Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Eine Woche ARD-Börsennachrichten
Der abendliche „Blick in die Welt des Geldes“ mit Anja Kohl und Co.

Kurz vor der Tagesschau und ihrem Blick auf Deutschland und die Welt wendet sich in der ARD regelmäßig zur besten Sendezeit noch eine andere Nachrichtenredaktion für circa anderthalb Minuten an die Fernsehzuschauer. Dann ist ‚Börse vor acht‘. Direkt vom Parkett der Frankfurter Börse schicken die Moderatoren das Angebot in die Wohnstuben der Nation, am Börsengeschehen ideell teilzuhaben.

Der Blick ist im Wesentlichen auf eine vier- bis fünfstellige Zahl ohne Maßeinheit fixiert, die deswegen so aufregend ist, weil ihr Auf und Ab gemeinhin den Gesundheitszustand der deutschen Wirtschaft ausdrückt, von dem ja, wie gleichfalls bekannt ist, letztlich die Zukunft von allen und allem abhängt. Die aufgeklärte moderne Gesellschaft versteht sich offenbar darauf, das Schicksal ihrer produktiven Anstrengungen den Bewegungen einer Zahl zu entnehmen, die zu denen in einem schon sehr aparten Verhältnis steht: Sie wird gebildet, indem nach bestimmten Regeln der Zuwachs bzw. Verlust an Geldreichtum zusammengezählt wird, den die Eigentümer der Anteilsscheine an den wichtigsten deutschen Unternehmen gegenüber dem Vortag verzeichnen. Diese Eigentümer sind die Welt des Geldes. Ihr Handeln bestimmt das Wirtschaftsleben mitsamt seinen menschlichen Anhängseln, ohne dass sie zu dem irgendeinen materiellen Beitrag leisten würden. Ihr produktives Tun besteht im rechtzeitigen Verkaufen und Kaufen der einmal von Firmen in die Welt gesetzten Wertpapiere, die darüber eine stets neue Bewertung erfahren, aus der sie dann entnehmen können, wie es um ihren Reichtum gerade bestellt ist.

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Eine Woche ARD-Börsennachrichten
Der abendliche „Blick in die Welt des Geldes“ mit Anja Kohl und Co.

Kurz vor der Tagesschau und ihrem Blick auf Deutschland und die Welt wendet sich in der ARD regelmäßig zur besten Sendezeit noch eine andere Nachrichtenredaktion für circa anderthalb Minuten an die Fernsehzuschauer. Dann ist ‚Börse vor acht‘. Direkt vom Parkett der Frankfurter Börse schicken die Moderatoren das Angebot in die Wohnstuben der Nation, am Börsengeschehen ideell teilzuhaben:

„Guten Abend, herzlich willkommen an der Frankfurter Börse. Schön, dass Sie auch heute wieder mit uns einen Blick in die Welt des Geldes wagen.“ (Alle Zitate, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus ‚Börse vor acht‘ in der Woche vom 20. – 24.6.16)

Der gewagte Blick ist im Wesentlichen auf eine vier- bis fünfstellige Zahl ohne Maßeinheit fixiert, die deswegen so aufregend ist, weil ihr Auf und Ab gemeinhin den „Gesundheitszustand der deutschen Wirtschaft“ ausdrückt, von dem ja, wie gleichfalls bekannt ist, letztlich die Zukunft von allen und allem abhängt. Die aufgeklärte moderne Gesellschaft versteht sich offenbar darauf, das Schicksal ihrer produktiven Anstrengungen den Bewegungen einer Zahl zu entnehmen, die zu denen in einem schon sehr aparten Verhältnis steht: Sie wird gebildet, indem nach bestimmten Regeln der Zuwachs bzw. Verlust an Geldreichtum zusammengezählt wird, den die Eigentümer der Anteilsscheine an den wichtigsten deutschen Unternehmen gegenüber dem Vortag verzeichnen. Diese Eigentümer sind die Welt des Geldes. Ihr Handeln bestimmt das Wirtschaftsleben mitsamt seinen menschlichen Anhängseln, ohne dass sie zu dem irgendeinen materiellen Beitrag leisten würden. Ihr produktives Tun besteht im rechtzeitigen Verkaufen und Kaufen der einmal von Firmen in die Welt gesetzten Wertpapiere, die darüber eine stets neue Bewertung erfahren, aus der sie dann entnehmen können, wie es um ihren Reichtum gerade bestellt ist.

