Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Zur Tagung des chinesischen Volkskongresses
Öffentlicher Beifall für das Massenelend in China

Auf seinem marktwirtschaftlichen Kurs will China entschieden vorankommen. Der staatliche Beschluss, das Zustandekommen von Reichtum in der Nation an die erfolgreiche Mehrung von Eigentum in privater Hand zu binden, setzt also weitere Betriebsschließungen auf die Tagesordnung; westliche Beobachter des Volkskongresses sorgen sich angesichts dessen um die Haltbarkeit der öffentlichen Gewalt.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Zur Tagung des chinesischen Volkskongresses
Öffentlicher Beifall für das Massenelend in China

Nach innen wie nach außen verkündet der chinesische Volkskongreß eine eindeutige Botschaft: Auf seinem marktwirtschaftlichen Kurs will China entschieden vorankommen; weil der Konkurrenzerfolg auf dem Weltmarkt über alles geht, will sich die Nation Betriebe nicht mehr leisten, die dem marktwirtschaftlichen Rentabilitätsvergleich nicht standhalten – „nach der Zentralregierung und dem Militär müßten sich nun auch lokale Regierungen von Unternehmen trennen“; der staatliche Beschluß, das Zustandekommen von Reichtum in der Nation an die erfolgreiche Mehrung von Eigentum in privater Hand zu binden, setzt also weitere Betriebsschließungen auf die Tagesordnung; daher ändert der Volkskongreß die Verfassung und erhebt die Privatunternehmen, die bisher als Ergänzung der sozialistischen Wirtschaftsordnung galten, zum wichtigen Bestandteil der chinesischen Wirtschaft; als Dokument des entschlossenen Willens zur weiteren Öffnung Chinas nach außen kündigt Premier Zhu Rongji an, den Telekommunikationssektor für ausländische Investoren zu öffnen und ausländischen Banken das Geschäft mit chinesischer Währung zu erlauben.

Dies alles findet einhellige Zustimmung der hiesigen Presse. Dabei verliert man selbstverständlich auch die Härten des begrüßten Fortgangs der chinesischen Reformen nicht aus den Augen. Nüchtern und in aller Ausführlichkeit breitet man aus, was der chinesische Weg vom Sozialismus der Mao-Zeiten hin zum Kapitalismus die Chinesen schon gekostet hat und sie demnächst noch kosten wird:

  • Für die 800 Millionen Chinesen auf dem Land ist die tägliche ‚eiserne Reisschüssel‘ schon längst passé. Mit ihrem halben Hektar Land, auf Kredit gekauft oder gepachtet, ist ihnen jede Existenzsicherheit abhanden gekommen. Zwischen festgelegten Abnahmepreisen für ihre Produkte einerseits und steigenden staatlichen Abgaben bzw. Zahlungen an private Kreditwucherer andererseits dürfen sie Privatinitiative beweisen; manchmal rauben auch die Fluten des Yangtse Ernte und landwirtschaftlich brauchbares Land, ohne daß der Staat weiter für Ersatz sorgt. Ob die Bauern aus ihrer Not irgendwohin flüchten oder einfach abwarten, bis ihnen das Dach über dem Kopf weggepfändet wird, ist dann auch schon einerlei: Bis zu 170 Millionen ländliche Beschäftigte – etwa ein Viertel aller Erwerbstätigen – werden bis zum nächsten Jahr überflüssig oder arbeitslos sein. (FR, 16.03.)
  • Die meisten der vom Land Vertriebenen suchen als sogenannte Wanderarbeiter Arbeitsgelegenheiten in den Städten, die es dort aber – im Vergleich zur Zahl der nach Arbeit und Essen Suchenden – nur in verschwindendem Ausmaße gibt. Die überflüssig gemachte Landbevölkerung addiert sich so zur städtischen Überbevölkerung, die über die Schließung unprofitabler Abteilungen der Staatsbetriebe zustandekommt. Registrierte Arbeitslose und sogenannte „xiagang“ – das sind Leute, die ebenfalls entlassen sind, aber noch einen Teil ihres Lohn erhalten – umfassen einem Bericht von Le Monde Diplomatique zufolge schon jetzt 26 bis 31 Millionen Menschen, in den beiden kommenden Jahren werden weitere 20 bis 26 Millionen Beschäftigte entlassen werden, wobei Beschäftigungslose, die einen Arbeitsvertrag haben, aber ihren Lohn nicht oder nur teilweise ausbezahlt bekommen, nicht mitgezählt sind.
  • Wer in der Exportindustrie oder bei Infrastrukurarbeiten einen Job gefunden hat, ist nicht viel besser gestellt als die darbenden Bauern und die ganz um Lohn und Lebensmittel gebrachten Arbeitslosen. Bis zum ‚Asien-Crash‘ kolportieren die hiesigen China-Experten als hervorstechendes Gütezeichen chinesischer Arbeitskräfte den Umstand, daß sie nur halb soviel kosten wie ihre Kollegen in Thailand oder auf den Philippinen; nicht bekannt ist, daß seither die Löhne in China gestiegen wären. Als weitere Merkmale der Lohnarbeit in China vermelden die gewöhnlich gut unterrichteten Kreise einen 12- bis 15stündigen Arbeitstag, kein Aufenthaltsrecht für Wanderarbeiter in den Städten, Einsperrung, Anwendung physischer Gewalt am Arbeitsplatz.

