Italien nach der Wahl
Eine Regierungsbildung neuen Typs

Einig ist sich die neue rechte Regierungskoalition unter Premier Berlusconi zumindest in negativer Hinsicht: Das komplette existierende Staatswesen, vom Sozialstaat und der staatsnahen Industrie über die politischen Institutionen, die regionale Gliederung und die Justiz bis hin zur Medienlandschaft und sogar der antifaschistischen Nationalideologie steht unter dem Verdacht, der Nation geschadet statt ihr genutzt, sie womöglich parasitär ausgenutzt zu haben. All das und mehr – der Status der Republik in der EU – muss vor einem Parteienbündnis seine Existenzberechtigung beweisen, das selbst erst im Streit untereinander eine politische Linie findet, oder auch nicht.

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Italien nach der Wahl
Eine Regierungsbildung neuen Typs

Worum geht es bei dieser Regierungsbildung eigentlich? Geht es um die Frage, wer den Staat regiert? Oder darum, wie er auf Vordermann gebracht werden soll? Oder noch grundsätzlicher darum, was für einem Staat die verschiedenen Fraktionen des gewählten Rechtsbündnisses vorstehen wollen? Zuweilen sieht es so aus, als finde bloß ein Regierungswechsel mit einer etwas umfangreichen Neubesetzung staatlicher Führungsämter statt. Dann bekommt man den Eindruck, dieser Personalaustausch sei nur der Vordergrund einer Auseinandersetzung über das politische Programm der künftigen Regierung. Dann deutet plötzlich einiges darauf hin, daß mitten in dieser Auseinandersetzung Anträge auf einen Umsturz verhandelt werden. Dann scheint der eigentliche Umsturz gar nicht den wirklichen Staat zu betreffen, sondern in der höheren Sphäre der nationalen Selbstdarstellung stattzufinden. Und schließlich kommt es einem wieder so vor, als würde sich die ganze Affäre doch auf einen Koalitionsstreit um einen Posten im Innenministerium zusammenziehen…

Die Sache läßt sich deswegen theoretisch nicht entscheiden, weil die maßgeblichen Akteure all diese Fragen aufwerfen, sie miteinander verknüpfen und die Tagesordnung dieser Nation damit in einem eigentümlich unentschiedenen Zustand halten. Eines steht jedoch fest: Ihre Nation bringen sie gründlich durcheinander. Vom Personal des Staats bis zur Staatsräson, von der Arbeitslosenunterstützung und den Renten bis zu den Staatsgrenzen, von den Befugnissen der Justiz, der Medien und der Parteien bis zum Nationalbewußtsein, von der Staatsindustrie bis zur Verfassung, stellt das Rechtsbündnis alles zur Debatte.

1. Ein Regierungswechsel?

Ein Wechsel des politischen Personals hat stattgefunden; und zwar nach demokratischen Maßstäben ziemlich bilderbuchmäßig. Das Volk erteilt einer neuen Führungsmannschaft den Auftrag, der ziemlich gleichlautend auf den Wahlplakaten sämtlicher Parteien steht: Italien soll wieder aufgebaut werden. Zur Wahl stehen mit Aussicht auf Erfolg im wesentlichen zwei Möglichkeiten zum Ankreuzen: das Wahlbündnis der progressisti und ein Wahlbündnis rechter Parteien. Die Sorge, die in den vor der Wahl angestellten Spekulationen ventiliert wird, ob eine regierungsfähige Mehrheit herauskommt, die Italien wieder eine stabile Regierung bringt – von sauberer Politik oder sonstwie gearteten Ansprüche an die Politik ist nicht mehr viel die Rede –, erweist sich als unbegründet. Gewählt wird mit einer klaren Mehrheit das Rechtsbündnis. – Die Frage, was für eine Politik in Italien gemacht werden soll, ist bei der ganzen Veranstaltung ausgeklammert. Das ist insofern sachgerecht, als der Zweck der demokratischen Prozedur die Delegation der Entscheidung über die künftige Politik an eine Polit-Mannschaft ist, die durch ihre Mehrheit das exklusive Recht erwirbt, sich die Regierungsgewalt anzueignen und über deren Gebrauch souverän zu entscheiden. Dieses Recht hat das Rechtsbündnis in Anspruch genommen.

Jedoch in einer Weise, die sogleich eine nationale Debatte über die Reichweite dieses Rechts entfesselt hat. Die neue Führung hat es nämlich dahingehend ausgelegt, daß ihr nicht nur die Regierungsämter, sondern ein weitgehendes Monopol auf sämtliche mit Entscheidungsbefugnissen verbundenen Staatsämter zusteht – auf die Vorsitzenden der Parlamente, die Direktorenstellen des Staatsfernsehens, die obersten Ämter der Justiz, die Führungsposten in der Staatsverwaltung, in der Staatsindustrie und im Bankenwesen. Und das hat auch das Verfahren außer Kraft gesetzt, das bislang die Vergabe solcher Entscheidungsstellen nach einem Parteienproporz geregelt hat.