Professionelle Kommentatoren haben es sich zur Aufgabe gemacht, allabendlich zu deuten, von welchen Ereignissen der wirklichen Welt sich das Börsengeschehen heute hat beeinflussen lassen und welche Wirkungen es umgekehrt auf jene zeitigt, wobei sie unumwunden zugeben, von irgendeiner Logik dabei keine Ahnung und im Übrigen an der auch gar kein Interesse zu haben:

„Frage: Ist die Börse nun ein Buch mit sieben Siegeln oder eigentlich ganz einfach?
Antwort: Da kann ich nur André Kostolany zitieren, denn keiner hat es schöner gesagt: ‚Die Börse ist kapriziös wie eine schöne Frau oder das Wetter. Sie versteht es, mit tausend Zauberkünsten zu schillern, um ihre Beute anzulocken, und in dem Augenblick, wo man es am wenigsten erwartet, zeigt sie einem die kalte Schulter. Mein Vorschlag: Man sollte die Launen kühl übergehen und vor allem keine logische Erklärung dafür suchen.‘“ (10 Fragen an ... Anja Kohl, boerse.ard.de)

Der Vorschlag wird von der ganzen Zunft beherzigt, und dennoch kriegt man, wenn man sich nicht von ihrer launigen Kommentierung ablenken lässt, die Logik des Börsengeschehens, die sie nicht sucht, innerhalb einer Woche vollumfänglich präsentiert.

Montag, der 20.6.

„Fußball-EM in Frankreich. Mit hartem Einsatz, dem offenbar nicht jedes Material standhält. Die Trikots der Schweizer gestern hatten etwas von löchrigem Käse und auch der Ball hielt den Spielerbeinen nicht stand. Beide Produkte stammen übrigens aus Herzogenaurach, aber von unterschiedlichen Herstellern: Adidas und Puma ernten Spott von den Sportlern und in den sozialen Netzen.“

Das ist die Welt, die jeder Mensch kennt, der sich auf dem Laufenden hält: In der bringt gerade kaputtgegangenes Spielzeug die Gemüter in Wallung. Wie wirkt das auf die ‚Welt des Geldes‘?

„Die Reputation mag leiden, die Zahlen tun es nicht.“

Gar nicht. Das ist deswegen eine Auskunft, weil offenbar irgendwie nichts zu nebensächlich ist, um nicht das Potenzial zu haben, die Börse zu beeinflussen. Schon drei Monate lang wirkt das schiere Bevorstehen der größten Nebensache der Welt, und zwar in die andere, positive Richtung:

„Die Vorfreude auf die Fußball-EM hält beim Blick auf die vergangenen drei Monate an. König Fußball hält zwar aktuell die Zahlen und die Aktien beider Unternehmen im Plus, aber die Trikots und die Bälle nicht zusammen. Das Plus sowohl bei Adidas als auch bei Puma heute ordentlich.“

Für die spannende Frage nach der Kursentwicklung hat sich heute also wieder die alte Börsenregel bewahrheitet: Wenn die Welt irgendetwas ein Gewicht beimisst, ändert sich der Kurs, oder er bleibt, wie er ist. Die Nützlichkeit eines Gebrauchsartikels mag den einen oder anderen interessieren, Vorfreude auf ein nationalistisches Spektakel mag empfinden, wer will – in der ‚Welt des Geldes‘, die dem Rest seinen Gesundheitszustand bescheidet, sind daran exakt zwei Dinge wesentlich: Wie es erstens um das Plus bei den Zahlen der Hersteller bestellt ist, weil an dem zweitens hängt, wie ordentlich selbiges bei denjenigen zu Buche schlägt, die Anteilsscheine am Betrieb der Hersteller in ihrem Portfolio haben.

