Abwehr unerwünschter Machtanmaßungen seitens der Legislative oder Exekutive hat sie sich ein Gesetzeswerk geschaffen, das ihr, in größtmöglicher Freiheit der Auslegung, die Macht einräumt, ganze Regierungen des Amtes zu entheben, Wahlen für ungültig zu erklären, Amtsträger auf Jahre aus politischer Betätigung zu verbannen etc. Dass die bizarre Unverhältnismäßigkeit ihrer Urteile mitunter den Eindruck blanker Justizfarcen erweckt, braucht sie nicht zu befürchten, wie z.B. die Amtsenthebung der Regierung Samak wegen dessen Teilnahme an einer TV-Kochshow im Jahr 2008 zeigt.

[5] http://winfuture.de/news

[6] Der Militärdiktator Sarit hat in den 60-er Jahren das seit 1932 politisch unbedeutende Königshaus als unbedingten Gegenstand nationaler Verehrung neu installiert, um dem von der Bevölkerung eingeforderten Nationalismus einen verbindlichen personalen Bezugspunkt zu setzen, da die Masse der Untertanen – so Sarits Befund –, bis dato nur in lokalen Abhängigkeiten lebend und denkend, zum Verständnis des Abstraktums „Staat“ nicht fähig sei. Diese Restauration eines Quasi-Absolutismus im modernen Staat wurde von der befreundeten Weltführungsmacht nach Kräften unterstützt und wird auch in der restlichen demokratischen Welt als „Stabilitätsanker“ bewundert.

 Die den erzwungenen Personenkult flankierenden „lèse majesté“-Gesetze dienen weniger dazu, Beleidigungen des Königs zu ahnden, als vielmehr dazu, in umgekehrter Logik jegliche Einwände gegen die staatliche Ordnung pauschal als Beleidigung des Königs zu bewerten und mit 15 Jahren Haft zu ahnden.

[7] Eine Szene daraus, in der ein Knabe fröhlich an einem Hitler-Portrait pinselt, wird von der Auslandspresse als „Fehlgriff“ ausfindig gemacht, und der israelische Botschafter ist verschnupft.

[8] So der Polizeigeneral Adul Saengsingkaew, Minister für Sozialentwicklung und humane Sicherheit, zitiert nach http://passauwatchingthailand.com

[9] In Thailand werden Personen i.d.R. nach ihrem Vornamen benannt, unabhängig von ihrem Status. Mit Ausnahme des Königs; den nennt man sinngemäß „Allmächt!“.

[10] Mit der Ausrichtung des Staats auf exportorientierte Industrialisierung drang die aufkommende Bourgeoisie zunehmend auf Teilhabe an der politischen Herrschaft, und in den 90-er Jahren überwogen zivile, gewählte Regierungen. Diese Ära wird gemeinhin als die der „Money Politics“ charakterisiert: Dass der Staat sich zunehmend aus dem Betreiben strategischer Wirtschaftszweige zurückzog, aber die Vergabe von Aufträgen und Lizenzen weiterhin kontrollierte, befeuerte die politischen Ambitionen der Kapitalisten enorm, denn es winkten aus solchen Quasi-Monopolen sagenhafte Extraprofite – beispielhaft dafür der Telekom-Sektor, in dem Thaksin selbst hochkam. Umgekehrt drängte die an die Schaltposten gelangte Unternehmerschaft stets vehement auf weitere Deregulierungen.

 Die Politiker und deren Parteien waren entsprechend aufgestellt: Wenn nicht gleich aus den Unternehmensvorständen entsandt, waren es von diesen bezahlte Lobbyisten. Bei solcher Interessenkonstellation war systematischer Opportunismus politisches Prinzip, Parteien- und Koalitionsbildungen entsprechend krude und labil, da Freunde schnell zu Feinden werden. Um ein wenig Ordnung in die politische Landschaft zu bekommen, wurde sogar eine Zeit lang ein einjähriger Turnus der Regierungsneubildung fest verordnet, damit jeder mal drankommt und die Koalition dann wenigstens ein Jahr überdauern kann.

[11] Es wurde ihm vorgeworfen, in Zusammenhang eines früheren politischen Interims-Engagements (1997/98) sein Vermögen nicht ordentlich deklariert zu haben. Das Verfahren wurde schließlich mit der Mehrheit einer Richterstimme abgebügelt, und das Zustandekommen dieser Richtermehrheit genießt seitdem einen ähnlich hohen Spekulationswert wie der ebenso unerwartete Tod Ludwigs II.

[12] Im Jahr 2002 zum Beispiel 0,7 % des Wachstums, s. Pasuk/Baker: Thaksin, S. 125

[13] Gemäß Umfragen nach den Wahlen waren viele Wähler der Ansicht, das TRT-Programm sei zu gut, um wahr zu sein‘. (Ebd., S. 98)

[14] Solche Einrichtungen, kollektiv betrieben, waren die ersten gemeindebildenden Projekte der alten Reisbauern-Kultur, aber das war noch vor dem Kapitalismus und der zentralgewaltlichen Sanktionierung des Eigentums an Grund und Boden!

[15] Der König hat einen Musterbauernhof entwickelt, der es ermöglicht, von nichts zu leben. Und das nicht für sich selbst – er hat ja Strom –, sondern als Vorbild für seine Landeskinder. Das zugrunde liegende Ideal einer Armutsexistenz im Rundum-Sorglos-Paket wurde dann als „Wirtschaftsphilosophie“ der Self-Sufficiency in die Verfassung aufgenommen und macht dort auch das Regime glücklich: Da es einer Wirtschaftspolitik ihrem Wesen nach unmöglich ist, dem damit verordneten Verzicht auf Kreditschöpfung und Wachstumsförderung nicht zuwiderzuhandeln, lässt sich der Verfassungsartikel ganz nach Bedarf gegen beliebige missliebige Regierungen in Anschlag bringen.

[16] In den 90-er Jahren entstammten, je nach Region, 2/3 bis 4/5 der Einkünfte der Bauernfamilien aus nicht-landwirtschaftlichen Erwerbsquellen, 43 % aus Lohnarbeit. S. Chris Baker, Pasuk Phongpaichit: A History of Thailand, Port Melbourne 2014, S. 214

[17] Ein Kundgebungsteilnehmer, zitiert nach Pasuk/Baker: Thaksin, S. 338

[18] Gelb und Rot sind die Signalfarben der gegnerischen politischen Lager, die auch oftmals abkürzend für deren Kennzeichnung verwendet werden. Das Gelb der „Royalisten“, also des Volks Nr.1, ist die Farbe des Königs, die auf die „Wochentagsfarbe“ seines Geburtstags (Montag) zurückgeht. Das Rot des Thaksin-Lagers wird entweder darauf zurückgeführt, dass es in der Nationaltrikolore für das „Volk“ steht oder seine Verwendung einfach mit seiner besonderen Auffälligkeit erklärt. Anderweitige politische Assoziationen mit „Rot“ gehen fehl.