Daß mit dem groß angelegten Personalaustausch mehr beabsichtigt ist, als den Spieß gegenüber dem alten Staatspersonal umzudrehen und bei der Besetzung von wichtigen Ämtern im Staat einen anderen Parteiausweis zu verlangen, geht daraus hervor, daß diese Maßnahme als politische Notwendigkeit betrachtet wird. Die Protagonisten der neuen Regierungsmannschaft begründen ihre Säuberungsaktion nämlich damit, daß der Staat von Parteien ruiniert worden sei, die ihn mit ihren Seilschaften unterwandert und ausgenutzt hätten: „Es gibt ein Heer von Personen, denen es gut ging und gut geht in dieser ersten Republik, ein Meisterwerk der Korruption und der Leute, die auf Kosten anderer essen.“ Solche Töne sind als Leitfaden der Politik durchaus neu. So wie das Rechtsbündnis mit ihnen an die alte Kritik der partitocrazia anknüpft und sie versteht, ist sie in der Vergangenheit nämlich nicht in die Tat umgesetzt worden. Praktisch festgemacht hat sich diese Kritik bislang an Korruption und Mafia-Beziehungen der staatstragenden Parteien; und um die hat sich die Justiz gekümmert. Mit dem Vorwurf des assistenzialismo gerät erstens ein anderer Adressat in die Schußlinie der Parteienkritik: Der Vorwurf richtet sich außer an die bislang staatstragende DC und deren Verbündete explizit an den von der Staatsmacht weitgehend ausgeschlossenen PCI und seine Nachfolgeorganisation – die bisherigen Kritiker der partitocrazia! –, weil Linke nun einmal im Urteil der Rechten den Verdacht nicht loswerden, eine soziale Ader zu haben. Zweitens wird in der Form einer Kritik am politischen Personal die ganze Verfassung des bisherigen Staats grundsätzlich in Frage gestellt: Seine Einrichtungen sollen sich einem staatsschädlichen Zweck verdankt haben, dem, Leute zu ernähren, die dem Staat nicht nützlich sind. Und drittens läßt die neue politische Führung keinen Zweifel daran, daß sie die Verfolgung dieses Verbrechens, das in der „Republik der DC und des PCI“ die Politik bestimmt haben soll, in die eigene Hand nehmen will.

Daß für sie die Sache mit einem Personalwechsel nicht erledigt ist, wird an einer ganzen Reihe von Vorhaben deutlich, die nicht darauf abzielen, die Führungspositionen nur zu besetzen, sondern die mit ihnen verbundenen Befugnisse neu zu definieren:

  • Mit als erstes ist den rechten Parteien eingefallen, daß die Kompetenzen der Justiz neu geregelt werden müssen. Der Modus zur Bestellung von Richtern und Staatsanwälten, mit dem bislang alle Parlamentsparteien ihnen „nahestehende“ Personen unterbringen konnten, soll mit dem Ziel einer Kontrolle durch die (rechte) Parlamentsmehrheit geändert werden. Ermittlungsrichter sollen in ihrem Verfolgungsdrang gegenüber den Angehörigen der politischen Klasse gebremst werden. Konnten Richter (wie beispielsweise Falcone und Borsellino) in der Vergangenheit den Übergang zur Ermittlung und Strafverfolgung machen, soll sich ihre Tätigkeit in Zukunft darauf beschränken, das juristisch zu beurteilen, was ihnen die Staatsanwaltschaft zur Beurteilung vorlegt. Daß die neue Führung die Befugnisse der Justiz zur Debatte stellt, führt allein schon zu klimatischen Veränderungen: Hat das entschiedene Vorgehen des Staats gegen die Mafia und ihre Polit-Connections in den letzten Jahren auch ganz gewöhnliche Leute mutig gemacht, gegen ihre Behelligung durch die Mafia auf die Straße zu gehen, sind in Sizilien nun Solidaritäts-Demonstrationen für die verhafteten Bosse an der Tagesordnung.
  • Die Medienlandschaft wird unter den Verdacht gestellt, samt und sonders kommunistisch unterwandert zu sein.[1] Anders als mit dieser Wahnvorstellung, die anläßlich kritischer Töne gegen den „Medienmagnaten“ auch auf den ganzen internationalen Journalismus Anwendung findet, können sich Leute wie Berlusconi nämlich nicht erklären, warum sich Fernsehen und Presse nicht als reine Propagandainstrumente ihrer Parteiinteressen betätigen. Um dem etwas näher zu kommen, wird von maßgeblicher Seite nicht nur laut über die Auswechslung der Direktoren des Staatsfernsehens nachgedacht, sondern auch über die Neugestaltung seiner Nachrichtensendungen und über die Privatisierung dieser Institution. Letzteres insofern ein gelungener Einfall, als es in Berlusconis eigenen Sendern durchaus schon Vorbilder gibt. Für die ist andererseits – da die Interessen der rechten Parteien so identisch gar nicht sind – ein Antitrustgesetz im Gespräch, das dafür Sorge tragen soll, daß die ganze Meinungsvielfalt, die im Rechtsbündnis vertreten ist, zu ihrem Recht kommt.
  • Daß ein neues Wahlgesetz her muß, ist beschlossene Sache. Und die diesbezüglichen Vorschläge, die in die Zirkulation geworfen werden, begründen sich streng aus dem jeweiligen Interesse der Regierungsparteien, Wahlen als verläßliches Instrument der Bestätigung speziell ihres Machtanspruchs einzurichten. Nach dem Muster: „Ich bevorzuge eine Reform in Richtung auf ein reines Mehrheitswahlrecht… Mit einem reinen Mehrheitswahlrecht hätten wir von der Forza Italia mehr Sitze gehabt.“[2]
  • Vorgesehen sind außerdem Verfassungsänderungen, die die neue Regierung in größerem Umfang vorhat, unter Umgehung des Parlaments, in dem die Rechte nicht über die notwendige 2/3-Mehrheit verfügt. Das setzt einen Verfassungskonflikt auf die Tagesordnung, weil Referenden, die die Regierung bei Bedarf anberaumen will, dem Geist der Konstitution nach nur als Instrument vorgesehen sind, von der Regierung durchgebrachte Gesetze aufzuheben und das Parlament zur Neubefassung zu verpflichten.