Aber mit dieser doppelten Abstraktion von der Welt der materiellen Produktion und Konsumtion geht das Geschehen in der spannenden Welt der Couponschneider erst los, nur um sich davon noch meilenweit zu entfernen.

Am Dienstag, den 21.6.,

steht im Zentrum des Börsenberichts das Schicksal der VW-Aktie, weil diese „trotz“ Neuigkeiten bezüglich kostspieliger juristischer Konsequenzen des Diesel-Skandals kaum an Wert verliert:

„Vieles von dem, was sich jetzt an weiteren Klagen und Prozessen einstellt im VW-Skandal, war im Vorfeld eben schon zu erahnen gewesen. Und dass gerade die Anleger in den USA sich die herben Verluste, die sie durch den Abgasskandal erlitten haben, nicht gefallen lassen werden, das war ziemlich klar. Ja, bisher hat VW da ja immer darauf hingewiesen, dass man der Veröffentlichungspflicht in jeder Hinsicht nachgekommen ist. Aber die Veröffentlichungspflicht, die hängt eben von der Frage ab, ab wann der Vorstand von alldem gewusst hat; denn spätestens ab dem Moment müssen solche Vorkommnisse eben allen Anlegern zugänglich gemacht werden. Und das gilt es jetzt eben zu klären: Ab wann der Vorstand tatsächlich eingeweiht war.“ (Xetra-Schluss-Bericht, 21.6., boerse.ard.de)

Das Ärgernis, sich bloß wegen einer fehlenden Information lange Zeit für reicher gehalten zu haben, als man jetzt tatsächlich ist oder alsbald werden wird, ist menschlich natürlich sehr nachvollziehbar. Allerdings kommt bei Aktionären eine bemerkenswerte Besonderheit hinzu: Sie beanspruchen deshalb mit dem Recht ihres Eigentumstitels, über sämtliche Vorkommnisse vom Vorstand ihrer Firma umgehend informiert zu werden, weil sie, wenn ihnen ein Anhaltspunkt dafür geboten wird, vielleicht in Zukunft nicht mehr so reich zu sein wie soeben noch – zum Beispiel deswegen, weil welche von ihrem Schlag einen Anlass sehen, dem Unternehmen, auf das sie spekulieren, gigantische Klageforderungen zu bereiten – durch mehrheitlichen Verkauf ihrer Anteilsscheine unmittelbar dafür sorgen, dass das heute schon so ist. Vermutungen zerstören also unmittelbar Vermögen, wenn sie negativ sind, und treiben im umgekehrten Fall die Kurse nach oben, so dass es für alle Spekulanten entscheidend darauf ankommt, möglichst dem Trend zuvorzukommen, auf den sie spekulieren, also vor allen anderen zu verkaufen, wenn Verluste drohen, oder zu kaufen, bevor die anderen es tun und die Preise hochtreiben. Der Reichtum der Wertpapierbesitzer mag die laufenden Geschäfte des Unternehmens, an denen sie Anteile halten, zur Grundlage haben, aber er bemisst sich nicht an denen. Die Halter der Wertpapiere selbst in Gestalt der per Handel untereinander praktisch vollzogenen Bewertung ihrer Titel sorgen in ihrer Geldgier am Ende für das Zustandekommen des Trends, den sie spekulativ antizipieren, und können an dessen Zwischenständen ablesen, um wie viel ärmer oder reicher sie geworden sind.

