Orientierungsprobleme an der Heimatfront
Die Deutschen – ein Volk von „Putinverstehern“? Das kann doch nicht wahr sein!

In so gut wie allen Organen der politischen Meinungsbildung steht man vor einem Rätsel. Wo es angesichts der Konfrontation zwischen dem Freien Westen und der Autokratie in Russland doch gar keine Frage ist, wofür und wogegen man als Deutscher Partei zu ergreifen hat, sind die Landsleute mehrheitlich der Auffassung, die eigene Nation hätte sich da herauszuhalten. Zeitungen staunen über die Flut von Zuschriften ihrer Leser, die sich über Einseitigkeit und Parteilichkeit der Berichte ihrer Lieblingsblätter beschweren. Während Putin höchstoffiziell mit Hitler und russischer Nationalismus mit dem Ungeist aus dem letzten Jahrhundert verglichen wird, der auch schon den I. Weltkrieg heraufbeschworen hat, mahnen namhafte Autoritäten des kulturellen Lebens wie Sachverständige aus der Politik zur Zurückhaltung. Kenner der Russen, außenpolitische Hardliner wie Generäle i.R. empfehlen in öffentlich-rechtlichen Talkshows leisere Töne im Umgang mit Russland – wie dies?

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Orientierungsprobleme an der Heimatfront
Die Deutschen – ein Volk von „Putinverstehern“? Das kann doch nicht wahr sein!

In so gut wie allen Organen der politischen Meinungsbildung steht man vor einem Rätsel. Wo es angesichts der Konfrontation zwischen dem Freien Westen und der Autokratie in Russland doch gar keine Frage ist, wofür und wogegen man als Deutscher Partei zu ergreifen hat, sind die Landsleute mehrheitlich der Auffassung, die eigene Nation hätte sich da herauszuhalten. Zeitungen staunen über die Flut von Zuschriften ihrer Leser, die sich über Einseitigkeit und Parteilichkeit der Berichte ihrer Lieblingsblätter beschweren. Während Putin höchstoffiziell mit Hitler und russischer Nationalismus mit dem Ungeist aus dem letzten Jahrhundert verglichen wird, der auch schon den I. Weltkrieg heraufbeschworen hat, mahnen namhafte Autoritäten des kulturellen Lebens wie Sachverständige aus der Politik zur Zurückhaltung. Kenner der Russen, außenpolitische Hardliner wie Generäle i.R. empfehlen in öffentlich-rechtlichen Talkshows leisere Töne im Umgang mit Russland – wie dies?

I. Verantwortungsvolle politische Berichterstattung in ernsten Zeiten

Eines steht mit Sicherheit fest: Irgendwelche Fehler oder Versäumnisse bei der Wahrnehmung ihrer Informationspflichten über die Ukraine-Krise und deren Eskalation zur Krim-Krise haben sich die Journalisten deutscher Zeitungsredaktionen und Fernsehanstalten nicht vorzuwerfen. Von Anfang an und in aller Ausführlichkeit setzen sie ihr Publikum über die Interessen und deren Gewicht in Kenntnis, die mit diesem nächsten Schritt der Expansion Europas nach Osten auf dem Spiel stehen. Sie verschweigen auch die Hindernisse nicht, die der erfolgreichen Durchsetzung dieses Vorhabens unter deutscher Federführung vor Ort entgegenstehen, so dass jeder, der es wissen will, schon mitbekommt, worum es der Sache nach geht bei diesem Export europäischer Freiheits- und Geschäftsregeln in die Ukraine: um die Erweiterung des europäischen, also die Reduzierung des russischen Einfluss- und Machtbereichs.

Wie immer, und in dieser gewichtigen Angelegenheit schon gleich, gehört zu einer gediegenen Meinungsbildung über die außenpolitischen Affären der eigenen Nation auch die Orientierung an Gesichtspunkten, die ein solides Urteil darüber hergeben, was das eigene Volk von ihnen zu halten hat. Auch diesbezüglich machen die professionellen Meinungsbildner alles richtig. Das Recht, das sich Deutschland und seine europäischen Partner gegenüber Russland herausnehmen, geht für sie derart in Ordnung, dass ihre Parteinahme für seine erfolgreiche Durchsetzung zur Leitlinie ihrer Berichterstattung über alles wird, was das europäische Projekt zum Bürgerkrieg ausarten lässt. Das verlagert den Streit, den Staaten um ihre Rechte führen, auf eine etwas andere Ebene, nämlich auf die des höheren Rechts, das sie für sich beanspruchen können: Kein Kampf Europas um Macht und Einfluss findet da nach Auffassung der Berichterstatter statt, sondern einer um die hohen Werte, für die Europa steht und die seine Politik unwidersprechlich machen. In ihrer Sicht der Dinge stehen sich in der Ukraine Befürworter der guten und gerechten Sache des ukrainischen Volkes, das darauf wartet, endlich aus einem postsowjetischen Völkergefängnis befreit zu werden, auf der einen und Machthaber auf der anderen Seite gegenüber, deren einziger Zweck ist, eben dies den aufrechten Anhängern von Freiheit, Demokratie, Europa und ukrainischer Selbstbestimmung zu verwehren.

Diese Botschaft teilen sie ihrem Volk dann in Wort und Bild ausführlich mit. Das lernt in Artikeln und Sondersendungen live vom Maidan, dass es sich bei bestens ausgerüsteten Paramilitärs um eine spontane Aufwallung vor allem einer jungen, aufstrebenden Elite handelt, die gut vernetzt ist und allein deswegen schon sehr fortschrittlich. Die will zusammen mit vielen anderen aufrechten Bürgern eine neue Ukraine, und in der Hauptsache demonstrieren sie miteinander dagegen, dass ihnen die Aufnahme ins europäische Paradies der Freiheit verwehrt wird. Umgekehrt kann man an den Schlagstöcken der staatlichen Sicherheitskräfte erkennen, dass die amtierenden Machthaber nur eines im Sinn haben: ein friedliches Volk mit Gewalt zu unterdrücken und seinen Aufbruch in eine bessere Zukunft zu verhindern. Die Besetzer des Maidan, die derart zu Repräsentanten eines nach Freiheit dürstenden Volkes befördert werden, setzen sich zwar, das zu erwähnen kommt man dann doch nicht umhin, zu nicht unbeträchtlichen Teilen aus einem rechten Sektor und ukrainischen Ultranationalisten zusammen. Aber erstens weiß man nicht sicher, ob das, nur weil sie die Demokratie verachten und die Juden hassen, wirklich Faschisten sind; Hakenkreuze tragen sie jedenfalls nicht am Ärmel, und außerdem sind auch echt ukrainische Juden auf den Barrikaden gesehen worden. Selbst wenn es stimmen sollte, dass sie etwas rechtsradikal sind, fällt das zweitens nicht groß ins Gewicht, weil sie bei echten demokratischen Wahlen keine Chance hätten; Reporter vor Ort haben das in Blitzumfragen hinter den brennenden Autoreifen ermittelt. Drittens und überhaupt ist die Frage angebracht, ob es sich bei diesen sicherlich zwielichtigen Schlägertrupps nicht um pro-russische Provokateure, vielleicht sogar Agenten im Dienste der Regierung Janukowitsch handelt, damit die endlich einen Vorwand zum Zuschlagen hat. Das will der Despot an ihrer Spitze zwar eigentlich nur und von Anfang an, schreckt aber dann doch immer wieder vor seiner eigenen Unmoral zurück; woran sich ermessen lässt, wie gewaltig die sein muss...

So geht es dahin und sprechen Tote und Verletzte gleich welcher Seite immer dieselben Bände. Die Gewaltexzesse der Partei, für die man ist, irgendwie ins Recht zu setzen, um im selben Zug die Seite, gegen die man ist, zu einem einzigen Gewaltexzess und zum Himmel schreienden Unrecht zu stilisieren – für diesen guten Zweck legen sich deutsche Journalisten ins Zeug und bestücken die Nachrichten. Wenn Mitglieder des neuen Parlaments vor laufender Kamera den Intendanten des Fernsehens verprügeln, weil der eine Rede Putins überträgt, berichten sie von einem kleinen Fauxpas im endlich erfolgreich erkämpften demokratischen Procedere; der ist vor allem deswegen hochproblematisch, weil er Putin in die Hände spielt. Sie entlarven den aus dem Amt gejagten Regierungschef als Verbrecher, seinen Staat als einen einzigen Hort von Korruption und finden überhaupt nichts dabei, im selben Zug seine Nachfolger im Amt, die sich unter Führung der famosen J. Timoschenko ihre politischen Meriten erworben haben, als Hoffnungsträger einer neuen demokratischen Ukraine zu begrüßen; zu denen dürfen sich ab sofort auch einige Oligarchen rechnen, die bis vorgestern noch Inbegriff der im Land herrschenden Korruption waren. In der Handhabung dieser Technik, den tobenden Machtkampf nach Recht und Unrecht und die Parteien, die ihn führen, entsprechend in die Guten und die Bösen zu sortieren, laufen sie dann zu ganz großer Form auf. Die USA eskalieren den Machtkampf in der Ukraine offen zu einer Machtfrage zwischen „dem Westen“, dem Hort der Freiheit, und Russland, dem Erbnachfolger des untergegangenen Sowjetimperiums, Deutschland reiht sich, zurückhaltend zwar, aber eben doch auch in diese Feindschaftserklärung mit ein – und deutsche Journalisten wissen augenblicklich, was sie zu tun haben: Sie machen sich an die Schärfung der Feindschaft, die Russland angesagt wird, und an die Schärfung des Feindbilds, das die Feindschaft braucht.