Die Machtvollkommenheit der neuen Führung kann offenbar gar nicht umfassend genug ausfallen. Die Weise, wie sie sich daran macht, sich die Staatsmacht anzueignen und die Kompetenzen der Regierung auszubauen, paßt nicht so ganz in den Rahmen eines bloßen Regierungswechsels. Sie wirft nämlich die Frage auf, wofür sie diese Machtfülle braucht.

2. Ein neues Programm für den Wiederaufbau Italiens?

Der Handlungsbedarf, den die verschiedenen Fraktionen des Rechtsbündnisses anmelden, ist zwar im einzelnen noch keine beschlossene Sache, läßt jedoch erkennen, wie ernst die Diagnose genommen wird, daß der assistenzialismo Italien ruiniert hat. Festgemacht wird diese Diagnose vor allem und ebenso grundsätzlich wie umfassend an den sozialstaatlichen Einrichtungen, mit denen Italien ohnehin nicht reichlich ausgestattet ist:

  • Da sind maßgebliche Leute der Auffassung, daß die cassa integrazione, die einzige von Staats wegen vorgesehene Anlaufstelle für außer Lohn gesetzte Arbeiter, insgesamt ziemlich verzichtbar ist. Begründet wird das mit dem Argument: „Sehr wenige Arbeiter wurden durch sie wieder ins produktive System integriert.“ Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist zwar nicht der Zweck einer staatlichen Arbeitslosenverwaltung, aber hier der Maßstab, an dem sie gemessen und für überflüssig befunden wird: „Es ist nötig, die Institution der cassa integrazione auf ihre ursprüngliche Bedeutung einer vorübergehenden staatlichen Intervention zurückzuführen und stattdessen eine echte und wirkliche Hilfe gegen die Arbeitslosigkeit zu schaffen… Wir brauchen steuerliche Anreize für Unternehmen, die neue Arbeitsplätze schaffen.“[3] Die echte Hilfe für die beträchtlichen Anteile der arbeitenden Bevölkerung, die in Italien nicht nur vorübergehend auf der Straße stehen, soll also darin bestehen, daß nicht die Arbeitslosen vom Staat Geld bekommen, sondern die Unternehmen. Ein Standpunkt, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen läßt: Leute zu unterstützen, die der Kapitalismus für überflüssig erklärt hat, ist eine Vergeudung von Staatsgeldern; nützlich angelegt sind die dort, wo mit ihnen lohnende Geschäfte gefördert werden.
  • Andere maßgebliche Figuren denken nach derselben Logik über Möglichkeiten einer tendenziellen „Privatisierung“ des Rentenwesens nach und meinen damit, daß sich der Staat in Zukunft weniger mit seinen Alten belasten soll, sondern die beizeiten – so sie es sich leisten können – eine Lebensversicherung abschließen sollen, wenn sie nicht dem Pauperismus anheimfallen wollen; daß auf die Weise auch noch die Konjunktur der Versicherungsbranche gefördert wird, gehört durchaus in den Umkreis der Überlegungen, die angestellt werden. Und wenn ein Reporter, der vom Geist der assistenzialismo-Kritik offenbar noch nicht erfaßt ist, nachfragt: „Was werden die Millionen Rentner machen, die heute von dem leben, was ihnen von diesem Institut zugewiesen wird?“, bekommt er die Antwort: „Pech für sie, sie haben ja auch Jahre lang DC und PCI wählen müssen.“[4] Es trifft also nicht die Falschen, sondern die, die schon durch ihren Pensionsanspruch beweisen, daß sie der verkommenen ersten Republik zuzurechnen sind.
  • Diskutiert wird auch über „Privatisierungen“ im Bildungswesen, im Gesundheitswesen etc.

Auffällig ist an all diesen Vorstößen zuerst einmal ein stimmungsmäßiger Unterschied gegenüber dem Sanierungsprogramm der vorhergehenden Regierung. Die hat ihrem Volk ihre auch nicht gerade von Skrupeln gezeichneten Verarmungsmaßnahmen aus dem Sachzwang einer ökonomischen Notlage des Staats heraus erklärt. Der Sachzwang, seine Haushaltsprobleme regeln zu müssen – so sollten es wenigstens die Betroffenen verstehen –, nötige dem Staat Maßnahmen auf, die für ihn einen Verzicht darstellen: Er müsse sparen, kürzen und seine Aufgaben unter ein strenges Regime stellen. Dieser Tonfall des Verzichts ist der neuen Mannschaft gänzlich fremd, wenn sie ganze Institutionen des Staats mit dem Argument zur Disposition stellt, endlich den Staat von unnötigen Ausgaben („spese inutili“) befreien zu können.