Ob die anspruchsvollen Anleger Erfolg haben bei ihren juristischen Manövern, für herbe Verluste, die ihnen ihre Partner auf dem Parkett zugefügt haben, den VW-Konzern haftbar zu machen, von dem sie sich so etwas nicht gefallen lassen wollen, interessiert naturgemäß die Beteiligten und deswegen die Börsen-News. Mit ein bisschen weniger Voreingenommenheit wäre aber schon die erwähnte Veröffentlichungspflicht bemerkenswert, deren Missachtung der Rechtsstaat als strafpflichtigen Tatbestand anerkennt. Sie zeugt schließlich von einem systematischen Interessengegensatz zwischen Firmenleitung und Aktionären, die für die Spekulation auf die Kursentwicklung wichtigen Informationen betreffend: Offenbar hat der Konzernvorstand ein ganz eigenes Interesse am notierten Reichtum seiner Aktionäre – und daran, mit seiner Informationspolitik diese im Glauben zu belassen, sie seien noch immer so reich, wie sie sich bis gestern gerechnet haben. Der Wert, den die Händler ihren Titeln zurechnen, ist schließlich die Grundlage der Kreditmacht, mit der die unternehmungsfreudigen Herren des Geschäfts mit dem stofflichen Reichtum all ihre Konkurrenzaffären ins Werk setzen. Daraus erklärt sich, wieso der spekulative Reichtum ganz handfest die ‚Zukunft der Wirtschaft‘ determiniert.

Am Mittwoch, den 22.6.,

fragt man sich auf dem Frankfurter Parkett, ob es dem Management des VW-Konzerns gelungen ist, die Spekulanten davon zu überzeugen, sich weiterhin für so reich zu halten wie am Vortag:

„Dass die Hauptversammlung bei VW heute keine Kuschelveranstaltung werden würde – das war klar. Kritische Fragen – auch klar. Ob es zur Entlastung des Vorstandes kommen würde – da waren sich nicht alle ganz so sicher. Und jetzt, jetzt geht es um die Zukunft des Konzerns. Und die soll ganz offenbar in der Elektromobilität liegen; also dort, wo Franzosen wie Renault, aber vor allem die japanischen Hersteller schon seit langem auf einer Welle des Erfolges fahren. Auf diese Welle will Volkswagen auch zurück und das ist auch dringend geboten.“

Unbedingter Erfolgswille ist erkennbar, das klingt gut. Der Ehrgeiz, den projektierten Erfolg gleich im Weltmaßstab zu dimensionieren, ebenso. Nichts sinnvoller, als das auch zu produzieren, was andere schon erfolgreich und besser können, die Ankündigung, per Aufholjagd den Vorsprung auswärtiger Konkurrenten zu zerstören, ist entsprechend Musik in den Ohren von Geldanlegern. Die einzige Frage, die sich ihnen da noch stellt, ist die, für wie aussichtsreich sie das Erreichen der proklamierten Ziele halten sollen – und die löst sich für sie im Wesentlichen in die Frage auf, ob dafür auch ausreichend Geld in die Hand genommen wird.

„So investiert VW so viel Geld in Forschung und Entwicklung wie zurzeit kein anderes Unternehmen. Und das bedeutet in Zahlen eine Summe von 15 Milliarden. Klingt gewaltig – ist es auch. Zum Vergleich: Die als höchst innovativ geltenden Unternehmen wie Samsung, Google oder Apple investieren weniger oder nur die Hälfte. Investitionen in neue Technologien und Innovation machen Sinn.“

Ausweislich der gigantischen Geldsumme darf VW als eines der innovativsten Unternehmen der Welt gelten – um das zu wissen, muss ein Börsianer von einem technischen Novum und dessen Herausforderungen an die Ingenieurskunst nichts verstehen. Für ihn ist alles auf den Begriff gebracht mit der Information, dass Geld in Zeug gesteckt wird, mit dem andere Firmen auf einer Welle des Erfolgs fahren, und dass die Geldsumme die Ausgabenposten von anderen Erfolgsfirmen für Innovation deutlich übersteigt – und schon macht die Sache für ihn Sinn.

Nebenbei ist damit ausgesprochen, was es mit neuen Technologien und solchem Firlefanz überhaupt auf sich hat. Von wegen ‚Technik‘: Mitten aus der Börsenwelt, aus dieser ganz anderen, fremden ‚Welt des Geldes‘ ergeht der Bescheid, dass der schöne technische Fortschritt sein Maß und sein Weißwarum nicht bloß in den Konkurrenzbemühungen produktiver Unternehmen hat, sondern die Zukunft stiftet, die die Börse für ihr Wachstum erwartet. Technologie und Innovation, das ist nicht mehr und nicht weniger als das Mittel zur Durchsetzung in der Weltmarktkonkurrenz – und zwar, um als Geldanlage für Spekulanten tauglich und attraktiv zu bleiben.