Was die Feindschaft betrifft, die Russland nach seiner völkerrechtswidrigen Annexion der Krim erklärt wird, stellen sie nicht nur klar, dass sie vom überparteilichen Ordnungsstandpunkt aus, den der Westen vertritt, in jeder Hinsicht gerechtfertigt ist – sie wissen auch sofort, auf welcher Ebene die Antwort des Westens allein anzusiedeln ist. Putins grüne Männchen, die in die Krim einsickern, Tataren vertreiben und den Rest der Bevölkerung solange manipulieren, bis das Volk geschlossen nach Russland will – das alles sind für sie Eingriffstatbestände, die nur nach einem rufen: nach dem Einsatz der gerechten Gewalt des Westens. Dass gegen Russland eine Intervention des Westens und seiner NATO wie im Fall Libyens geboten und eine Flugverbotszone über der Krim und Cruise Missiles zum Schutz bedrohter Tataren die passende Antwort auf das Verbrechen wäre, das man Russland zur Last legt. Das freilich vertritt im Westen kein amtierender Regierungschef, und das wird insoweit auch von deutschen Journalisten respektiert: Für die ist eine Konfliktlösung in Gestalt einer militärischen Intervention des Westens selbstverständlich ausgeschlossen und kommt auch in Zukunft absehbar nicht in Frage. Dann verraten sie freilich schon, aus welchem Geist ihr nobles Bekenntnis zur Friedenspflicht geboren ist: Im Prinzip wäre für sie die erklärte Feindschaft durchaus auf einem Niveau angesiedelt, für das Staaten ihr Militär bereithalten, weshalb alles, was unterhalb der Schwelle zum Krieg ersatzweise angesagt ist im Katalog der zivilen Strafmaßnahmen, für sie ungefähr so glaubwürdig zu wirken hat wie die Drohung mit einem Griff zu den Waffen. Alles, was dem Westen einfällt als Sanktion für die Annexion der Krim und zur wirksamen Abschreckung Russlands vor einer weiteren Expansion seiner Macht in der Ostukraine, mustern sie kritisch auf diesen Effekt hin durch. Ob der Westen da nicht Schwäche zeigt, wenn er sich so vorschnell und eindeutig auf den Verzicht auf eine härtere Gangart festlegt, fragen sie skeptisch – und erinnern damit schon wieder nur an das Maß an Gewalt, das ihrer Ansicht nach ab sofort im Umgang mit Russland eigentlich anstünde. Harte Sanktionen als ziviles Äquivalent für die Schädigung des Gegners, die ihrem Gerechtigkeitssinn vor Augen steht, befürworten sie selbstverständlich – müssen dann aber schon kritisch nachfragen, ob sie auch wirklich hart sind, nämlich so empfindlich wirken und Russland treffen, dass sie vor ihrem prüfenden Blick als so etwas wie Krieg mit anderen Mitteln bestehen können. Und dass die NATO ein paar Soldaten an die neue Front verlegt und ihr Chef mehr Rüstung angesichts einer neuen Bedrohungslage fordert, registrieren sie als das Wenigste, was das größte Kriegsbündnis aller Zeiten sich schuldig ist. Derart begleiten sie den vom Westen noch nicht gekündigten zivilen Verkehr mit Russland mit einem Hintergrundrauschen, dem deutlich zu entnehmen ist, dass der ihrer Auffassung nach eigentlich aufgekündigt gehört.

Das Feindbild, dessen Konstruktion und Pflege sie sich widmen, heißt Putin. Der offenbart in der Krim endgültig, dass er von Anfang an hinter allem gesteckt hat, was die Ukraine destabilisiert, dass also in Russland der Inbegriff des politischen Großverbrechertums regiert. Um das eindringlich zu vermitteln, greift man in die Archive, die man auch nach dem Abtritt des Reichs des Bösen vorsorglich aufbewahrt hat: Die Sicherheitsinteressen, die zu schützen Putin vorgibt, sind eine einzige Bemäntelung der Absichten, die ihn wirklich umtreiben – in Wahrheit will er das alte russische Großreich restaurieren, wahlweise auch die zusammengebrochene Sowjetmacht wieder zum Leben erwecken. So oder so, als Zar, der sich der Methoden Stalins bedient, oder als Stalin, der wie Hitler vorgeht, in die Krim einmarschiert, um sich dann an die Zerschlagung der Rest-Ukraine zu machen, ist dieser Mann ein einziger Rückfall hinter alles, was die moderne westlich-zivilisierte Staatengemeinschaft erfolgreich hinter sich gebracht hat. In der hat Machtpolitik, schon gleich Großmachtpolitik, nichts mehr verloren, ist Nationalismus ausgestorben und steht geopolitisches Denken auf dem völkerrechtlichen Index. Wer in Europa Grenzen gewaltsam verschiebt, plant also nur eines: einen Rückfall in die Zeit des Kalten Kriegs. Er zeigt damit, wie wenig er hineinpasst, dass er so richtig noch nie hineingepasst hat und sich auch in Zukunft gar nicht einpassen will in die friedliche Welt der Freiheit, die nach dessen Ende herrscht – dass er daher als Fremdkörper in ihr zu ächten ist und praktisch aus ihr ausgegrenzt gehört.

II. Entzweiung zwischen Meinungsführern und ihrem Publikum

Bei der Mehrheit der deutschen Bürger verfängt die öffentliche Kriegshetze gegen Russland erst einmal nicht. Viele von ihnen sind der Auffassung, dass im vorliegenden Fall Gut und Böse, Recht und Unrecht nicht derart einseitig verteilt gehören, wie es ihnen auf allen Kanälen im Fernsehen, von den Trendsettern der Leitkultur von Jauch bis Lanz und den Leitartikeln ihrer Presse einhellig vorgesagt wird. Für total parteilich, unglaubwürdig und eine komplette Verarsche halten sie die Berichterstattung ihrer Medien und melden sich in Leserbriefen und Internet-Foren entsprechend zu Wort. Was ihnen da schon zu Beginn der Ukraine-Krise auffällt und sie zum Anlass ihrer Kritik machen, sind die zweckmäßig hinkonstruierten Halb- und Unwahrheiten, mit denen man ihnen den Machtkampf in Kiew als einen einzigen Horror vor Augen stellt, in dem ein Regime von Verbrechern ein unschuldiges Volk bedroht, und natürlich liegen sie vollkommen richtig, wenn sie da Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Berichterstatter registrieren. Einigermaßen fassungslos stehen sie vor dem Phänomen, dass diese Hetze in der deutschen Öffentlichkeit flächendeckend präsent ist. Sie schreiten zur Kritik – und die fällt nicht besonders gut aus. Mit einem sachlichen Urteil – um das vorweg anzumerken – über Grund und Zweck der russischen Politik, geschweige denn über die Ziele des Westens, haben diese Stellungnahmen allesamt wenig bis nichts zu tun. Gerade da, wo sie sich um Sachlichkeit bemühen, die Historie von Chruschtschow bis zurück zur Kiewer Rus bemühen, Machenschaften des Westens benennen usw., befassen sie sich durchwegs mit Rechtfertigungsfragen – über eine Gegenwehr gegen die moralische Kriminalisierung „des Kreml“ kommen die vielen Blogs und Leserbriefe selten hinaus. Die beherrschen sie aber durchaus. Besonders gern empören sich Kritiker darüber, dass da von den politischen Meinungsbildnern mit zweierlei Maß gemessen wird. Sie nehmen zur Kenntnis, dass und wie die hehren Werte von Völkerrecht, Freiheit und Demokratie als Instrument verwendet werden, zur Heiligsprechung der eigenen Seite wie dazu, Russland in allergrößtes Unrecht zu setzen. Sie wollen schon erkannt haben, dass es die Parteilichkeit für die eigene Seite ist, die sich unter Berufung auf höhere Maßstäbe der Moral ins Recht und die andere Seite ins Unrecht setzt – und bestehen gleichwohl darauf, dass die Politik der Staaten an diesen Maßstäben beurteilt gehört – nur eben unvoreingenommen, sachlich-nüchtern, wäre für sie zu ermitteln, wie in der Staatenwelt Recht und Unrecht zu verteilen ist. Doppelmoral heißt deswegen ihr Vorwurf an die Adresse der Öffentlichkeit, Heuchelei ist das Argument ihrer Kritik, und um dieses anzubringen, brauchen sie sich wirklich nicht näher darum zu kümmern, was bei der politischen Streitfrage selbst Sache ist. Konfrontiert mit der öffentlichen Propaganda, die ihnen missfällt, subsumieren diese Kritiker sie unter das ihnen vertraute Schema der Auseinandersetzungen auf dem Schlachtfeld der Moral. Sie verlegen sich auf die ihnen geläufige Übung, penetrantes Pochen auf die für jedermann verbindlichen moralischen Werte als Trick zu durchschauen, mit dem andere bloß unanfechtbar machen wollen, worum es ihnen in Wahrheit geht. Anstoß nehmen sie dabei schon am Interesse, das der Betreffende hinter der Anrufung höchster moralischer Titel versteckt, das – oder eben das, was sie als sein Interesse vermuten – ist es schon, was ihnen nicht schmeckt. Ihr Einwand bezieht sich aber gar nicht auf dieses, sondern klagt die missbräuchliche Verwendung der moralischen Maßstäbe und Werte an, die jeder gute Mensch zu achten hat und deren Geltung und unbedingtes Achtungsgebot dem Kritiker allergrößtes Herzensanliegen ist. Für gewöhnlich pflegen sich die moralischen Menschen freilich einzuteilen beim Gebrauch und der Dosierung des Arguments ‚Heuchelei!‘, machen mit dem Durchschauen der Lügen von Regierungssprechern und anderen ihren privaten Frieden mit der Angelegenheit und starten keine Leserbriefkampagnen. Das Argument selbst – und auch nicht der Umstand, dass die Lügen in diesem Fall besonders leicht zu durchschauen sind – erklärt deshalb nicht, weshalb so viele es hier in Anschlag bringen, und auch nicht, warum sie dies ausgerechnet hier tun.