Dieser Tonfall des staatlichen Verzichts hat zwar noch nie der Wahrheit entsprochen. Auch das Sanierungsprogramm der alten Regierung ist nicht einfach zusammengefallen mit der Exekution eines Sachzwangs. Er hat jedoch gepaßt zu der Art, wie diese Regierung wirklich gerechnet hat. Die ökonomische Lage, von der sie ausgegangen ist, hat sich in dem Befund zusammengefaßt, daß die Kreditwürdigkeit des Staats auf dem Spiel steht und damit das Mittel seinen Dienst versagt, durch das diese Nation über Jahrzehnte hinweg ihre Politik erfolgreich finanziert hat. Aus der Freiheit, sich durch Verschuldung die für die Bewältigung seiner Staatsaufgaben nötigen Finanzmittel zu beschaffen, ist für Italien die Notwendigkeit geworden, Kredit zu bekommen, um seine Gäubiger bedienen zu können.[5] Das Sanierungsprogramm zielte auf die Wiederherstellung der staatlichen Kreditwürdigkeit, und zwar durch Maßnahmen, mit denen der italienische Staat seine Bereitschaft unter Beweis zu stellen hatte, daß er den Ansprüchen seiner Gläubiger erste Priorität einräumt vor seinen selbstgesetzten politischen Aufgaben; darauf laufen auch alle Auflagen hinaus, die Italien von den zur Regelung nationaler Kreditklemmen zuständigen internationalen Behörden (IWF, EU) gemacht worden sind und weiterhin gemacht werden. – Berechnet war das Sanierungsprogramm also darauf, die Staatsverschuldung wieder zum Instrument des Staats zu machen. Aus diesem guten Grund hat ihre Regierung den Sachzwang anerkannt, der im ökonomischen Verhältnis zwischen Schuldner- und Gläubigernationen liegt, und eine Haushaltspolitik betrieben, mit der sich der Staat bei der Erledigung seiner Aufgaben Beschränkungen auferlegt hat.

Die neue Mannschaft denkt beim Zusammenstreichen bisheriger Staatsaufgaben offensichtlich an eine Entfesselung des Staats; und das läßt sie mit einem ganz anderen Rigorismus an die Sache herangehen. Wie sie dabei rechnet, mag bei den Institutionen des Sozialstaats vielleicht noch daraus zu erklären sein, daß die Gründe, die Staaten dafür haben, die für ihre Wirtschaft unbrauchbaren Bestandteile der Bevölkerung zu betreuen, irgendwie immer eine äußerst relative Angelegenheit sind, das, was sie sozialpolitisch für nötig halten, daher ziemlich dehnbar ist und im Zweifelsfall zuviel kostet. Die neue Führungstruppe wendet jedoch ihre Kritik des assistenzialismo ähnlich unbefangen und radikal auf die gesamte Staatsindustrie an, in der sie so wenig Nutzen für den Staat entdecken kann, daß auch sie mit dem Verdacht belegt wird, ein Institut zu sein, in dem bis zum letzten Arbeiter gar nichts anderes passiert ist, als daß sich die Seilschaften der Parteien auf Kosten des Staats gesund gestoßen haben. Daß der italienische Staat in der Vergangenheit die Rentabilität und damit die Existenz erheblicher Anteile des nationalen Kapitals durch staatliche Zuschüsse und Kredite garantiert hat, sieht sie allem Anschein nach so, daß der Staat in der Vergangenheit unrentable, nach dem Maßstab des kapitalistischen Geschäfts gar nicht existenzwürdige, also auch für den Staat nicht erhaltenswerte Aktivitäten unterstützt hat.

Das wirft die Frage auf, was sich eine Regierung eigentlich vornimmt, die so tut, als hätte sie nicht einen Staat, sondern den Auftrag zur Sanierung eines Unternehmens übernommen, die keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit läßt, den Staat nach ungefähr den Rationalisierungskriterien umzukrempeln, mit denen Kapitalisten ihren Laden organisieren, die mit diesem Programm die Schaffung von „einer Million neuer Arbeitsplätze und vielleicht sogar noch mehr“[6] verspricht, die also beabsichtigt, einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen, und die damit auch noch die Vorstellung verbindet, daß dieser Aufschwung den italienischen Staat seiner Sorge um seine Kreditwürdigkeit enthebt: „Der Markt wird unser Sanierungsprogramm sein, und wenn die Wirtschaft ihren Aufschwung nimmt, wird sich das Loch im Haushalt, das uns Ciampi hinterläßt, von selbst füllen.“[7]

Die offensichtlich maßgebliche Vorstellung, einen blühenden Kapitalismus dadurch herbeizuschaffen, daß in Italien nur noch das seine Existenzberechtigung behält, was sich geschäftsmäßig rechnet, und mit dieser geschäftsmäßigen Betrachtung gleich beim Staat und seinen bisherigen Aktivitäten anzusetzen, begründet ein ziemlich fragwürdiges Wirtschaftsförderungsprogramm.

