Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Deutschland im Krieg:
Sittliche Vorwärtsverteidigung eines Massakers

Ein deutscher Offizier lässt Tanklastzüge bombardieren, 140 Afghanen sterben, darunter viele Zivilisten. Das ist natürlich ein ernstes Problem für eine Republik, die vor Ort unterwegs ist, um den Frieden einer afghanischen Zivilgesellschaft zu sichern. Dass es dabei ab und an etwas robust zugeht, weiß man zwar, aber bei so vielen Toten liegt der Verdacht mangelnder Professionalität schon nahe. Also ist in einer Demokratie, die handwerkliche Fehler absolut nicht leiden kann, „schonungslose Aufarbeitung“ angesagt. Die Frage nach der „politischen Verantwortung“ für das Desaster wird aufgeworfen – und schon wieder ein Volltreffer: Die politische Spitze der Befehlskette, die hinunter bis zum Oberst in Afghanistan reicht, hat sich selbst nicht im Griff! ... Verteidigungsminister zu Guttenberg führte vor, wie eine politische Krise zu handhaben sei.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Deutschland im Krieg:
Sittliche Vorwärtsverteidigung eines Massakers.

Ein deutscher Offizier lässt Tanklastzüge bombardieren, 140 Afghanen sterben, darunter viele Zivilisten. Das ist natürlich ein ernstes Problem für eine Republik, die vor Ort unterwegs ist, um den Frieden einer afghanischen Zivilgesellschaft zu sichern. Dass es dabei ab und an etwas robust zugeht, weiß man zwar, aber bei so vielen Toten liegt der Verdacht mangelnder Professionalität schon nahe. Also ist in einer Demokratie, die handwerkliche Fehler absolut nicht leiden kann, schonungslose Aufarbeitung angesagt. Die Frage nach der politischen Verantwortung für das Desaster wird aufgeworfen – und schon wieder ein Volltreffer: Die politische Spitze der Befehlskette, die hinunter bis zum Oberst in Afghanistan reicht, hat sich selbst nicht im Griff! Der Chef hat jedenfalls von seinen Untergebenen nicht die Sprechzettel erhalten, mit denen er einer kritischen Öffentlichkeit überzeugend das Gegenteil hätte demonstrieren können, und schon sind Ex-Verteidigungsminister, Staatssekretär und Generalinspekteur der Bundeswehr in ihren Ämtern unhaltbar, weil die Informationen über die Folgen des katastrophalen Bombardements verdrängt, verschleiert und vertuscht (SZ 28.11.09) wurden. Unlauterkeit beim Kommunizieren über die Folgen des Kriegs: Das ist in einer Demokratie die ultimative Kritik des Kriegsherren, die den glatt den Kopf kostet – und sich mit der Neubesetzung des Amtes auch schon komplett erledigt, denn der Nachfolger ist die erste Großtat zur Bewältigung der Affäre: Jungs Nachfolger, Verteidigungsminister zu Guttenberg, führte vor, wie eine politische Krise zu handhaben sei. Zu Guttenberg zog Konsequenzen. Der Verteidigungsminister entließ zwei politische Beamte. Er entsprach damit den Anforderungen des Kanzleramtes nach Transparenz und Offenheit. (FAZ 28.11.) Der neue Mann muss nur darauf achten, dass er auch selbst den hohen Standards genügt, die in einer kritischen Öffentlichkeit in Sachen Offenheit gelten. Ein Massaker auch dann noch als militärisch angemessen zu rechtfertigen, wenn man neue Informationen hat, die seine abschließende Würdigung eher als militärisch unangemessen nahelegen, ist da jedenfalls nicht unproblematisch: Von verantwortlicher Stelle nicht eindeutig und vor allem unter Offenlegung aller Fakten gesagt zu bekommen, ob es sich bei den 140 Toten um militärische Präzisionsarbeit oder Pfusch handelt, zeugt schon von gewissen Mängeln einer echt transparenten Amtsführung.

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Doch auch jenseits von so spannenden Fragen wie der, ob und wann wer davon wusste, ob überhaupt und von wem bei der Vernichtung des Feindes auch noch das Wort vernichten fiel, legt die Aufarbeitung des problematischen Vorfalls am Kundus offen, dass von den Verantwortlichen generell und an ganz entscheidender Stelle gegen demokratische Informationspflichten verstoßen worden ist:

„Jung war zweitens auch deswegen nicht mehr zu halten, das ist der hintergründige Grund, weil die Zweifel der Bevölkerung an diesem Krieg am Hindukusch wachsen, weil das politische Gerede über die Demokratisierung Afghanistans immer hohler klingt und die Leute wissen wollen, wie das alles weitergehen soll – weil sie also Halt suchen. Weil es diesen Halt und diese Orientierung nicht gibt, orientiert man sich ersatzweise an der Unzulänglichkeit und dem Versagen des Ministers Jung; der unhaltbare Minister gab und gibt vorübergehend negativen Halt; sein Rücktritt fast ein bisschen Frieden.“ (SZ, 28.11.)