Die vielen Bürger, die sich weder im Mikrokosmos in Kiew noch in der großen Perspektive der Weltpolitik die Lage zwischen dem Westen und Russland als eine Entscheidungsschlacht zwischen dem Guten und dem Bösen einreden lassen wollen, gehen auf Distanz zu den Instanzen der Öffentlichkeit, weil deren Propaganda mit der gefestigten Haltung in Widerspruch gerät, die sie sich beim Urteilen über die Politik ihrer Nation im Besonderen und deren Positionierung in weltpolitischen Affären überhaupt zu eigen gemacht haben. Diese Kritiker melden sich als Bürger ihres Staates zu Wort, die darüber besorgt sind, dass im Zusammenhang mit dieser Gewaltaffäre der friedliche Weg, den die Nation zu ihrem Erfolg als Maxime ihres weltpolitischen Auftretens verfolgt hat, aufgekündigt werden könnte. Bekannt ist ihnen zwar, dass Deutschland Mitglied einer NATO ist, also auch als europäische Führungsmacht die Wahrnehmung seiner außenpolitischen Rechte unter dem Schutzschild eines militärischen Abschreckungspotentials betreibt, für das die USA mit ihren überlegenen Waffen sorgen. Aber offensichtlich haben sie sich so sehr daran gewöhnt, dass – unbeschadet der unvermeidlichen, freilich problematischen Kriegseinsätze, die die Mitgliedschaft in diesem Werteverein der Freiheit manchmal kostet – die deutsche Außenpolitik aus friedlichem Einvernehmen mit Partnern besteht, dass sie aus allen Wolken fallen, wenn aus der einvernehmlichen Partnerschaft, die Deutschland seit geraumer Zeit mit Russland pflegt, mit einem Mal eine Feindschaft auf Kriegsebene werden soll. Gerne verweisen sie auf die zwei Weltkriege mit ihren verheerenden Konsequenzen für Deutschland, bringen die jüngeren Kriege des Westens zur Sprache, die außer Verheerungen auch nichts gebracht hätten, und geben so ihrer Überzeugung Ausdruck, dass Deutschland mit einer Politik ohne Krieg einfach besser fährt: Unsinn und ausgemachter Blödsinn ist für sie die Eskalation der Gegnerschaft, die nach dem Common Sense der Öffentlichkeit im Verhältnis zu Russland geboten ist. Ihr Urteil belegen sie mit Konsequenzen, die der Übergang von der Partnerschaft zur Konfrontation nach sich ziehen würde und die auf einen einzigen Schaden für Deutschland hinauslaufen. Sie deuten auf das Erdgas, von dem wir abhängen und das Gazprom bislang noch zuverlässig liefert, demnächst womöglich nicht mehr, und führen zur Erhärtung ihres Standpunkts auch noch den Jammer der Profiteure am deutschen Ostgeschäft als Beleg an. Die sehen für den Fall einer ernsten Verschlechterung der Beziehungen zu Russland die vielen zu deutscher Zufriedenheit schon laufenden Geschäfte auf der Kippe stehen und befürchten das Wegbrechen von Investitionen, mit denen deutsche Mittelständler wie Großunternehmen auch in Zukunft gut an Russland verdienen könnten. Im Vorwurf der Kriegshetze an die Adresse der Öffentlichkeit fasst sich das alles dann zusammen. Von der sehen sich deutsche Bürger zu etwas aufgestachelt, was nicht gut ist für die Nation, und sie wissen auch, wer in letzter Instanz dafür nur verantwortlich sein kann: Von Amerika soll man da in einen Krieg hineingezogen werden.

Mit der Militanz gegen Russland wird nach mehrheitlich vertretener Volksmeinung also nichts Geringeres als der deutsche Erfolgsweg fahrlässig aufs Spiel gesetzt. Dieser Standpunkt findet seine beredten Repräsentanten und Fürsprecher in Gestalt bewährter Politiker, die ihn als Ethos der deutschen Außenpolitik propagieren. Die heben hervor, wie gut Deutschland damit gefahren ist, dass es grundsätzlich – und im Umgang mit dem Osten schon gleich – auf Partnerschaft und Verständigung gesetzt hat. Bahr, Eppler und etliche andere unterstreichen ein ums andere Mal, dass das die Prinzipien sind, die für die erfolgreiche Karriere Deutschlands vom Kriegsverlierer zur Weltwirtschaftsmacht verantwortlich sind. Sie lassen es natürlich auch nicht an der ideologischen Überhöhung dieses Ethos zum Dienst Deutschlands an so edlen Werten wie dem Frieden in Europa oder der Aussöhnung zwischen den Völkern fehlen, so dass beides, Ethos wie Ideologie der deutschen Politik, im Meinungsbild der Bürger sein Echo findet: Oft genug bestehen deren kritische Stellungnahmen aus einem bunt zusammengewürfelten Haufen all dessen, was sich zum Thema „Frieden“ so alles assoziieren lässt.

Repräsentiert wird ihr vom Mainstream der Öffentlichkeit abweichender politischer Standpunkt dann auch noch durch die gewichtigen Voten zweier deutscher Kanzler i.R. Der eine, Schmidt, hält Putins Annexion der Krim für durchaus verständlich und Sanktionen gegen Russland für dummes Zeug, legt dann noch nach und wirft den öffentlichen Scharfmachern vor, einen dritten Weltkrieg herbeizureden. Und Schröder bereichert den Reigen der Vergleiche des russischen Präsidenten mit herausragenden Schreckgestalten der politischen Weltgeschichte um eine ganz besondere Variante. Er vergleicht Putin einfach mit sich selbst und hält dafür, dass wie bei denen, die im zivilen Leben Dreck am Stecken haben, auch unter politischen Völkerrechtsbrechern der Grundsatz gilt, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt: Wenn er schon mit dem Mitmachen Deutschlands bei der Abtrennung des Kosovo von Serbien die geltenden Regeln für den Verkehr zwischen Staaten gebrochen hat, dann sollen die Deutschen jetzt, wo Putin mit der Krim dasselbe tut, besser die Schnauze halten in Sachen moralischer Verurteilung. Dem stimmt dann ausgerechnet noch A. Vollmer, Ex-Bundestagsvizepräsidentin und oberste grüne Moralwachtel a.D., vollen Herzens zu, während der amtierende Grünen-Vorsitzende Özdemir davor warnt, auch nur irgendeine Art von Äquidistanz zwischen den demokratischen Bündnispartnern USA und Europa auf der einen Seite und einem autoritären Regime im Osten auf der anderen in Erwägung ziehen zu wollen. Kein Zweifel: Da geht ein tiefer Riss durchs politische Meinungsbild der Deutschen.

III. Die Antwort der Öffentlichkeit: Feindbildpflege als Mission

Diesen Riss zu kitten, nehmen sich die für die Meinungspflege im Land verantwortlichen Organe dann entschlossen vor. Dass ihr Feindbild beim Publikum nicht wie gewünscht ankommt, verstehen sie nicht. Stolz berichten sie von ihren Erfolgen bei der Anti-Putin-Hetze im Rahmen der olympischen Spiele in Sotschi, davon, wie viele Deutsche noch vor drei Monaten Putins Auftreten als bedrohlich empfunden hätten – und jetzt, wo der Mann sich ganz praktisch als eine einzige Bedrohung erweist, können dieselben Deutschen nicht nachvollziehen, dass man gegen die auch vorzugehen hat?! Also müssen die Meinungsbildner nachlegen bei ihrer Überzeugungsarbeit, und weil es diesmal um Ernsteres geht als bloß darum, den obersten Russen als Angeber zu entlarven und sein Land als Saustall, das daher auch bei Leistungen auf dem Gebiet des Sports keinen Respekt verdient, mit der gebotenen Eindringlichkeit.

Die Anti-Stimmung im Land auszuräumen, ist freilich kein leichtes Unterfangen. An der einen Front gilt es, die Einwände abzuarbeiten, die einem entgegengebracht werden, sie nach Möglichkeit zu entkräften und darüber für den eigenen Standpunkt zu werben. An der anderen ist die Haltung zu bekämpfen, auf die sich die Deutschen mehrheitlich versteifen und deretwegen sie sich so uneinsichtig zeigen – und angesichts von Leuten, die sich in ihrer Überzeugung derart verstockt und unbelehrbar geben, läuft die Widerlegung der Gesichtspunkte, an denen sie sich orientieren, ziemlich schnell darauf hinaus, diese mitsamt ihren Vertretern einfach schlechtzumachen: Wenn der Stimmung im Land mit allen vernünftigen Argumenten, die man pausenlos ausbreitet, nicht beizukommen ist, dann liegt auf Seiten der öffentlichen Stimmungsmacher der Verdacht schon nahe, dass da bei nicht wenigen im Volk einiges nicht stimmen kann im Kopf, dass sie grundverkehrt gepolt sind – und das muss man ihnen dann schon auch deutlich zu verstehen geben.

Diese Anti-Kritik von Kritikern der demokratischen Öffentlichkeit bringt die entsprechenden Schönheiten freiheitlicher Streitkultur hervor. Deren Richtlinien setzen, wie schon bei der Schärfung der Feindschaft und Vertiefung des Feindbilds, vorbildlich die sog. Anchormänner und -frauen der Nachrichtensendungen in Kraft. Die belassen es nicht dabei, in bewährter Manier bei ihren Berichten aus der Krisenregion zu verschweigen, was ihnen nicht ins Konzept passt, umgekehrt aus ihrem Repertoire von Hintergrundinformationen die ihnen willkommenen herauszupräparieren und mittels ausgiebigen Gebrauchs der Technik der Wiederholung so penetrant in den Vordergrund zu rücken, bis dem Publikum endlich die Deutung klar wird, für die die Fakten zu sprechen haben. In ihrem Instrumentenkoffer für die Widerlegung abweichender Auffassungen und missliebiger Standpunkte liegen auch alle Techniken der Verleumdung und üblen Nachrede bereit, und von denen machen sie ausgiebig Gebrauch. Wer sich entweder gar nicht oder nach ihrem Befinden zu wenig ihrer Sicht und politischen Wertung der Lage anschließt, hat sich um allen Respekt gebracht, auch um den, den bürgerliche Menschen in den Formalien ihrer Höflichkeit einander immerhin noch entgegenbringen. So hat sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sendezeit der Vorsitzende der Siemens-AG dafür zu rechtfertigen, dass er wegen seiner Geschäfte mit Russland in Moskau nicht nur mit Putin spricht, sondern auch noch mit einem, den die USA auf ihre Sanktionsliste gesetzt haben. Für den Chefredakteur des ZDF steht fest, dass die Sanktionen des Westens Russland unbedingt zu schädigen haben, daher ist es für ihn ein einziger Skandal, wenn eine Größe der deutschen Wirtschaft business as usual treibt, und den Skandal inszeniert er dann im Studio: Als Inkarnation der vaterländischen Pflicht, der zu gehorchen jetzt doch wohl jedermann anstehe, baut er sich vor dem Manager auf und und schiebt ihn wegen seiner kleinkrämerischen Geldrechnungen ins moralische Zwielicht.

Das Feindbild auf diejenigen zu erstrecken, die es nicht teilen: Das ist die Technik, mit der man Leute denunziert, deren Haltung einem nicht passt. In Morgen- und anderen Magazinen z.B. kommen gediegene Professoren als Ostexperten zu Wort – und werden durch pausenloses Dazwischenquatschen erst aus dem Konzept gebracht, dann durch Abschalten endgültig mundtot gemacht, wenn die professoralen Weisheiten für den Geschmack der inquisitorischen Gesprächspartner von allzu viel Verständnis für Putin zeugen: Die Argumente, die sie für ihre Sicht der Dinge vorbringen, firmieren als Beleg der absolut verkehrten Gesinnung, von der sie einfach nicht ablassen wollen. Als spezielle Herausforderung in der Mission, in der sie unterwegs sind, begreifen die Frontmänner und -frauen der deutschen Öffentlichkeit den Kampf gegen alles, was als Gegenmeinung in Zeitungen auch noch zu Wort kommt und von Zeitgenossen vertreten wird, auf die man eventuell hört. Die Moderatoren sämtlicher Talkshows vertreten wie ein Mann und absolut einsinnig den Standpunkt, dass Putin der Schuldige ist und gestoppt werden muss. Ihre geladenen Gäste, durchwegs respektable Größen aus der deutschen und europäischen Politik und Wirtschaft, sind mehrheitlich zumindest auch von bremsenden Bedenken getragen – und finden sich in einem kleinen Schauprozess wieder: Sie werden von den Leitern der Gesprächsrunden tendenziell der Kumpanei mit Putin bezichtigt und mitsamt ihren Argumenten in die Ecke russischer Gegenaufklärung geschoben. Schulterschluss mit dem Westen! – das ist für die Chefintendanten der politischen Leitkultur im Land das Gebot der Stunde, und das verabsolutieren sie dermaßen, dass sie einfach alles vom Tisch wischen und als Feindpropaganda denunzieren, was immerhin auch bei offiziellen politischen Vertretern des deutsch-europäischen Lagers an Bedenken gegenüber dieser Linie zirkuliert.