Und was außer gigantische Investitionssummen kennt die ‚Welt des Geldes‘ noch an Kriterien für eine gute Unternehmensführung, um zu deren abschließender Bewertung zu kommen?

„Auf der anderen Seite müssen Kosten runter. Volkswagen produziert teuer und zu viele unterschiedliche Modelle innerhalb einer Reihe, und daher soll dort ausgedünnt werden und die Kosten müssen nach unten. Man könnte mit den Bonuszahlungen beginnen, aber – die bleiben, wenn auch abgespeckt. Insgesamt hat VW sich mit den Jahren zu viel Kosten angefuttert, stetig ging es nach oben. Die Materialkosten stiegen, so blieb pro verkauftem Auto unterm Strich immer weniger übrig. ... Die Umsetzung wird dauern; die Richtung ist klar und die Aktie daher nur mit 0,4 Prozent im Minus.“

Wenn vom ganzen verdienten Geld zu wenig für den Gewinn übrigbleibt, liegt der Fehler ja auf der Hand: Der Konzern hat es mit den Kosten übertrieben. Im Unterschied zur Abteilung Forschung und Entwicklung, in der die Ausgaben nicht fett genug ausfallen können, führen sie in der Produktion bloß zu Übergewicht, das nach unten muss. Weniger bei denen, die sich Bonuszahlungen angefuttert haben – das Problem ist schließlich keines der Gerechtigkeit, sondern eines der Konkurrenzfähigkeit –, sondern bei all den übrigen, von denen der Konzern etwas geleistet oder geliefert kriegt und deren Preise bezahlen muss: Mit der Großzügigkeit beim Investieren ist auf der anderen Seite die Kleinlichkeit bei allem geboten, wofür etwas zu bezahlen ist – also der verstärkte Einsatz der unternehmerischen Erpressungsmacht. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, jedenfalls perspektivisch. Damit hat VW heute seine Qualitätsprüfung nach den strengen Kriterien der Bewirtschafter seiner Kreditwürdigkeit bestanden. Gratulation!

Lehrreich war am heutigen Börsenbericht die Logik des finanzkapitalistischen Prüfverfahrens für die produktiven Unternehmungen. Als Geldanlagen werden sie branchenübergreifend aneinander gemessen – VW ist ohne weiteres mit Google und Samsung kommensurabel –, und was zu tun ist, um diese Qualität zu verbessern, lässt sich dem brancheninternen Vergleich von Daten erfolgreicher Konkurrenten entnehmen: Der zeigt, ob die Modelle zu viele, die Produktion zu teuer, die Materialkosten zu hoch sind usw. Keinen Maßstab für erfolgreiche Unternehmensführung müssen die Börsianer neu erfinden. Sie halten dem Unternehmen die ureigensten Kriterien von dessen Konkurrenzerfolg entgegen – allerdings mit einem aus dem universellen Vergleich der Geldanlagen entnommenen Maß, an dem es sich zu bewähren hat. Davon machen sie dann die Bewertung ihrer Anteilsscheine und damit den Zugang zum universellen Geschäftsmittel Kredit abhängig, mit dem das Unternehmen seine projektierten Offensiven unternimmt.

Aber die ‚Welt des Geldes‘ beschränkt sich längst nicht auf die Oberherrschaft über die Welt von Arbeit und Reichtum, und reich wird sie beileibe nicht nur mit Vermutungen über die Wertentwicklung der Eigentumstitel an Unternehmen, die mit der materiellen Reproduktion der Gesellschaft ihr Geschäft machen.