So beschert die chinesische Regierung ein paar Millionen Chinesen einen extensiven Arbeitstag gegen einen Hungerlohn, ein paar weiteren Millionen eine Pauperexistenz ohne jegliches Einkommen, etlichen anderen die Vertreibung von ihrem Zuhause – und was sagt das unseren Journalisten? Kommen ihnen, die in Sachen humanitäre Katastrophe doch über ein so feines Sensorium verfügen, bei ihrem Lobgesang auf den chinesischen Reformkurs vielleicht ein bißchen Bedenken angesichts seiner desaströsen Folgen? Von wegen!

Sie finden das Elend, das der chinesische Staat in seinem Volk anrichtet, einfach Klasse. Den politischen Reformern, die von der Marktwirtschaft einfach nicht genug haben können, rufen sie ein kräftiges „Weiter so!“ hinterher. Wenn sie Kritisches von sich geben, dann deshalb, weil ihnen das chinesische Reformwerk noch immer viel zu wenig entschlossen vorangetrieben wird: Zu wenig Konsequenz registrieren sie – ausgerechnet bei Sachwaltern eines politischen Programms, das für den Zweck der Etablierung eines weltmarktfähigen Kapitalismus ein ganzes Volk abschreibt; diese süßen Reformen, derentwegen demnächst noch sehr viel Millionen Chinesen mehr hungern dürfen, gehen ihnen nicht weit genug, überhaupt erscheinen sie ihnen total verspätet. Ein Herr Strittmatter von der SZ hält es nicht aus, daß in China noch immer Leute Einkommen beziehen, deren Leistung sich marktwirtschaftlich gar nicht lohnt; zur Beförderung der Gerechtigkeit macht er sich gleich selbst an die Triage und fordert von seinem gutdotierten Redaktionssessel aus mal so eben die Entlassung überzähliger Staatsbeamter; dann beklagt er sich darüber, daß man nicht schon viel früher auf ihn gehört hat und Peking die überfälligen Reformen nicht schon in den fetten Jahren angegangen ist, als die Wirtschaft noch zweistellig wuchs – als ‚fette Jahre‘ erscheint diesem feinsinnigen marktwirtschaftlichen Strategen die Periode, in der Chinas Staatsführung ein zweistelliges Wirtschaftswachstum über eine Ausplünderung von Arbeitskräften und eine Pauperisierung des unbrauchbaren Rests zustandebrachte, die hinsichtlich ihrer Dimension im 20. Jahrhundert kein Vorbild haben! Noch viel zu wenig Hungergestalten sind nach hiesiger Auffassung also in China unterwegs, und daher verdient sich als einziger Chinese Premier Zhu Rhongji, die derzeitige Inkarnation des chinesischen Fortschritts hin zum Kapitalismus, wie wir ihn mögen, das Mitgefühl von deutschen China-Experten: Im letzten Jahr wünschte man ihm noch die Kräfte des Herkules, jetzt ist man versucht, eher an das Schicksal des Sisyphos zu denken (SZ, 16.03.) – bei soviel Sympathie für China wäre man eher geneigt, an den Tantalus zu denken und dem Schreiber dessen Schicksal zu wünschen.