Was sucht nach Auffassung der SZ eine Bevölkerung, der man einen Krieg als Begleitschutz für Brunnenbau und Mädchenschulen verkauft und der angesichts der Faktenlage Zweifel kommen? Sie sucht Halt, und zwar ausdrücklich nicht den einzig senkrechten, der da zu haben und auch gar nicht schwer zu erlangen, weil er nämlich mit einer vernünftigen Beurteilung des deutschen Kriegszwecks und seiner Scheidung von allen ihn rechtfertigenden Ideologien schon erledigt wäre. Nein, für den intellektuellen Fachmann für hintergründige Gründe sucht das deutsche Volk nach Halt von der Sorte, die er mit Orientierung anspricht: Irgendeine, aber jedenfalls überzeugende Antwort auf die Frage, wo das alles nur hinführen soll da hinten. Einen befriedigenden Sinn des Kriegs am Hindukusch, eine kleine Hilfestellung zur Festigung der Überzeugung, dass es ganz in Ordnung ist und bestimmt zum Guten führt, was dort läuft: Das hätte das zweifelnde Volk vom Minister gerne, hat es von ihm aber nicht bekommen, weshalb es zusammen mit dessen Entlassung auch mit dem Krieg seinen Frieden machen und seine Erwartungen ganz in den Nachfolger setzen kann.

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Bis der soweit ist, nimmt die Öffentlichkeit die fällige Orientierung des Publikums in ihre Hand. Da der sittlich-moralische Verstand, der sich zu dem Zweck an die Ermittlung von Möglichkeiten einer überzeugenden Kriegsrechtfertigung macht, sein letztes Bezugskriterium allemal im geltenden Recht hat, schaut er natürlich zuerst in dem nach, wie es beim „Vernichten“ von Afghanen um die Rechtsgrundlage bestellt ist. Allerdings ergibt die Prüfung der Einsatzregeln und Einsatzverfahren, das Studium der Mandate von UNO über NATO bis zu der vom Bundestag abgesegneten aktuellen deutschen „Taschenkarte“ kein befriedigendes Ergebnis: Die Befehlsketten der diversen militärischen Hierarchien sind äußerst verwickelt, die Vorschriften ausgerechnet in dem Punkt des gezielten Tötens vage formuliert und auslegungsfähig (SZ, 11.12.), darüber hinaus meist aus taktischen Gründen verständlicherweise (FAZ, 12.12.) geheim. Führt man ein wenig Krieg nach den Regeln der NATO, passt es nicht zum Mandat der UNO, das aber lässt sich ohne Krieg nicht erledigen. Keine Klarheit also, nur eines scheint gewiss:

„Wer sich freilich zur Rechtfertigung der Tötung auf ‚Krieg‘ beruft, verabschiedet sich aus dem UN-Mandat für Isaf und plädiert für die Vernichtung des Gegners als vorrangiges Ziel(...) Das bedeutet: Eintauchen in blankes Kriegsrecht“ (SZ, 12.12.)

Ein großes Dilemma: Wer ein Massaker mit dem Krieg zu rechtfertigen gedenkt, den er führt, muss sein Gastspiel in Afghanistan auch damit rechtfertigen, dass er dort letztlich schon auch zum Massakrieren unterwegs ist – und das passt ja nun überhaupt nicht zu Deutschland, denn:

„Deutschland will, kann und darf nicht Krieg führen wie die Taliban. In Wahrheit will es, das ist aller Ehren wert, gar keinen Krieg führen. Das ist der Hauptgrund, warum sich die deutsche Politik weigert, von ihm zu sprechen; sie fürchtet, dass die Unterstützung dann noch weiter zusammenschrumpft.“ (FAZ, 16.12.)

So ist das in einem sittlichen Gemeinwesen. Das will gar keinen Krieg führen, kann und darf dies auch nicht, führt ihn daher so, dass es keinen Krieg führt. Das ist nicht einfach zu fassen, erfordert vielmehr zusätzliche Anstrengungen für die Orientierung der Heimatfront, denn da gibt es Vorbehalte. Doch auf den Pluralismus, der in so einem Gemeinwesen auch noch herrscht, ist Verlass. Auf das Riesendilemma, das die FAZ skizziert, antworten die Münchener Kollegen schon vorher mit einem Lösungsvorschlag, der durch seine Schlichtheit besticht:

„Vielleicht fehlt es den Deutschen am Gespür, vielleicht am Interesse für diesen Einsatz. Ganz sicher fehlt es dem Minister an Gespür und am Interesse für die Vorbehalte der Bürger. ... Was Guttenberg als Hysterie abtut, ist die Verunsicherung einer Öffentlichkeit, die niemand darauf vorbereitet hat, dass die Bundeswehr in Afghanistan nicht nur Aufständische tötet, die selbst getötet haben, sondern auch deren mutmaßliche Helfer – und, wenn sie Pech haben, unschuldige Zivilisten.“ (SZ, 13.12.)

Auf Vorbehalte gegen Späne, die beim Hobeln fliegen, hat man so einzugehen, dass man seine Bürger rechtzeitig an die Hand nimmt und ihnen sagt, dass beim Hobeln immer Späne fliegen. Dann wissen sie Bescheid und sind auch gar nicht mehr verunsichert, wenn mal mehr fliegen und es lauter kracht: Das spricht nur dafür, dass tüchtig gehobelt wird.