Donnerstag, der 23.6.,

„ist ein denkwürdiger Tag. Aber weniger, weil heute noch bis 23 Uhr die Abstimmung [Brexit-Referendum] in Großbritannien läuft, sondern weil die Finanzmärkte frohlocken, als sei die Sache schon entschieden – und zwar pro Europa. Das merkt man auch beim Deutschen Aktienindex, der legt ordentlich zu: plus 1,9 Prozent, Schlussstand 10 257 Punkte. Recht optimistisch, wenn man bedenkt, dass es erst heute Abend spät Ergebnisse geben wird.“

Heute haben wir es mit einem Fall von vermögensstiftenden Vermutungen der höheren Art zu tun, nämlich mit einer einträglichen Wette auf Verschiebungen im internationalen Machtgefüge. Dabei haben die Akteure des Aktienmarkts sich reich und die ganze Zukunft der deutschen Wirtschaft nach oben spekuliert, bloß weil sie kollektiv davon ausgehen, dass politisch alles exakt so bleibt, wie es ist. Im Unterschied zu Wettbüros, in denen erst nach dem Ausgang der Wette abgerechnet wird, sind deswegen auch am heutigen Vortag der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses alle Wettteilnehmer reicher als gestern, und wer heute „Kasse gemacht hat“, hat tatsächlich im Durchschnitt 1,9 Prozent mehr Geld aus der Börse ziehen können, als sein noch gestern notiertes Vermögen geldwert war.

Die Kollegen Devisenspekulanten vermuten schon seit längerem genau dasselbe und treiben damit den Kurs der britischen Währung in die Höhe:

„Seit Mitte Juni kletterte der Kurs und die Hoffnung, dass die Briten doch in der Europäischen Union bleiben.“

Und wenn die Abstimmung doch einen anderen als den spekulativ vorweggenommenen Ausgang nimmt? Dann wird die Rache der Anleger fürchterlich sein:

„Tja, und wenn sie es nicht tun? Dann wird es wohl zu kräftigen Turbulenzen kommen. Am Aktienmarkt und auch bei der Währung. Das britische Pfund wird wohl sicher abwerten. Um die zwanzig bis dreißig Prozent sind drin, glauben Experten.“

Der britische Souverän mag darüber entscheiden, ob Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt – die Anleger werden ihm und der ganzen Welt die Rechnung dafür präsentieren, wie brauchbar er und sie dadurch für ihre Geschäfte geworden sind: Turbulenzen heißt in ihrer Sprache das Gegenteil von vermögensbildendem Optimismus. Ihre Geschäftsaussichten, nämlich der Reichtum, den sie sich deswegen zu- oder eben wegrechnen, sind der Inbegriff des Reichtums ganzer Nationen. Der wächst, steht oder fällt damit, wie brauchbar ihnen die Welt nach dem Stand der politischen Affären erscheint, das Geld der Nation selbst ist so viel wert, wie die Spekulanten ihm bei der Begutachtung der Tauglichkeit für ihr Geschäft beimessen.

So werden ausnahmslos alle Nutzer britischen Geldes, ob sie ihr Vermögen auf der Bank oder unter dem Kopfkissen liegen haben, von den Herren der ‚Welt des Geldes‘, falls die Abstimmenden ihrer Spekulation nicht recht geben, um die zwanzig bis dreißig Prozent ärmer gemacht, und alle anderen werden schon merken, über welche Wirkungsketten sie von den kräftigen Turbulenzen heimgesucht werden. Die abhängigen Variablen des Geschehens dürfen also auf morgen schon einmal kindisch neugierig sein:

„Morgen Kinder wird‘s also was geben, denn dann wissen wir es endlich, ob das mit den Briten in Europa weitergeht oder eben nicht. Aber was wir jetzt schon wissen: Heute ist ein echter Sommerabend, und so viele hatten wir ja jetzt noch nicht. Deshalb genießen Sie ihn – wo auch immer Sie uns zusehen.“

Am Freitag, den 24.6.,

setzen die Finanzmärkte dann als Antwort auf das Abstimmungsergebnis ihre Turbulenzen in Gang:

„Brexit – ein Land verlässt die Europäische Union. Anleger reagierten geschockt... Investoren fürchten nun eine lange Phase der Unsicherheit; noch gravierender: einen Dominoeffekt auf andere Länder. Der Tenor hier: Es gibt keinen Gewinner. Die Zukunft Großbritanniens und der EU stehen nun auf dem Prüfstand. Beide Währungen spiegeln es. Investoren gingen heute raus aus dem britischen Pfund und dem Euro, rein in den US-Dollar. Das Pfund fiel auf ein 30-Jahres-Tief, auch der Euro gab heftig nach... Tief der Schock auch unter Aktienanlegern... [Der DAX] brach um 10 % ein, fing sich über den Tag dann etwas, verlor letztlich aber mehr als die Börse in London. Auch Paris und Madrid tiefrot.“

Und so weiter. Die Börsenwelt hat also deutlich gemacht und ortsspezifisch punktgenau beziffert, wie wenig sie die politische Entscheidung brauchen kann. Der Nationalreichtum wird auf absehbare Zeit europaweit zu einer unsicheren Sache, ein Umstand, den die professionelle Geldgier freilich nur als weitere Herausforderung ihres selektiven Prüfverfahrens nimmt, die Welt nach Risiken und Chancen für die Performance ihres Portfolios zu sortieren:

„Deutlicher als die EU-Wirtschaft dürfte nun die britische leiden. Ihr Herzstück ist die Finanzindustrie. 250 Banken drohen mit ihrem Kapital aus der Londoner City abzuwandern. In Frankfurt wittern einige die Chance, neue Finanzmetropole zu werden... Ausländische Firmen, die ihren Sitz auf der Insel haben, von dort den EU-Binnenmarkt beliefern, stellen die Standort-Frage... Die deutsche Wirtschaft ist vor allem über die Autoindustrie mit Großbritannien verflochten... Hauptabnehmerland für in Deutschland gefertigte Wagen ...“ Und schon tags zuvor hieß es verheißungsvoll: „Viele Menschen werden ... wohl in andere Währungen fliehen und in sichere Anlagen; in Anleihen von Ländern zum Beispiel wie Deutschland. Für den Finanzminister Schäuble ... hätte das aber den angenehmen Effekt, dass viele Menschen liebend gerne was dafür bezahlen werden, deutsche Staatsanleihen zu kaufen. Schäuble würde also eine Art Parkgebühr bekommen. Die gibt es jetzt ja auch schon bisweilen, aber nach dem Brexit können da ganz andere Kosten bei rumkommen.“

Die Spekulanten-Community, in der viele Menschen liebend gerne auf Deutschland als Krisengewinner setzen, leitet aus ihrer vermögensbedrohlichen Unsicherheit, auf was sich jetzt noch zu setzen lohnt, mit der Selbstverständlichkeit, dass darunter die ganze Welt leidet, einen Anspruch an die politische Führung ab. Es braucht jetzt klare und glaubwürdige Machtworte von allerhöchster Stelle, damit man wieder weiß, wie es weitergehen soll:

„Der Brexit ist ein Weckruf für Europa. Investitionen könnten wegen der Unsicherheit ausbleiben. Noch schwerer wiegt die politische Krise, in der sich die EU nun befindet. Mehr auch in der Tagesschau und in einem Brennpunkt. Schönen Abend von hier.“

Börsenprofis wären keine, würden sie nicht auch mitbekommen, dass mitten in dem flächendeckenden Zerstörungswerk, das sie heute ins Rollen gebracht haben, eine Konkurrenz tobt, in der es wieder aufs richtige Pferd zu setzen gilt. Eine Konkurrenz zwischen den Nationen um den Nutzen aus dem Schaden, um die Beheimatung finanzkapitalistischer Macht und Attraktivität für global operierende Firmen und um den Zuspruch durch den frisch zerrütteten weltweiten Kapitalmarkt – und das Mindeste, was man von dieser Konkurrenz verlangen kann, ist, dass die Verantwortlichen möglichst rasch für die Sicherheit sorgen, damit das spekulative Ausnutzen aller Unsicherheiten für seine Betreiber wieder zum einträglichen Geschäft wird.