Ihr Rigorismus duldet keine Bedenklichkeiten, auch solche nicht, die aus purer Verantwortung für Deutschland laut werden, und auch dann nicht, wenn wirklich nur der Antrag ergeht, möglicherweise problematische Konsequenzen nicht aus den Augen zu verlieren. Putinversteher heißt kurz und bündig die Zurückweisung, die über die Verwerflichkeit der Gesinnung desjenigen schon alles sagt, der sich entweder selbst als solcher outet oder in den Ruch gerät, so einer zu sein: Wer Putin versteht, macht sich gemein mit ihm! Insgeheim sympathisiert er, da kennen sich Leitartikler seriöser Tageszeitungen aus, mit dem Macho-Getue des Russen. Er frisst zwar nicht gleich kleine Kinder, hat aber ohne Zweifel viel übrig für den Hass auf Schwule und Lesben, die sich in dem Zusammenhang auch noch ihrer Aufwertung zum Inbegriff freiheitlicher Zivilisiertheit erfreuen dürfen. Damit ist vollends klar, wen man da in Wahrheit vor sich hat: einen Vertreter des denkbar reaktionärsten Menschen- und Gesellschaftsbildes. Um Altkanzler Schröder, der Putin versteht und mit ihm befreundet ist, endgültig zu diskreditieren, reicht in diesem geistigen Klima dann auch schon ein bloßes Foto, auf dem er anlässlich einer privaten Feier breit grinsend dem russischen Gottseibeiuns um den Hals fällt. Wer bei dieser Putin-Sause mit dabei war, steht im Verdacht des Landesverrats, auch wenn er kein Freund Putins ist. Es reicht, dass er ein Russlandkenner ist, offensichtlich die nationale Sache versteht, die Putin kommandiert, obendrein auch noch in einem Förderverein deutsch-russischer Beziehungen Verantwortung trägt – und wenn er dann auch noch dem CDU-Präsidium angehört, ist im freien demokratischen Diskurs der Bär los. Glatt brüskiert sieht sich die Partei durch diesen Fehltritt ihres außenpolitischen Fraktionssprechers, zitiert ihn zum Rapport vor ein parteiinternes Strafgericht – und mit gar nicht klammheimlicher Sympathie spekuliert die ‚Süddeutsche Zeitung‘ tags darauf schon über den bevorstehenden Karriereknick eines politischen Shootingstars, der ihre antirussische Hetzkampagne von Anfang an stört. Dieses Blatt druckt übrigens, wie viele andere auch, über Wochen alles ab, was die eigenen Leitartikel bei den eigenen Lesern an Empörung regelmäßig hervorrufen. Die Volksmeinung, die man korrigieren will, schweigt man nicht tot, sondern lässt sie ausgiebig zu Wort kommen – um die Stichworte einzusammeln, an denen entlang man in den nächsten Ausgaben dann wieder über alles herziehen kann, was einem an der Einstellung des offensichtlich unbelehrbaren Packs missfällt. Und so weiter.

Wer will, kann sich diese Sternstunden journalistischer Informationsarbeit im Netz ansehen, in dem eine große Gemeinde von Freunden einer echt demokratischen Gegenöffentlichkeit alles dokumentiert, was sie für sich selbst entlarvende Entgleisungen der deutschen Öffentlichkeit hält. Damit liegen sie daneben. Denunziationen und alle anderen Methoden der Diskreditierung einer missliebigen politischen Haltung sind Konsequenz der Entschlossenheit, mit der deren Vertreter den Notwendigkeiten ihres Berufs nachkommen. Die Sache ihrer Nation, um die sie sich verantwortungsvoll kümmern, steigt ihnen in ernsten Zeiten derart zu Kopf, dass sie gar keinen Unterschied mehr kennen wollen zwischen der Politik und ihren Berechnungen, die ihnen durchaus vertraut sind, und den moralischen Grundsätzen, an denen entlang sie das politische Geschäft zu beurteilen pflegen: Sie verabsolutieren ihre Moral zu Grundsätzen, denen die Politik ab sofort zu gehorchen hat, und werden bedingungslose Fanatiker der Wertmaßstäbe, an denen sie Gut und Böse scheiden, in der Staatenwelt genauso wie bei den Inhabern einer freien Meinung daheim. Als Missionare des Guten verstehen sie sich und sind entsprechend unterwegs, betreiben Volksverdummung in höherem erzieherischem Auftrag und daher besten Gewissens und finden es vollkommen normal, im Rahmen ihres Überzeugungskampfes gegen abweichende Auffassungen und nicht zu billigende politische Standpunkte mit Methoden vorzugehen, über die sie als Vertreter des journalistischen Adels für gewöhnlich verachtungsvoll die Nase rümpfen, wenn sie bei BILD und anderen Revolverblättern auf sie stoßen.

*

Doch stehen sie in ihrem Kampf gegen russenfreundliche Umtriebe im eigenen Land nicht allein. In Österreich verfolgt man aufmerksam, vor welche Probleme deutsche Journalisten im Zuge ihrer Überzeugungsarbeit sich gestellt sehen, belässt es aber nicht dabei. In traditionsreicher Verbundenheit mit dem großen Nachbarn auch in seinen schweren Stunden steigt man mit ein in den deutschen Meinungsstreit und leistet Schützenhilfe für den Sieg der guten Sache.

IV. Kritisches Magazin kritisiert Kritiker des Westens, oder: Fakten können doch nicht über Recht und Unrecht entscheiden!

Folgendermaßen stimmt das Magazin „profil“ seine Leser in die Lage im Nachbarland ein:

„Russlands Militärintervention in der Ukraine und ihre breite Ablehnung durch westliche Regierungen und Medien haben zur Herausbildung einer überraschenden Phalanx geführt. Intellektuelle, Künstler, Politiker und unzählige Normalbürger aus allen möglichen Lagern wollen es nicht hinnehmen, dass Präsident Wladimir Putin zum ‚Brandstifter‘ (‘Der Spiegel‘), ‚Macho-Russen‘ (‘Bild‘) oder ‚gefährlichsten Mann der Welt‘ (profil) erklärt wird. Ebenso unangebracht finden es viele, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dem Kreml-Chef bescheinigt, ‚in einer anderen Welt zu leben‘, und Hillary Clinton die Annexion der Krim damit vergleicht, ‚was Hitler in den 1930er-Jahren getan hat‘.“ (profil 24.3.14, Zitate ebd.)

In dieser schweren Stunde eines kleinen Meinungsaufstandes, eines Meinungs-Maidan sozusagen, wendet sich „profil“ an das Leservolk, um die Unbotmäßigen durch einen nüchternen Faktencheck wieder einzufangen. Heraus kommt ein Lehrstück in Sachen kritisch-parteilicher Meinungsbildung. (Im Original auf: http://www.profil.at/articles/1412/982/373669/ukraine-ihr-putin)

Faktencheck 1: Wer hat ein Recht auf „Erweiterung“ seines Einflussbereichs?

In Wahrheit hat der Westen den Ukraine-Konflikt heraufbeschworen
‚Es war zunächst der Westen, der keine Ruhe gab und unaufhaltsam Richtung Osten drängte – und weiter drängt.‘ Alice Schwarzer, feministische Autorin.“

Frau Schwarzer operiert mit einer populären Denkfigur. Sie fragt, wer angefangen hat, und nachdem diesbezüglich die Lage eindeutig ist, wäre damit aus ihrer Sicht auch die Schuldfrage geklärt. Das ist dem kritischen Magazin natürlich viel zu oberflächlich:

„So lautet der Generalvorwurf, und er bezieht sich auf drei Aspekte: im konkreten Fall auf das Assoziierungsabkommen, das die EU mit der Ukraine und drei anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausgehandelt hatte, aber auch auf die NATO-Osterweiterung und die Unterstützung von Protestbewegungen in der Nachbarschaft von Russland. Und tatsächlich ist es auch so, dass der Kreml die Einbindung der Ukraine in die Europäische Union als ‚rote Linie‘ betrachtet.“ Das russische Projekt einer „Eurasischen Union“ „sollte ab 2015 acht Länder, darunter auch die Ukraine, zu einer Wirtschaftsgemeinschaft – mit starkem politischen Zusammenhalt – vereinigen. Und dabei erwies sich die EU als unerwarteter Störfaktor: Sie bot der Ukraine – noch unter der prorussischen Regierung Viktor Janukowitsch – sowie Moldau, Georgien und Armenien ein Assoziierungsabkommen an. Hätten alle unterzeichnet, hätte Russland auf vier Märkten mit insgesamt 62 Millionen Konsumenten empfindlich an Einfluss verloren. Die EU gab der Ukraine auch klar zu verstehen, eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Union sei mit dem Assoziierungsabkommen nicht vereinbar – wenn man will, eine implizite Drohung. Ganz explizit war umgekehrt der wirtschaftliche Druck, mit dem Russland eine Europa-Anbindung der Ukraine zu verhindern versuchte. Also: Eine einseitige Provokation des Westens? Um das zu bejahen, muss man ausblenden, dass der Kreml und die EU gleichzeitig dasselbe versuchten. Und man muss der Ansicht sein, Russland habe ein exklusives Vorrecht auf Länder und Märkte wie Moldau, Georgien, Armenien und die Ukraine. Aber warum eigentlich?“

Was die Sache mit dem Drängen nach Osten betrifft, pflichtet „profil“ Frau Schwarzer und allen, die das ähnlich sehen, bei: Ja, die EU drängt nach Osten; ja, das Assoziationsabkommen mit der EU soll die dem Land von Europa immer vorgeworfene Schaukelpolitik durch einen Anschluss an die EU beenden; selbstverständlich stört der Vorstoß massiv nicht nur die russischen Pläne, sondern auch die bisher existierende russische Kooperation mit der Ukraine; und dass Russland das nicht einfach hinnimmt, ist schon auch irgendwie klar.