Eine Sorge überkommt die versammelten westlichen Journalisten angesichts des vom chinesischen Staat veranstalteten Elends dann doch noch: Ob soviel marktwirtschaftlicher Raubbau am Volkskörper gutgehen kann, fragen sie sich. Ob das gedeckelte und gebeutelte Volk mitspielt und sich auch allem fügt, was ihm von seiner Regierung beschert wird, wollen sie wissen, und diese parteiliche Anteilnahme an einer möglichst reibungslosen Verelendung kleiden sie in dem ihnen eigenen Jargon in die Frage, ob denn die Marktwirtschaft ohne soziales Netz nicht eine Gefahr für die Stabilität Chinas sei. Auf Bauernunruhen und auf 2500 Bombenexplosionen richtet sich ihr Augenmerk, nicht weil die ihnen das exzessive Ausmaß der Not sinnfällig machten, die chinesische Hungerleider zum Widerstand gegen ihre politischen Herren aufbringt, sondern weil diese gewaltsamen Umtriebe von unten ein einziger Anlaß sind, sich über die Haltbarkeit der Gewalt von oben zu sorgen, die in China die politische Ordnung zu garantieren hat: Bleibt der chinesische Staat, die allererste Bestandgarantie aller Marktwirtschaft in China, auch in Zukunft stabil? Halten die Machthaber dort auch weiterhin ihr Volk erfolgreich unter Kontrolle? Gelingt es ihnen, auch die demnächst zu erwartenden Hungeraufstände und verzweifelten Gewaltausbrüche ihrer Untertanen zu unterdrücken?

Dabei vergessen die demokratischen Berichterstatter über China bei ihrem Plädoyer für einen effektiven Einsatz der Staatsgewalt zur Kontrolle des massenhaften Elends überhaupt nicht, daß sie ansonsten für Dokumentationen einer souveränen chinesischen Machtvollkommenheit rein gar nichts übrig haben. Der ‚Platz des Himmlischen Friedens‘ fällt ihnen zu China sowieso immer ein, und angelegentlich der chinesischen Hungerleider erinnern sie sich daran, daß man von China nicht nur Stabilität, sondern auch noch manch anderes will. Da können Millionen verhungern: daß China noch immer das Urheberrecht tausendfach mit Füßen tritt und die westliche Unterhaltungsindustrie mit ihrem Schrott bei chinesischen Paupers nicht ins Geschäft kommt – das ist der Skandal, der zum Himmel schreit. Da mag man soeben noch selbst dem Staat gutes Gelingen bei allen ihm ins Haus stehenden repressiven Maßnahmen gewünscht haben, weil man die zur Aufrechterhaltung der gewünschten marktwirtschaftlichen Ordnung einfach für unumgänglich hält: daß freiheitsdurstigen Spinnern der Zugang zum Internet verwehrt wird, der Polizeiminister nicht im Wege freier Wahlen ermittelt wird und überhaupt keine freie Meinung dort herrscht – das ist die Repression im Innern Chinas, die Demokraten einfach nicht aushalten können. Und das sagen sie dann schonungslos heraus.