  • Wenn die neue Regierung im Geist ihrer assistenzialismo-Kritik erstens die bisherige Sozial- und Wirtschaftspolitik dem Maßstab des lohnenden Geschäfts unterwirft und sich daran macht, im großen Unternehmen Staat lauter unrentable, also nach kapitalistischen Kriterien „unnötige Ausgaben“ aufzuspüren und zu beseitigen, dann läßt sie den Gesichtspunkt nicht mehr gelten, daß diese Ausgaben als notwendige faux frais der kapitalistischen Wirtschaft verausgabt worden sind; notwendig, weil der Staat mit seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik Voraussetzungen seiner Geschäftswelt schafft und erhält, die diese benutzt, aber nicht selbst hervorbringt und instandhält. Diesen staatlichen Dienst am Geschäft, der selbst kein Geschäft ist und deswegen nicht von Kapitalisten, sondern vom Staat erledigt wird, stellt die neue Regierung mit ihrem dem freien Unternehmertum abgeschauten Maßstab in Frage. Daß sie mit ihren ins Auge gefaßten Rationalisierungsbemühungen keine staatliche Wirtschaftsförderung betreibt, sondern dafür sorgt, daß sich der Staat der Kosten seiner bisherigen Wirtschaftsförderung entledigt, und daß sie mit diesem Kostengesichtspunkt in Italien einiges von dem ruiniert, was der Staat bislang zu seinen ökonomischen Grundlagen gezählt hat, ist zwar so, wird aber von der neuen Mannschaft gar nicht so gesehen.[8]
  • Sie ist nämlich zweitens der Auffassung, daß sich Kapitalisten viel effektiver um das kümmern, was in einem Staat notwendig ist. Die Privatisierungsvorhaben, die sie in den Abteilung Soziales und Staatsindustrie in großem Umfang in Angriff nehmen will, gehen offenbar von der Vorstellung aus, daß sich aus den staatlichen Aufgaben von gestern Geschäfte von morgen machen lassen. Und das ist fürs erste nicht mehr als der Ersatz bisheriger Staatsaufgaben durch einen Imperativ an die Geschäftswelt. Daß mehr daraus wird, ist eher zweifelhaft, denn die sozial- und wirtschaftspolitischen Institute, die der Staat dem freien Unternehmertum überantworten will, weil sie kein Geschäft sind, sind aus demselben Grund auch kein großartiges Angebot an die Geschäftswelt.[9]
  • Drittens soll der Aufschwung dadurch herbeigeführt werden, daß lohnenden Geschäften von Staats wegen alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden; durch eine Gleichschaltung der Gewerkschaften und vor allem – und das ist das ökonomische Vorzeigeprojekt der Regierung – durch eine umfassende Befreiung des Geschäftslebens von Steuern auf Gewinne, Investitionen, Geldanlagen in Lira, Spekulationsgewinne an der Börse etc. Auch diese Maßnahme enthält einen beachtlichen Widerspruch. Denn erstens müssen sich die lohnenden Geschäfte erst einmal auftun und stattfinden, damit der Staat ihre Resultate dann von Steuern befreien kann; alles, was in der Hinsicht von den Wirtschaftssachverständigen der Regierung an „unmißverständlichen Signalen“ für ein sich abzeichnendes Licht am Ende des Tunnels angeführt wird, ist ziemlich absichtsvoll getürkt.[10] Und zweitens begibt sich der Staat damit in Erwartung eines künftigen Aufschwungs vorab einer Finanzquelle, auf die er in seiner Haushaltlage eigentlich nicht verzichten kann.

So fassen sich alle Maßnahmen, die die neue Führungsmannschaft zur Herbeiführung eines florierenden Kapitalismus ins Auge faßt, letztlich in einer fadenscheinigen Spekulation auf einen kommenden Aufschwung zusammen. Und das steht in auffälligem Kontrast zu der unzweifelhaft feststehenden Absicht, Italien wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Von Halbherzigkeit ist die Weise, wie diese begeisterten Anhänger eines Unternehmerstaats den Umbau ihres Staatswesens angehen, schließlich überhaupt nicht gezeichnet. Und auch wenn ihr Programm nicht sonderlich realitätstüchtig ist, Zweifel an dem, was sie mit ihm bezwecken, lassen sie keine aufkommen. Es ist schon so gemeint, daß sie Italien wieder zu einer ökonomischen Macht machen wollen, die nicht mehr an der Bürde ihrer Staatsschulden leidet. Sie kritisieren deswegen auch die vorherige Regierung Ciampi, die diese Bürde nicht beseitigt, sondern sich ihr so ausdrücklich gestellt hat, daß sie all ihre Vorhaben unter dem Gesichtspunkt der Haushaltssanierung beschlossen hat – von dem das Rechtsbündnis so wenig Aufhebens macht. Wie diese Kritik zu verstehen ist, hat sich deswegen der IWF auch schon gefragt, der die neue Regierung aufgefordert hat, von dem projektierten Steuerbefreiungsprogramm für Unternehmer Abstand zu nehmen, sie nachdrücklich davor gewarnt hat, durch ein Abrücken von den Sanierungsanstrengungen ihrer Vorgängerin das Vertrauen in die Lira zu gefährden, und so bei ihr angemahnt hat, die Bürde ihrer Kreditverpflichtungen ernstzunehmen. An die Kündigung dieser Verpflichtungen und damit ihrer bisherigen Staatsräson braucht die neue Mannschaft dabei gar nicht zu denken, schließlich glaubt sie an den Erfolg ihres Programms. Aber vorgenommen hat sie sich mehr, als dieses Programm halten kann.