Irgendwie freilich nur, denn selbstverständlich bleibt bei einer derart nüchternen Berichterstattung über die Lage das Wichtigste an ihr unterbelichtet, nämlich alles, was es zu einer ausgewogenen Antwort auf die aufgeworfene Schuldfrage braucht. Also setzt „profil“ die nötigen Akzente, und wartet dazu als erstes mit dem schlauen Hinweis auf, dass zum Streiten immer noch zwei gehören: Indem der Kreml und die EU gleichzeitig dasselbe versuchten, wollen sich beide die Ukraine als ihren Einflussbereich zurechnen, so dass es letztlich doch ganz unerheblich ist, wer damit als erstes angefangen hat. Um angesichts dieses Patts in der Schuldfrage die Waage der Gerechtigkeit nach der richtigen Seite ausschlagen zu lassen, wird näher differenziert: Ein russischer Druck ist für das Magazin ganz eindeutig als Erpressung zu erkennen, sogar als explizite - eine europäische Drohung hingegen ist nur eine, wenn man will, also mehr oder weniger bloße Ansichtssache. Damit wäre der Vorwurf, hier läge eine einseitige Provokation des Westens vor, schon einmal zur Hälfte entkräftet. Den Rest erledigt ein objektiver Blick auf die Fakten, die man ausblenden muss, um diesen Vorwurf überhaupt erheben zu können. Fakt ist nämlich, dass das europäische Recht auf Durchsetzung der eigenen Belange gegen Russland fraglos in Ordnung geht – deswegen liegt es auf der Hand, dass es sich beim gegenläufigen Interesse der anderen Seite nur um den Anspruch auf ein gänzlich inakzeptables exklusives Vorrecht handeln kann. Fakt ist auch, dass rote Linien zur Markierung nicht kompromissfähiger Angriffe auf eigene Interessen selbstverständliches Recht der USA sind – im Falle Russlands also pure Anmaßung und Beharren auf einem Privileg, für das es im egalitären Westen nun wirklich kein Recht gibt.

Faktencheck 2: Wessen „Ängste“ sind „berechtigt“?

Es ist verständlich, dass sich Russland gegen den Expansionismus der NATO wehrt
‚Als historisch denkender Mensch hat Wladimir Putin auch gewisse Einkreisungsängste.‘ Gerhard Schröder, deutscher Bundeskanzler a. D.“

Im Namen eines historisch denkenden Putin erinnert Kanzler a. D. Schröder an gewisse russische Erfahrungen und empfiehlt, beim Umgang mit Russland in Rechnung zu stellen, dass die Expansion der NATO aus russischer Sicht eine Bedrohung darstellt – was sollte ein in den letzten Jahren am Balkan und im Mittleren Osten hochaktives Militärbündnis denn auch sonst sein?! „profil“ ignoriert die dezente Anspielung auf den letzten Weltkrieg und den ‚Kalten Krieg‘ danach gänzlich und aus Überzeugung. Einkreisung Russlands als Kontinuität im Westen? Bloß weil Hitler die Sowjetunion überfallen, der Westen anschließend die Eindämmung einer atomar gerüsteten Sowjetunion betrieben hat und diese auch gegenüber dem russischen Nachlassverwalter der untergegangenen Sowjetmacht ungebrochen und raumgreifend durch die NATO-Erweiterung fortsetzt? Nie und nimmer!

Das freilich, was der Kanzler ‚Expansionismus‘ nennt, ist ein Faktum, das man überhaupt nicht in Abrede stellt:

„In den vergangenen 15 Jahren gewann die NATO zwölf neue Mitglieder – allesamt einstige Mitglieder des Warschauer Pakts, dazu mit Slowenien und Kroatien zwei Staaten aus dem blockfreien Jugoslawien. … an der Südflanke Russlands in Zentralasien errichteten die USA im Zuge des Afghanistan-Krieges eine Militärbasis nach der anderen. In den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten des Transatlantik-Bündnisses wurde mit der Errichtung eines Raketenabwehrsystems begonnen.“

Am Vormarsch der NATO gibt es nichts zu rütteln, und der geht für die kritischen Intellektuellen des Magazins auch dermaßen in Ordnung, dass sie an ihm bloß eine Frage aufwerfen: Warum sehen das die Russen nicht auch für so überaus selbstverständlich an, wie sie das tun?

„Russland müsse sich dadurch umzingelt und bedroht fühlen, sagen Kritiker des Westens. Dieses Gefühl mag auf russischer Seite existieren, aber wie berechtigt ist es? (…) Hat Russland gute Gründe, sich durch die Osterweiterung der NATO bedroht zu fühlen?“

Die Frage ist schon die komplette Antwort: Umzingelt werden sie ja schon, die Russen, das lässt sich schlecht in Abrede stellen. Auch dass sie sich selbst bedroht fühlen, ist ein Faktum, das man gelten lässt. Entscheidend daran und viel wichtiger freilich ist die Frage, ob ihr Gefühl berechtigt ist, ob also die Präsenz des größten Gewaltvereins der Welt unmittelbar an den eigenen Grenzen überhaupt ein Grund ist, sich von dem bedroht zu fühlen. Damit wäre der Übergang von einem Kapitel imperialistischer Machtpolitik zur bekanntlich sehr abgründigen russischen Seele als ihrem Resonanzboden erfolgreich absolviert, so dass sich diese russischen Befindlichkeiten zu einer einzigen Absurdität erklären lassen: Man stellt sich entschlossen dumm, abstrahiert von allem, was das Bedrohungspotential der westlichen Militärallianz ist, vom politischen Zweck dieser Allianz ebenso wie der gewaltsamen Natur ihrer Mittel – und dann bleibt von der NATO einfach nur noch eines übrig: ihre rechtfertigende Ideologie, allein zur Verteidigung ihrer Mitglieder, deren Werte und des Friedens auf der Welt überhaupt unterwegs zu sein. So besehen hat die NATO überhaupt keinen Gegner mehr, gegen den sie sich richtet, weil sie einfach nur für alle da ist, die sich im Lager der Freiheit versammeln – und damit hat auch Russland absolut keinen Grund, irgendeinen guten Grund schon gleich nicht, sich vom Verein der westlichen Werte bedroht zu fühlen. Für dieses Urteil hat das Magazin einen Zeugen aufzubieten, der in dieser Angelegenheit an Kompetenz und Glaubwürdigkeit nicht zu übertreffen ist:

„In einem BBC-Interview im Jahr 2000 sagte Wladimir Putin, damals erstmals Präsidentschaftskandidat, auf die Frage einer möglichen NATO-Mitgliedschaft Russlands: ‚Ich sehe keinen Grund, warum ich das ausschließen soll. Aber ich wiederhole: erst wenn Russlands Standpunkte als die eines gleichberechtigten Partners in Betracht gezogen werden.‘ Angesichts der Ukraine-Krise ist ein solcher Schritt undenkbar, doch Putins Aussage von damals zeigt, dass die NATO auch aus Moskauer Perspektive nicht notwendigerweise als Feind angesehen werden muss“.

Die Genugtuung, so einen Spruch ausgegraben zu haben, beruht allerdings schon auf seiner professionellen Verfälschung: Die Autoren von „profil“ ignorieren die entscheidende Bedingung Putins – Russland als gleichberechtigter Partner! – ungefähr genauso kaltschnäuzig wie die EU im Umgang mit der Ukraine Russland gerade praktisch ignoriert hat. Russland als Mitglied der NATO – das schließt Putin nicht aus, weil Russland dann in den exklusiven Zirkel der Mächte aufgestiegen wäre, die zur Aufsicht über die Gewaltfragen der Staatenwelt berechtigt sind, und nicht mehr unter die Rubrik der Objekte westlicher Aufsicht fallen würde, die sich die Berechtigungen und die Grenzen ihrer Interessen von der NATO vorbuchstabieren lassen müssen. Über Letzteres führt Putin vernehmlich Beschwerde, ersteres war vom Westen nie vorgesehen, und wenn man beides absichtsvoll verschweigt, hat man natürlich eine Moskauer Perspektive herauspräpariert, in der die westliche Militärallianz auch nichts weiter ist als ein Verein wie ZSKA, in dem man Mitglied werden kann oder auch nicht.

Steht so fest, dass die NATO von den Russen keinesfalls notwendigerweise als Feind angesehen werden muss, offenbart auch die Osterweiterung dieses Vereins sogleich ihren tieferen rechtfertigenden Sinn. Diesmal stehen die neuen Mitglieder im Zeugenstand:

„Haben Staaten des ehemals sowjetischen Einflussbereichs gute Gründe, zu ihrer Sicherheit unter die Fittiche der NATO zu schlüpfen?“

Und da ist die Faktenlage derart eindeutig, dass auch diese Frage sich von allein beantwortet: Die russischen Interventionen in Georgien und jetzt auf der Krim sprechen jedenfalls dafür. Vollkommen unverständlich also, dass Russland sich vom Westen bedroht fühlt, aber wer sich von Russland bedroht fühlt, hat dazu die allerbesten Gründe: Die Abwehr einer Offensive der georgischen Armee und die aktuellen russischen Gegenmaßnahmen gegen einen weiteren Schritt der eigenen Einkreisung durch den Westen sind der allerbeste Grund für Polen und Balten, sich schon immer von Russland bedroht und eingekreist gefühlt zu haben!

Faktencheck 3: Wessen „Einmischung in die Ukraine“ ist berechtigt?

Der Westen verfolgt durch die Unterstützung von Protestbewegungen eine subversive Agenda, um Russland zu schwächen
‚Was hat man im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt von Russland erwartet, als man … die ukrainische Opposition ermunterte, gegen den – immerhin gewählten – Despoten Janukowitsch aufzustehen?‘ Jakob Augstein, Kolumnist.“

Der Journalist aus Deutschland verfügt keineswegs über Geheimwissen. Aktivitäten westlicher Geheimdienste, vom Westen finanzierte NGOs und ähnliche Engagements sind Fakten, die es in deutschen Zeitungen zwar nicht zu Schlagzeilen bringen, aber doch unter den Miszellen der hinteren Seiten Erwähnung finden. Sie sind auch den Leuten von „profil“ bekannt, und zwar so gut, dass sie auch bei der Durchforstung russischer Medien auf sie gestoßen sind. Daraus lässt sich etwas machen:

„In russischen Medien wird bitter beklagt, dass der Westen die Ukraine seit Langem manipuliere. Der US-Geheimdienst CIA sei in Kiew ebenso aktiv wie von Washington bezahlte NGOs sowie Agenten der Europäischen Union. Ukrainischen Bürgern werde vorgegaukelt, es gehe um ‚Demokratie‘ und ‚Freiheit‘, tatsächlich aber wollten die USA und Europa die Ukraine unter ihre Kontrolle bringen, warnt John Robles, in den USA geborener Autor der staatlichen russischen Radiostation Voice of Russia und einziger US-Bürger, der in Russland als politischer Flüchtling anerkannt ist.“

Wenn sich etwas schlecht leugnen lässt, versucht man es gar nicht erst. Man sät da besser Zweifel in die Berechtigung des Vorwurfs, indem man auf die zwielichtige Natur der Quelle deutet, aus der er kommt: Russland! Da muss dem Leser augenblicklich klar sein, dass es sich um parteiliche Feindpropaganda handelt – von den Erzeugnissen der ihm vertrauten heimischen Presse kennt er ja auch nichts anderes als Propaganda gegen den Feind! Und dann noch ein J. Robles, Angestellter des staatlichen Rundfunks in Russland, an dessen pur anti-westlicher Gesinnung keine Zweifel bestehen können: Wer vom westlichen Lager ins russische überläuft und dort willkommene Aufnahme findet, hat schon alles darüber verraten, was für einer er ist, und wenn er dann etwas sagt, spricht aus ihm nur Hetze gegen den Westen.