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Aber so einfach ist es natürlich nicht. Keinesfalls wollen die öffentlichen Meinungsbildner umstandslos Partei ergreifen für alles, was in so einem Krieg nun einmal Sache ist. Hurra-Patrioten sind sie überhaupt nicht, allein schon deswegen nicht, weil den regierenden Patrioten bei dem Krieg so gar nicht nach einem Hurra ist. Ihnen jedenfalls fehlt es überhaupt nicht an Gespür und am Interesse für die Vorbehalte, die in Regierungskreisen zirkulieren, nur eben: Wenn es diesen Krieg nun schon einmal gibt, und wenn man ihn dann vor der eigenen Bevölkerung, was sich ja in einer Demokratie gehört, überzeugend rechtfertigen wollte, dann könnte es am Ende vielleicht doch auf eine Parteinahme für den Krieg und insbesondere auch auf ein Votum dafür hinauslaufen, dass man ihn gescheit führt und gewinnt:

„Der Feind muss irgendwie termingerecht besiegt werden, um dem Einsatz Nachhaltigkeit zu verschaffen und den internationalen Blutzoll zu rechtfertigen. ... Dazu müsste der Feind militärisch zerschlagen werden und nicht nur in seine angestammten Rückzugsgebiete getrieben werden.“

Aber was militärisch nur allzu vernünftig ist, passt einfach nicht ins moralische Koordinatensystem der Deutschen:

„Für diese Art des Besiegens aber haben die Generationen, die in der Politik, im Militär, in den Medien und nicht zuletzt im allgemeinen Bürgertum Deutschlands jetzt den Ton angeben, keinen (er müsste neu sein) ethischen Maßstab. Dieser aber, und nicht die akademische oder diplomatische Auslegung des Völkerrechts wird darüber entscheiden, wie Bürger und Politiker jetzt mit den ‚Vorfällen‘ klarkommen – und wie schwer der Afghanistan-Einsatz eines Tages auf der deutschen Gesellschaft lasten wird.“ (FAZ, 14.12.)

Das nächste Großdilemma bahnt sich an: Eine Ethik zur Rechtfertigung von Vernichtungsorgien in deutschem Auftrag bräuchte es unbedingt – und ausgerechnet so eine Formel zur nachhaltigen Heiligsprechung aller Opfer, die ein deutscher Kriegserfolg gebietet, hat unsere Zivilgesellschaft nicht im Angebot. Das schmerzt, denn auch für die modernen Vertreter deutscher Sittlichkeit führt an einem demokratischen Äquivalent für die einstmals so zündenden Reichstagsreden irgendwie kein Weg vorbei: Eine schmerzhafte, aber unausweichliche Frage zum Friedensfest: kann es gerecht sein, Menschen zu töten? Ja, wie kriegt man auf diese Frage nur eine Antwort her, und zwar eine, die die Krone der zivilisierten Menschheit nicht gleich auf die Ebene von Gotteskriegern rückt, die sie auf ihre Weise ja perfekt beantwortet haben? Vielleicht durch kleine Umformulierungen: Wie viel Töten ist erlaubt? (SZ, 19.12.) Oder: Wie viel Krieg muss sich diese pazifistisch gestimmte Gesellschaft zumuten? (SZ, 24.12.) Die haben den ersten Vorteil, dass sie klarstellen, wer da beim Massaker am Kundus wem welche Schmerzen zugemutet hat und demnächst wird zumuten müssen. Ihr zweiter großer Vorteil ist, dass derart ins Allergrundsätzlichste reichende Besinnungsfragen sich in einer Hinsicht allemal gut beantworten lassen: Einfache Antworten gibt es nicht, weder von Friedensnobelpreisträger Barack Obama noch von der Kirche (ebd.). Über eines können Feinde wie Zivilisten in Afghanistan jedenfalls sicher sein: Von Deutschen wird niemand auf der Welt erschossen, ohne dass die deutsche Nation unter sittlichen Qualen leidet.

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Natürlich sind in einer pluralistischen Gesellschaft dann auch schon mal wieder einfache Antworten auf die tiefsten Fragen am Platz und tun in Sachen Orientierung ihr gutes Werk:

„Unsere Soldaten haben recht... Sie können nichts dafür, dass deutsche Politiker seit Jahren darüber streiten, ob man ihren Einsatz Krieg nennen darf. Und dass ihnen deshalb auch immer nur die kleinstmögliche Unterstützung gewährt wird. In der Kundus-Affäre geht es NICHT darum, dass sich unsere Soldaten dafür rechtfertigen müssen, dass sie eine Waffe tragen und sie im Ernstfall auch einsetzen. Unsere Soldaten sind im Krieg. Und sie erwarten, dass diese Tatsache in der Heimat endlich akzeptiert wird.“ (Bild 16.12.)

In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn deutsche Soldaten Krieg führen und keiner das Volk zum großen Bahnhof für seine heimkehrenden Helden mobilisiert?!