3. Ein anderer Staat?

Zuweilen macht die ganze Regierungsbildung den Eindruck, daß es in ihr längst um viel prinzipiellere, die bisherige Staatsräson zur Debatte stellende Fragen geht. Da werden die Verhandlungen um die Regierungsposten und das Regierungsprogramm thematisch durch den Einfall der Lega Nord erweitert, man könne sich Italien auch ganz anders vorstellen, nämlich in drei Regionen gegliedert (Nord, Mitte, Süd), die sich in einer Unione italiana zusammentun. Der Einfall ist immerhin soweit gediehen, daß ein fertig ausgearbeiteter Verfassungsentwurf für so eine Union vorgelegt wird, der sich an zentraler Stelle detailliert mit der Frage beschäftigt, wem die Steuereinnahmen des Staats gehören. Der Artikel, der diese Frage regeln soll, sieht vor, daß die Steuern im Prinzip den Regionen zustehen; zur Finanzierung der übergeordneten Staatszwecke (Außenpolitik, Militär, Umverteilung zwischen den Regionen etc.) sollen die Regionen einen durch eine Quote begrenzten Anteil ihrer Steuereinnahmen an die Union abführen. Dieses „föderalistische“ Konzept eines vom Regionalinteresse des reichen Nordens Italiens her konstruierten Staats – die Regionen, die mehr besteuerbaren Reichtum beheimaten, nehmen auch mehr Steuern ein – bringt das Regierungsbündnis an den Rand eines Zerwürfnisses.

Denn so ein Staat entspricht nicht den Vorstellungen der post-, neo- oder bloß faschistischen Alleanza nazionale.[11] Die denkt mehr an ein „Präsidialsystem“ für Italien und läßt ihren Anführer vor laufenden Kameras mehrmals beiläufig sagen, daß seiner Auffassung nach Mussolini „der größte Staatsmann des Jahrhunderts“ sei. Diese Partei hat also ein historisches Vorbild für einen Staatspräsidenten nach ihrem Geschmack, einen, der die Staatsmacht nicht nur repräsentiert, sondern ausübt. Und daß sie den Antrag stellt, die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk in der Verfassung vorzusehen und eine entsprechende Verfassungsänderung ins Regierungsprogramm aufzunehmen, läßt durchaus erkennen, daß dieses Vorbild nicht bloß eine Reminiszenz an die Historie ist. Denn das Bedürfnis, die Legitimation der obersten Staatsorgane neu regeln zu wollen, kommt auch nur deswegen auf, weil dieser Verein die Staatsführung bei den legitimierten Instanzen aktuell schlecht aufgehoben sieht: Der Antrag zielt schon ein wenig auf die Rechte des Parlaments und der in ihm vertretenen Parteiinteressen – z.B. auf das einer Regionalmannschaft, das im Staat mehr Geltung beansprucht! –, denen die Staatsführung in ihrer Entscheidungsfindung zuviel Rücksicht entgegenbringen muß. Was für einen Laden dieser Staatspräsident zusammenhalten soll, das macht sich dieser Verein in den Regierungsverhandlungen gerade selber klar. In der Weise nämlich, daß ihm die anderen Bündnisparteien laufend Gelegenheit bieten, seinen Standpunkt zu konkretisieren. Wo die ihre Vorstellungen, wie der Staat umzukrempeln sei, anmelden, bringt die Alleanza nazionale die materiellen Grundlagen des Staats in Erinnerung, die beim Umkrempeln nicht gefährdet werden dürfen: die Wirtschaftskraft, die der Staat in Gestalt von Rüstungs-, Energie- und sonstwie staatsnotwendigen Betrieben auf seinem Territorium beheimatet, eine dienstbare Arbeiterschaft, das Territorium selbst, zu dem auf alle Fälle auch die südlichen Landesteile gehören, die andere Kräfte in der Regierung am liebsten abschreiben würden, und von dem noch gar nicht feststeht, ob es an den bestehenden Staatsgrenzen aufhört.[12] Das alles hat auch seine Logik. In der Vorstellung von einem Staat nämlich, der seine materiellen Potenzen unter seiner Hoheit versammelt und sich nicht darauf verläßt – und sich schon gar nicht davon abhängig macht –, daß der Weltmarkt im allgemeinen und seine europäischen Beziehungen im besonderen ihm genügend abstrakten Reichtum einspielen.

Daß solche Vorstellungen in den Regierungskreisen zirkulieren, bedeutet nicht weniger, als daß das staatliche Subjekt, dem das Regierungsbündnis einen Aufschwung verschaffen will, unter den verbündeten Parteien gar nicht mehr feststeht. So von Grund auf ist diese Nation durch den Verlust ihres bisherigen Erfolgswegs erschüttert. Ins Werk gesetzt wird diese Erschütterung derzeit von maßgeblichen, in den um eine Regierungsbildung ringenden Parteien verkörperten Interessen, deren Erfolg diese Nation bislang befördert hat und die sich von ihr jetzt nicht mehr bedient sehen: den Interessen der nationalen Geschäftswelt, denen des norditalienischen Kapitalstandorts und denen des Staats selbst. Die Versuche, die von eben diesen Interessen aus unternommen werden, eine erfolgversprechende neue Staatsräson zu finden, sind durchaus brisant. Nach innen, weil es einem Umsturz gleichkäme, eines dieser gar nicht deckungsgleichen Parteiinteressen als gültigen Staatsstandpunkt durchzusetzen.[13] Und nach außen, weil die Durchsetzung einer neuen Staatsräson, gar nicht bloß eine inneritalienische Angelegenheit wäre, sondern schon lange, bevor es soweit kommt, eine internationale Affäre ist. Und zwar allein schon dadurch, daß in Italien solche Fragen überhaupt zur Debatte stehen.