Ist das erledigt und der Vorwurf subversiver Machenschaft unter der Rubrik ‚Propaganda der Gegenseite‘ einsortiert, bekennt man sich selbst zu allem, was einem so vorgeworfen wird:

„Hat der Westen tatsächlich gezündelt, den Aufstand gegen die Regierung Janukowitsch angeheizt und die ukrainische Öffentlichkeit auf subversive Weise manipuliert? Richtig ist, dass sich höchste Repräsentanten westlicher Staaten – etwa Deutschlands damaliger Außenminister Guido Westerwelle – an der Seite der Maidan-Demonstranten zeigten; dass sie sich mit der protestierenden Opposition solidarisierten; dass sie die neue Regierung unter Arseni Jazenjuk nicht nur sofort anerkannten, sondern auch von Beginn an unterstützten. Und wenn man das Promoten von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und liberalen Minderheitengesetzen als umstürzlerische Propaganda ansieht, dann haben sich wohl einige staatliche und nicht-staatliche Institutionen schuldig gemacht. … Der Westen – und besonders die Europäische Union – hat im Konflikt zwischen Ex-Präsident Viktor Janukowitsch und der Opposition Partei ergriffen, verbal und atmosphärisch. Aber hat man sich auf widerrechtliche Weise in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt, wie etwa Russland dies auf der Krim mit dem Einsatz von Soldaten in Uniformen ohne Abzeichen getan hat? Nein.“

Umstürzlerische Propaganda – ja natürlich, wenn man denn schon so harte Worte gebrauchen will. Selbstverständlich hat man sich eingemischt in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und dort einen Bürgerkrieg heraufbeschworen – aber doch nicht auf widerrechtliche Weise! So etwas ist ganz grundsätzlich ausgeschlossen beim Promoten von Demokratie und Rechtsstaat, weil man beim Dienst an den höchsten Rechten, die die Menschheit kennt, natürlich alles Recht auf seiner Seite hat!

Das Unrecht der russischen Einmischung auf der Krim hingegen ist allein schon an Bewaffneten zu erkennen, die gar keine russischen Abzeichen tragen.

Faktencheck 4: Sind Rechtsradikale regierungsberechtigt?

Die Protestbewegung in der Ukraine war doch von Rechtsextremisten unterwandert – und die sind jetzt an der Regierung
‚Wir wissen auch, dass jetzt eine Partei an der Regierung beteiligt ist, die mit antisemitischen Äußerungen, aber auch Attacken gegen Synagogen aufgefallen ist.‘ Heinz-Christian Strache, FPÖ-Chef“

Ein österreichischer Rechtsradikaler und nicht eben bekennender Sympathisant des Judentums hat Bedenken dagegen, dass in der Ukraine Gesinnungsfreunde an der Macht sind – ja wo gibt’s denn so was, denkt der Leser und soll er auch denken: Die – wenigstens für drei Viertel der Österreicher – etwas fragwürdige Reputation des Mannes ist schon die halbe Entkräftung des Vorwurfs, den er an die Adresse der EU und ihrer ukrainischen Schützlinge loswerden will. Die andere Hälfte erledigt eine ausgewogene Würdigung der Sachlage:

„Nach den ukrainischen Wahlen 2012 hatte sich das EU-Parlament in einer Stellungnahme wegen der ‚zunehmenden nationalistischen Stimmung, die zum Ausdruck kommt in der Unterstützung für die Partei Swoboda (‚Freiheit‘)‘, besorgt gezeigt. (…) Jetzt stellt dieselbe Swoboda-Partei in der mit Akzeptanz der EU gebildeten Übergangsregierung den dritten Vize-Premier, den Verteidigungs-, den Umwelt- und den Landwirtschaftsminister – also vier von insgesamt 20 Ressortchefs sowie den Generalstaatsanwalt. Der ‚Prawy Sektor‘ ist zwar nicht per se im Kabinett vertreten, hat allerdings mit dem neuen Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, einem ehemaligen Swoboda-Mann und Maidan-‘Kommandanten‘, einen engen Vertrauten dort. Und das von den Außenministern Frank-Walter Steinmeier (Deutschland), Laurent Fabius (Frankreich) und Radoslaw Sikorski (Polen) ausgehandelte Abkommen zur Beilegung der Krise, das unter anderem die Entwaffnung aller nicht-staatlichen Milizen vorsah, wurde letztlich nie umgesetzt. So unappetitlich das alles sein mag: Dass, wie Russland und Links-Politiker vor allem aus Deutschland insinuieren, in der Ukraine ‚die Faschisten‘ an der Macht sind, lässt sich daraus nicht ableiten.“

Das Blatt greift zum Stilmittel der Übertreibung, um sein eigenes Konstrukt als übertrieben zurückweisen zu können. In der Ukraine sind demnach nicht die Faschisten an der Macht, sondern nur einige. Und die sind nicht einmal an der Macht, sondern stellen bloß ein Fünftel der Regierung und den Generalstaatsanwalt. Beides beweist, dass von einer Unterwanderung der freiheitlichen Protestbewegung durch Rechtsradikale keine Rede sein kann. Dass solche mit in der Regierung sitzen: Ja, das ist schon unappetitlich. Aber erstens dient es der guten Sache und zweitens ist es längst nicht so unerträglich wie alles andere, was die Propaganda von Russen und Linken aus diesem kleinen Schönheitsfleck der demokratischen Erneuerung ableiten will.

Faktencheck 5: Wer übt mit Recht Gewalt?

Der Westen hat angesichts der Kriege im Irak, in Afghanistan und im Kosovo kein Recht, Putin an den Pranger zu stellen
‚Glaubt ihr, Frau Merkel hätte sich nur eine Sekunde aus dem Fenster gelehnt, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika sich das Recht herausgenommen hätten, in welchem Land auch immer das Militär zum Schutz amerikanischer Bürger einzusetzen? Genauso lautet die Rechtfertigung Putins für seinen Aufmarsch.‘ Konstantin Wecker, Sänger“

Die kritischen Journalisten von „profil“ werden mit dem Vorwurf der westlichen Doppelmoral konfrontiert: Dasselbe Recht auf Gewalt, das der Westen sich herausnimmt, wann und wo immer er will, dürfe er Russland keinesfalls absprechen. Um diesen Vorwurf zu entkräften, holen sie ganz tief aus und erklären ihren Lesern, wie es so ganz überhaupt um die Rechtfertigung der westlichen Gewalteinsätze bestellt ist:

„Als die NATO im Jahr 1999 Jugoslawiens Hauptstadt Belgrad bombardierte, tat sie das weder aus Selbstverteidigung noch mit der Deckung eines Mandats des UN-Sicherheitsrates – Russland hatte ein Veto eingelegt. Bis heute vertreten Kritiker der ‚Operation Allied Force‘ die Meinung, es habe sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gehandelt. Die Gegenmeinung lautet, der NATO-Einsatz habe eine ‚humanitäre Intervention‘ dargestellt, die in Anlehnung an ein Nothilferecht nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar dringend geboten gewesen sei.“

Im Fall Jugoslawien ist man also bis heute geteilter Meinung, ob die Bomben auf Belgrad und die Abtrennung des Kosovo von Serbien in Ordnung gingen. Auch „profil“ lässt den Streit zwischen Meinung und Gegenmeinung offen, ergreift weder Partei für die eine Seite noch für die andere – um aus der Konzession, dass die Rechtfertigung von Kriegen im Namen des Menschenrechts manchmal schon etwas problematisch ist, den gebotenen Schluss auf Russland zu ziehen. Für Gewaltaktionen dieser Nation gibt es absolut keine Rechtfertigung, gerade dann nicht, wenn Putin sich bei seiner Annexion der Krim auf das westliche Vorbild Kosovo beruft:

„Die Provinz wurde schließlich Jugoslawien mittels Gewalt entzogen, und im Jahr 2008 proklamierte das kosovarische Parlament die Unabhängigkeit des Territoriums als ‚Republik Kosovo‘. Eine Blaupause für die Krim? Nein. Dem Eingreifen der NATO waren im Kosovo Massaker auf beiden Seiten – der Serben und der Kosovo-Albaner – vorangegangen, der UN-Sicherheitsrat hatte die serbische Seite wegen des ‚exzessiven Einsatzes von Gewalt‘ verurteilt und die kosovarische Führung aufgefordert, ‚terroristische Handlungen zu verurteilen‘. Die NATO konnte zu Recht darauf hinweisen, sie interveniere, um weitere Tötungen und Vertreibungen zu verhindern. Weiters wurde die Provinz Kosovo nach Kriegsende unter die Verwaltungshoheit der Vereinten Nationen gestellt – auch das ein völlig anderes Vorgehen als jenes von Russland auf der Krim. Und schließlich wurde die Unabhängigkeit des Kosovo nicht überfallsartig wenige Tage nach dem Einmarsch fremder Truppen durchgepeitscht, sondern nach langen Verhandlungen und begleitet von einer Verfassung, die starke Minderheitenrechte enthält. Was Irak und Afghanistan betrifft, lassen sich schwerlich konkrete Parallelen zur Krim ziehen: Beide Kriege richteten sich gegen tatsächlich despotische Regimes, auch wenn sich die Gründe im Fall von Saddam Hussein nachträglich als erlogen herausstellten. Beide wurden zudem in der Öffentlichkeit heftig kritisiert. Und man kann unabhängig von ihrer Bewertung zum Schluss kommen, dass die Intervention auf der Krim völkerrechtswidrig ist.“