  • Daß dieser Laden für seine auswärtigen Partner unberechenbar geworden ist, ist das Mindeste, was amerikanische Journalisten mitteilen wollen, wenn sie unter Berufung auf ihre Regierungskreise Zweifel anmelden, ob sich dieses dubiose Führungstriumvirat, dessen Exponenten man bis gestern noch gar nicht gekannt hat, überhaupt auf eine Regierung einigen kann. Und diese Unberechenbarkeit reicht eigentlich völlig für das Urteil: untragbar. Denn was soll sich z.B. die NATO dabei denken, wenn auf ihrem Flugzeugträger, der gerade in Kampfhandlungen gegen bosnische Serben eingesetzt wird, die politischen Verhältnisse so durcheinandergeraten?
  • Wenn das Euro-Parlament in einer Resolution faschistische Minister in einer italienischen Regierung zum Skandal erklärt und die Regierung auffordert, die „fundamentalen Werte“ zu respektieren, „die nach den Schrecken des Faschismus und des Nazismus zur Gründung der europäischen Gemeinschaft geführt haben“, dann geht das einen Schritt weiter. Da wird nämlich die Frage aufgeworfen, ob sich die angesprochene Regierung weiterhin der europäischen Staatsräson Italiens verpflichtet weiß. Die Euro-Parlamentarier werden schon wissen, warum sie diese Frage im Namen gemeinsamer Werte stellen. Denn mit der gemeinten Sache, die ihren Staaten nützlichen und Italien zunehmend zur Last fallenden Abhängigkeiten, die der Kredit und die eingerichteten politischen Verhältnisse stiften, würden sie den Gegensatz offen zur Sprache bringen, den sie nicht auf die Tagesordnung setzen wollen. An Deutlichkeit läßt ihre Resolution dennoch nichts vermissen, wenn sie auf die faschistische Fraktion des Regierungsbündnisses deuten und damit auf die, die sich am explizitesten zu einer uneuropäischen Haltung vorgearbeitet hat.
  • Wenn dann in Italien einerseits die Sorge aufkommt und Schlagzeilen macht, Italien könne sich mit dem Benehmen seiner Repräsentanten in Europa „isolieren“[14], und andererseits dieselbe Sorge, von Europa aus in Form der beschlossenen Resolution formuliert, durch den italienischen Staatspräsidenten entschieden zurückgewiesen wird („Wir brauchen keine Lehrmeister.“), dann zeigt das, daß Italiens Führer derzeit ganz und gar nicht entschlossen sind, sich zu einem polemischen Verhalten gegen Europa zu bekennen, aber auch nicht bereit, die in ihrem Verhalten begründeten Vorwürfe aus Europa zu entkräften.
  • Wenn das Euro-Parlament schließlich gegen die Zurückweisung seiner Resolution – mit der sich Italien immerhin höchstoffiziell hinter seine faschistischen Minister stellt – nicht entschieden Widerspruch einlegt, sondern einen Übersetzer vorschickt, der erklären muß, daß der Inhalt der Resolution zwar einerseits schon so gemeint war, wie er in Italien verstanden worden ist, die Stelle mit den faschistischen Ministern jedoch andererseits gar nicht ins Protokoll sollte, sondern zuvor gestrichen worden ist und nur aufgrund einer persönlichen Fehlleistung, für die er sich entschuldigen muß, wieder in die Resolution gerutscht ist – dann kennzeichnet das eine Zwischenlage, in der alle Seiten höchst brisante Fragen aufwerfen, vor ihrer Entscheidung zurückschrecken und wechselseitig ihren politischen Willen austesten und abtasten, indem sie sich die Frage vorlegen, wie das gemeint ist, was die andere Seite gerade unternimmt. Das verleiht allem, was die verschiedenen Akteure tun, einen symbolischen Charakter.

4. Eine geistige Umorientierung?

Und gerade weil Italien von allen Seiten daraufhin beäugt wird, was es vorhat, und die praktizierte Politik darauf noch gar keine eindeutige Antwort gibt, wird die politische Symbolik zu einer so ernsten Angelegenheit, daß Italien seinen Nationalfeiertag, der gerade in die Zeit der Regierungsbildung gefallen ist, in der Erwartung größerer Schlägereien begangen hat. Ausgerechnet über ein historisches Ereignis, den Sieg der Resistenza über den Faschismus, der an diesem Tag traditionell gefeiert wird, waren nämlich die Gemüter zuvor so heftig aneinandergeraten, daß von verschiedenen Seiten das Volk justament an jenem 25. April zur Verteidigung der Republik auf die piazza gerufen worden ist.

Für die Aufregung hatte eine nationale Debatte gesorgt, in der Zweifel erhoben wurden, ob das symbolträchtige Datum überhaupt oder in der Weise, wie es die Nation bislang verstanden hat, verehrungswürdig ist. Da wurde die Ehre italienischer Partisanen nachträglich in Frage gestellt, die vor 49 Jahren italienische Faschisten fusiliert haben; die Forderung aufgestellt, auch den damals umgekommenen Faschisten posthum die Hochachtung zukommen zu lassen, als italienische Patrioten ins Gras gebissen haben; und beantragt, den Kampf der Resistenza gegen den Faschismus – als würde er heute noch geführt – endlich friedlich zu beschließen. Dieses seltsam abseitig anmutende Bedürfnis, ein historisches Ereignis zu würdigen und umzuwerten, kommt nur deswegen auf und wird nur deswegen Gegenstand heißer Diskussionen, weil alle kleinen und großen Geister, die es in sich verspüren, darin geübt sind, die Historie als Material zu handhaben, in dem sie ihre Nation verehren. Und zwar die gegenwärtige Nation, deren aktuelles Selbstverständnis sie mit ihren Auseinandersetzungen darüber, was sie in der Vergangenheit verehrens- und feiernswert finden, definieren und zurechtrücken. Diese umständliche Prozedur kommt niemandem verdächtig vor, obwohl es eigentlich nicht sonderlich für die Nation spricht, wenn diejenigen, die sie hochleben lassen wollen, die Gründe dafür nicht in der wirklichen, von ihr betriebenen Politik finden, sondern sie getrennt davon in längst vergangenen Zeiten suchen müssen.