Schön, welche Unterschiede es sind, die den Westen mit seiner Gewalt ins Recht und die Russen ins Unrecht setzen. Nach den vielen schon gelaufenen Massakern im jugoslawischen Bürgerkrieg, den man dort be- und gefördert hat, galt es im Kosovo ein weiteres zu verhindern – und auf der Krim hat nicht einmal ein einziges stattgefunden! Dann ist der Westen im Kosovo gar nicht einmarschiert, hat sich auch ganz viel Zeit gelassen bei der endgültigen Eingliederung der Provinz in seinen Machtbereich – und den Russen kann es gar nicht schnell genug gehen mit der Verteidigung ihres strategischen Vorfelds! Und dann noch Irak und Afghanistan: Das war westliche Militärgewalt gegen despotische Regimes – und gab es auf der Krim auch nur einen klitzekleinen Despoten? Gut, der Westen hat seine Kriege mit lauter Lügen begründet – aber er ist dafür in der Öffentlichkeit – und zwar in seiner eigenen! – heftig kritisiert worden! Damit steht fest: An deren Überparteilichkeit auch nur irgendwie zu zweifeln, verbietet sich – also verbieten sich auch alle Zweifel an der Richtigkeit der Schlussfolgerungen, zu denen diese unbestechliche Instanz der Kritik im vorliegenden Fall gelangt. Die Tatsache, dass man bei westlichen Gewalteinsätzen geteilter Meinung sein kann, belegt, dass man bei Russland geschlossen einer Meinung sein muss. Denn wer sich so viel Skrupel macht bei der Prüfung des Rechts des Westens, kann einfach nur im Recht sein, wenn er bei Putin absolut keine Skrupel kennt und das Recht auf Gewalt, das der sich herausnimmt, für ein einziges Unrecht befindet!

Faktencheck 6: Ist das Referendum rechtens?

Die Krim hat das gute Recht, sich für eine Angliederung an Russland zu entscheiden
‚Wer das geplante Krim-Referendum kritisiert, muss auch die neue Regierung in Kiew kritisieren, die auf illegale Weise zustande gekommen ist.‘ Sarah Wagenknecht, Linkspartei“

Wieder der Vorwurf des zweierlei Maßes, das bei der Verurteilung Russlands in Anschlag gebracht wird, und da behelfen sich die Autoren von „profil“ mit einer kleinen Akzentverschiebung. Wagenknecht will den Blick der Kritiker des Krim-Referendums auf die Illegitimität der Regierung in Kiew richten – und sie kaprizieren sich auf Fragen, die die Legitimität des Referendums betreffen:

„Was spricht eigentlich dagegen, dass sich die Krim von der Ukraine abspaltet? Immerhin gehörte die Halbinsel bis vor 60 Jahren zu Russland. Das spiegelt die Bevölkerungsstruktur bis heute wider. Mehr als 60 Prozent der Krim-Bewohner sind russischstämmig, und über ihre Sympathien herrscht kein Zweifel – über ihre wirtschaftlichen Interessen ebenso wenig: Die Schwarzmeerflotte nutzt Sewastopol seit über 200 Jahren als Heimathafen, ist damit auch einer der wichtigsten zivilen Arbeitgeber und hat die Stadt im Vergleich zum Rest des Landes durchaus wohlhabend gemacht. Rechtlich galt die Halbinsel bislang als autonome Republik innerhalb der Ukraine. … Es besteht also wenig Zweifel: Das Referendum, bei dem nach offiziellen Angaben mehr als 90 Prozent der abgegebenen Stimmen auf eine Eingliederung der Krim in die Russische Föderation entfielen, war nicht manipuliert.“

Nach dem kleinen Zugeständnis, dass an der Authentizität des geäußerten Volkswillens trotz aller Zweifel nicht zu zweifeln ist, macht man sich daran, über den Nachweis der illegitimen Mittel beim Einholen des Votums dem Vorwurf Wagenknechts den Wind aus den Segeln zu nehmen: nur zwei Wochen Vorlaufzeit statt zwei Jahre Wahlkampf, wie sich das bei uns gehört. Keine Debatte über nicht-russische Minderheiten, während hierzulande Ausländern höchster Respekt im politischen Diskurs gezollt wird – das und anderes mehr führen zu dem Fazit: Ein Unabhängigkeitsreferendum unter derartigen Bedingungen wäre in Europa undenkbar – erst recht nicht, wenn es von schwer bewaffneten Soldaten jenes Landes überwacht wird, das sich ein Territorium einverleiben will, und die einheimischen Truppen währenddessen in ihren Kasernen als Geiseln gehalten werden.

So manövriert man einen Einwand, zu dessen Entkräftung einem nichts Rechtes einfällt, ins Abseits. Auf das heikle Feld, den pro-westlichen Marionetten, die sich in Kiew an die Macht geputscht haben, den Persilschein demokratischer Legitimität auszustellen, begibt man sich klugerweise gar nicht erst. Beim Referendum auf der Krim hingegen steht man auf festem Boden, das widerspricht allen demokratischen Formalien, die ihm unter dem strengen Blick der „profil“-Redakteure allenfalls Legitimität hätten attestieren können. So illegal wie das Referendum ist die Regierung in Kiew jedenfalls nicht zustande gekommen, also muss man die auch gar nicht so kritisieren – und schon gar nicht aus der Großzügigkeit, mit der der Westen über die faktische Rechtsgrundlage der Kiewer Herrschaften hinwegsieht, einen Anspruch auf Zurückhaltung beim Vorwurf der Illegitimität gegen das Volksbegehren der Krim-Bewohner ableiten, wie Frau Wagenknecht das verlangt.

Jenseits aller „Fakten“: Gleiches Unrecht für alle? Niemals!

Das erste Fazit, für das nach ihrer nüchternen Betrachtung durch die Redaktion von „profil“ die Fakten sprechen, ist das Gebot zu Nüchternheit und Sachlichkeit, dem man selbst so vorbildlich gehorcht hat: Man braucht Wladimir Putin nicht zu verteufeln. Man braucht auch die Politik des Westens mit ihren eigenen Völkerrechtsverstößen und durch Humanitätsrhetorik behübschten Eigeninteressen nicht schönzureden. Aber ein Unrecht macht ein anderes eben nicht gut.Ganz ohne Verteufelung Putins, ganz ohne blinde Parteilichkeit für den Westen: Gerade die Zweifel an dessen moralischem Recht belegen, wie unbedingt Russland im Unrecht ist. Mit den Vorkommnissen in der Ukraine und auf der Krim hat das eher nichts zu tun. In letzter Instanz nämlich verbürgen diese kritisch-parteilichen Vertreter der westlichen Sache selbst die Richtigkeit ihrer Urteile, und zwar allein durch die Tatsache, dass man ihnen bei ihrer Parteilichkeit keine Vorschriften macht. Im Gegenteil, sie dürfen kritisch auf Distanz gehen selbst zu den Kriegen, die im Namen von Freiheit, Demokratie und Menschenrecht geführt werden, und diese Lizenz fällt für sie mit der Selbstverpflichtung auf unbedingte Parteinahme für den Lizenzgeber zusammen:

„Und es gibt immer noch einige große Unterschiede zu Putins Russland: Die Regierungen der europäischen Staaten und auch die USA müssen sich für ihr Handeln vor einer Öffentlichkeit rechtfertigen, die nicht massiven Behinderungen der Meinungs- und Pressefreiheit unterworfen ist – westliche Medien waren die schärfsten Kritiker des Irakkriegs.“

Von der unbestechlichen Instanz, vor der sie sich rechtfertigen müssen, bekommen die Regierungen des Westens im Gegenzug das Geschenk ihrer Rechtfertigung, nicht pauschal, nicht immer gleich in jedem Fall, aber doch ganz prinzipiell, was ihre Gegnerschaft zu Russland betrifft. Staaten, die Kritik an sich zulassen, sind, nach drei „wenn“ und vier „aber“, letztlich immer im Recht – im Unterschied zu anderen Staaten, die allein schon deswegen im Unrecht sind, weil ihre Öffentlichkeit kein „wenn“ und kein „aber“ kennt. So mündet der Faktencheck in eine Hymne auf die Demokratie, weil deren Regierungen die bedingungslose Wertschätzung seitens ihrer Öffentlichkeiten nicht geschenkt bekommen, sondern sie sich immer hart erarbeiten müssen:

„Die westlichen Regierungen müssen den Konsens mit der Bevölkerung suchen, immer im Bewusstsein, bei der nächsten Wahl andernfalls abgelöst zu werden. Sie haben ein manchmal peinigend kompliziertes Regelwerk an rechtsstaatlichen Normen entwickelt und müssen sich permanent daran messen lassen. Und sie fühlen sich durchaus glaubwürdig einer Vielzahl von Werten verpflichtet, die in Russland keine Rolle spielen – etwa dem Schutz von Minderheiten. Das heißt: Alles zusammen genommen sollte es nicht schwerfallen, im Ukraine-Konflikt zu beurteilen, welche Seite im Unrecht ist und von wo die Gefahr ausgeht.“

Die Frage nach Recht und Unrecht in außen-und weltpolitischen Affären entscheidet sich für „profil“ definitiv nicht an dem, was Staaten auf der weiten Welt so treiben, mit welchen gewaltträchtigen Anläufen sie ihre Interessen auswärts durchsetzen, welche Fakten sie dabei anerkennen, schaffen oder zerstören; sie entscheidet sich daran, was das für Staaten sind, die bei Bedarf über Leichen gehen. Nur Zustände wie bei UNS – ein Kriterium, dem allein WIR gerecht werden – lassen Nationen mit Recht imperialistisch fuhrwerken. Ein demokratisches Regime, das sich regelmäßig wählen lässt und dadurch sein Volk immer wieder hinter sich bringt, dessen Machthaber sich von rechtsstaatlichen Normen solange peinigen lassen, bis sie diese modifizieren, und das sogar Werte hat: So eine gute Herrschaft ist immer im Recht, in allem, was sie auswärts anrichtet, und so einem hinreißenden Regime lassen die Weltenrichter von „profil“ alles durchgehen, was sie einem autokratischen Präsidenten ohne unsere Werte nie und nimmer erlauben.

*

Das zu begreifen, meint das österreichische Magazin, sollte nicht schwer fallen, und es spricht damit den deutschen Vertretern der Zunft so was von aus dem Herzen. Die können es einfach nicht fassen, dass sie mit allen ihren guten Argumenten so wenig ankommen, und der Frage, wieso denn Leuten so schwer fällt, was doch so einfach zu haben ist, widmen sie sich dann eigens auch noch.

V. Die Zeit erklärt: „Wie Putin spaltet“

In der Ausgabe Nr. 16/2014 des Blattes gibt sich der Autor, B. Ulrich, bestürzt:

„Wenn die Umfragen nicht täuschen, dann stehen zurzeit zwei Drittel der Bürger, Wähler und Leser gegen vier Fünftel der politischen Klasse, also gegen die Regierung, gegen die überwältigende Mehrheit des Parlaments und gegen die meisten Zeitungen und Sender. (…) Viele Leser erwarten von uns Ausgewogenheit, was auch in diesem Fall völlig normal wäre, wenn denn lediglich über die Vernünftigkeit von Sanktionen oder die Fehler der EU gestritten würde – da wäre ja alles demokratisch und menschenrechtlich so rum und so rum im grünen Bereich. Tatsächlich jedoch wird die Legitimität des Völkerrechts offensiv infrage gestellt, die von Putins nationalistisch imperialer Ideologie aber ernstlich erwogen.“

In die Niederungen des laufenden politischen Diskurses, des Rechtens darüber, welche Haltung gegenüber Russland man einzunehmen hat, und des Kampfes gegen die, die sich auf keinen Fall gehört, begibt der Mann sich gar nicht erst. Über Fehler beim Programm der europäischen Osterweiterung oder dessen Umsetzung kann man nach seiner Auffassung durchaus konträrer Meinung sein, auch über die Zweckmäßigkeit von Sanktionen ließe sich für ihn noch streiten. Doch in der Hauptfrage, auf die es ankommt, ist für ihn der Fall so klar wie nur irgendetwas und gibt es einfach nichts zu streiten: Unbedingte Parteilichkeit für den Westen und gegen Russland ist ein Gebot des Völkerrechts, das versteht sich ganz von selbst und bedarf keiner weiteren Begründung; wer sich ihr nicht anschließt, das steht damit auch von selbst fest, untergräbt dessen Legitimität und Geltungsanspruch und hält, was auch nur folgerichtig ist, statt dessen eine Ideologie für legitim, die nach allen völkerrechtlichen Geboten nur zu ächten ist. Wo das so sonnenklar ist, hätte also ein einziger Aufschrei durch Deutschland zu gehen – und der bleibt aus, obwohl sich alle Verantwortungsträger der Öffentlichkeit größte Mühe geben, ihn loszutreten. Das bestürzt ihn, aber: Bestürzung hilft nichts, nur Verstehen hilft, und darum kümmert er sich dann. Wieso diese doch so selbstverständliche Reaktion ausbleibt und die gebotene affirmative Parteilichkeit vom Volk nicht akzeptiert wird: Das ist die Frage, die er sich vorlegt und über deren Beantwortung er sich und seinen skeptischen Lesern verständlich zu machen sucht, wofür er absolut kein Verständnis hat. Die verstockten Deutschen will er verstehen können, sich in ihre Motivlage einfühlen und eventuell vorliegende mildernde Umstände ihres Verhaltens aufspüren. Das ist seine Tour der Verurteilung einer Haltung, die sich nicht gehört.

Als erstes hält er Rückschau auf die Kriege des Westens und darauf, wie die jeweils offiziell begründet wurden, und da kann er die Deutschen schon verstehen, wenn sie in den hohen Fragen von Moral und Völkerrecht in diesem Fall so leidenschaftslos sind:

„Man muss sich noch einmal vor Augen führen, mit welchem Pathos George W. Bush oder Tony Blair seinerzeit vor die Weltöffentlichkeit getreten sind und wie sie am Ende alle enttäuscht und getäuscht haben, um jetzt die Milde zu verstehen, mit der viele über Putin urteilen. So inflationär haben damals viele westliche Politiker das Wort Freiheit benutzt, um Kriege zu begründen, dass heute die meisten schon Krieg hören, wenn das Wort Freiheit außerhalb von Sonntagsreden fällt. Wenn die einen von Demokratie sprechen, sehen die anderen schon die F-16-Bomber aufsteigen.“

Fast möchte man ihn beglückwünschen zu seiner Entdeckung, wozu die feinen Werte im Verkehr zwischen Staaten gut sind und warum sie in dem so gerne Verwendung finden: Sie taugen zur Ächtung und Delegitimierung einer gegnerischen Macht, und damit zugleich zur Legitimierung der eigenen Gewalt, mit der man gegen die vorgeht. Aber er will ja auf eine ganz andere Lesart der praktischen Wahrheit hinaus, die er seinen Lesern zur Kenntnis bringt: Missbräuchlich wären vom Westen – und da natürlich vor allem: von dessen amerikanischer Führungsmacht und ihren selbstherrlichen Anmaßungen – diese Werte verwendet worden. Dies obendrein auch noch so inflationär, dass sie gerade jetzt, wo die Ächtung Putins für jeden aufrechten Freund der Freiheit zur selbstverständlichen Pflicht wird, den guten Dienst nicht mehr tun, für den sie vorgesehen sind und den er von ihnen verlangt. Das Markenzeichen, das die westliche Gewalt heilig spricht, ist durch überreichlichen Gebrauch verwässert worden, nicht zu Unrecht sind die Menschen also moralisch ziemlich frustriert, und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Putin spaltet die Deutschen – auch das kriegt dieser Verbrecher noch hin. Nach dem Verständnis des Autors sind den Deutschen zwar schon dank des weltpolitischen Wütens Amerikas mit Freiheit & Demokratie die moralischen Koordinaten abhanden gekommen, an denen entlang sich die Staaten verlässlich wie der Reflex beim Pawlowschen Hund in solche scheiden lassen, denen bei der Anwendung ihrer Gewalt allerhöchstes Recht gebührt, und in andere, für die das grundsätzlich nicht gilt und denen daher jeder Respekt, gar irgendeine Art von Verständnis für ihre Taten zu verweigern ist. Doch bemerkbar wird dieser Verlust eben erst jetzt, im Zuge der Machenschaften Putins, so dass in Wahrheit er es ist, der die Deutschen dissoziiert: In solche, die wegen Bush demokratisch verroht sind und jetzt damit auffällig werden, und in die anderen, die in ihrer Parteilichkeit für die Demokratie einfach immun sind gegen noch so viele Kriege und Lügen.

Doch nicht nur der Westen macht es den Deutschen schwer, ihren Zeitungs- und Fernsehredakteuren zu folgen, die den Glauben ans Gute nicht verloren haben. Manchmal machen schon auch die Vertreter der Medien selbst es ihren Lesern schwer. Sie geben ihr Bestes, Putin als skandalösen Verbrecher an allem vorzustellen, was jedem guten demokratischen Menschen hoch und heilig zu sein hat. Sie machen einen richtigen Hype – so nennt der Autor selbst die Technik, aus so gut wie jedem Anlass einen öffentlichen Aufreger zu verfertigen – aus dem, was sie in einem Kapitel imperialistischer Weltpolitik für vollkommen untragbar halten, in seltener Geschlossenheit, ohne jeden Führerbefehl und aus allen Rohren, über die die Organe der pluralistischen Meinungsbildung verfügen, und dann so etwas:

„Wenn die übergroße Mehrheit der Medien wie im Falle der Ukraine in eine ähnliche Richtung argumentiert, so ist es (...) alles andere als leicht, selbst für gutwillige Leserinnen und Leser, zu unterscheiden, ob es sich hier a) mal wieder um einen Hype handelt oder b) um eine unausgesprochene Volkserziehungsmaßnahme oder aber c) um einen Fall von tief sitzenden demokratischen und menschenrechtlichen Überzeugungen. Denn das gibt es natürlich auch, dass wir Journalisten uns (…) auf unsere innersten Werte beziehen und einfach deswegen unisono gegen einen Meinungsfreiheit und Völkerrecht missachtenden Autokraten anschreiben, weil das der tiefste Sinn unseres Arbeitens ist.“

Selbstkritisch klopft er sich auf die eigene Brust und exkulpiert seine Leser, die in der geistigen Umnachtung, die sie aktuell an den Tag legen, doch nur das Produkt ihrer journalistischen Erzieher sind. Denn von denen haben sie ja gelernt, politische Fragen höchsten Ranges wie den allerletzten Mist aus dem Privatleben eines Prominenten als einen Hype zu nehmen und den genau so lange für wichtig und interessant zu finden, wie es ihnen die Laune oder die Konzentration auf den nächste Hype derselben Machart gebietet. Wie sollen sie da noch das Gewicht der Botschaft erkennen können, die ihnen von der journalistischen Elite jetzt mit ihrem Anti-Putin-Hype ans Herz gelegt wird?! Infotainment-gestählt, wie sie sind: Schon verständlich, dass sie dann, wenn sie von allen Zeitungen dasselbe gesagt bekommen, angeödet sind, weder den Ernst der Lage erfassen noch auf das hören, was der gebietet, und sich stattdessen von einer Volkserziehungsmaßnahme bevormundet wähnen, einer unausgesprochenen obendrein, wo doch nun wirklich alle Journalisten überdeutlich aussprechen, in welche Richtung sie das Volk umerziehen wollen. Aber da gibt es ja noch ein Drittes, was die verehrten Leser und Leserinnen, insbesondere die gutwilligen unter ihnen, vielleicht auch einmal in Erwägung ziehen könnten. Wenn ihnen wg. Bush schon die moralische Orientierung und im Zuge ihrer Zeitungslektüre dann auch noch die Scheidung zwischen wichtig und unwichtig abhanden gekommen ist, könnten sie nach Auffassung des Autors es ja mit der Alternative c) versuchen – und sich endgültig davon beeindrucken lassen, dass es sich bei ihm und seinesgleichen um echte Überzeugungstäter handelt. Die drücken nur aus, was tief in ihnen steckt, hetzen im Namen von Völkerrecht und Meinungsfreiheit gegen Putin, weil das ihre eigenen, auch noch innersten Werte sind. Dies rührt, wie man weiter hört, bei den Mitgliedern dieser wertvollen Spezies gar nicht bloß aus dem Umstand, dass es sich um ihre festen Überzeugungen handelt, die sie dazu anhalten, für sie zu missionieren und das Volk zu mobilisieren: Diese Überzeugungen sind Conditio sine qua non des Berufes, den sie ausüben. Sie machen den tiefsten Sinn des demokratischen Journalismus aus, so dass man von einem, der sein Innerstes nach außen kehrt, erfährt, dass bei Journalisten Meinungsfreiheit und die bedingungslose Parteilichkeit für den Staat, der sie ihnen gewährt, untrennbar zusammengehören. Die eigene Dankbarkeit für die Lizenz, gegen Putin und sein Russland hetzen zu dürfen, als Argument: Das ist so ziemlich der originellste Grund dafür, mit dem Feindbild, das man propagiert, Zustimmung zu finden.