Die rechte Führungsriege bringt auch auf diesem Feld der ideellen Selbstbespiegelung der Nation einiges durcheinander. Und zwar einfach dadurch, daß sie an die Macht gekommen ist und damit jedem irgendwie klar geworden ist, daß zu den neuen Repräsentanten der Nation das bisherige Selbstverständnis Italiens als einer antifaschistischen Nation nicht mehr paßt; wer es nicht selbst merkt, dem wird es von maßgeblichen Politikern z.B. mit historischen Verweisen auf die staatsmännische Größe Mussolinis und eben durch die angeleierte Debatte über die Resistenza klargemacht. Außer Kraft gesetzt wird mit den stattfindenden Versuchen, den Antifaschismus zu beerdigen, ein gemeinsamer Nenner – der arco costituzionale – zwischen der katholischen Partei, den laizistischen Parteien und den Kommunisten, der zwar nie der Leitfaden der wirklichen Politik war – die Politik des DC-Staats war vom Ausschluß der kommunistischen Politik von der Macht bestimmt –, der aber der gültige ideelle Gesichtspunkt war, unter dem sich all diese Parteien und ihre Wähler ihr prinzipielles Einverständnis mit der Nation begründen konnten und unter dem ihnen am Nationalfeiertag Gelegenheit geboten wurde, sich zu ihrem Staat zu bekennen.

Daß das nicht mehr klappt, weil die neue Staatsführung die Gültigkeit der antifaschistischen Nationalideologie in Zweifel gezogen hat; und daß ein neuer Gesichtspunkt, der die geistige Einheit von Volk und Staat wieder stiftet, in Italien nicht in Kraft ist, weil die Staatsführung sich noch gar nicht zu einer eindeutigen politischen Linie bekannt hat, davon zeugt dann ein so merkwürdiger Nationalfeiertag,

  • an dem die Opposition auf der offiziellen Massenveranstaltung 300000 Menschen unter dem symbolischen Motto des Antifaschismus versammelt, das nicht mehr das der wirklichen Nation ist;
  • an dem die Führer der Nation bei den offiziellen Staatsfeierlichkeiten unerwünscht sind (Bossi); oder sie meiden und den Tag vor dem Fernseher verbringen (Berlusconi); oder an anderem Ort ihren eigenen Nationalfeiertag unter einem anderen Motto abhalten (Fini);
  • und an dem der Staatspräsident die Botschaft des Tages: „Erneut hat sich die Einheit von diesem unserem Volk bewiesen“ aus dem von allen Seiten mit Erleichterung zur Kenntnis genommenen Umstand entnehmen muß, daß das symbolträchtige Datum „ohne Zwischenfälle“ über die Bühne gebracht werden konnte.

Wenn von oben so eine Uneindeutigkeit in die Sphäre der politischen Symbolik gebracht wird, tut das seine eigene Wirkung: Italienische Nationalisten wissen derzeit nicht mehr so recht, wie sie zu ihrer Nation halten sollen. Und das bringt sie nicht von ihrem Nationalismus ab, sondern läßt den in alle möglichen Richtungen auseinanderdriften. Davon zeugt ein Wahlergebnis schließlich auch, das so viele gar nicht vereinbare Parteistandpunkte mit Stimmanteilen zwischen 5 und 20% ins Recht setzt.

5. Ein Koalitionsstreit?

All das – ein Postenschacher, unterschiedliche Vorstellungen über das künftige Regierungsprogramm, die Staatsräson betreffende Prinzipienfragen, eine Auseinandersetzung über die Nationalideologie – geht seit Wochen in einem Koalitionsstreit durcheinander, in dem sich an einem Tag die Drohung mit einem norditalienischen Alleingang in die Frage aufzulösen scheint, wer Innenminister wird, und am nächsten Tag am Streit um diesen Posten klar wird, daß es in ihm nicht um eine Personalfrage geht, sondern darum, welche Partei die Polizei unter ihre Kontrolle bringt. Dieser Koalitionsstreit ist deswegen immer wieder hart an die Grenzen des demokratischen Prozedere gegangen, das nicht dafür gemacht ist, Differenzen innerhalb der Staatsführung über den Kurs einer Nation zu schlichten: Berlusconis Vorstoß, den Konflikt mit seinen Verbündeten dadurch zu entscheiden, daß er sich unabhängig von deren Zustimmung und ohne weitere Verhandlungen mit ihnen vom Staatspräsidenten zum künftigen Regierungschef ernennen läßt, hat nur deswegen nicht den Eindruck eines Staatsstreichs hinterlassen, weil seine Verbündeten auf diesen Vorstoß hin eingelenkt haben. Und zwar ebenfalls auf eine Weise, die nicht so ganz ins demokratische Schema paßt: Ihr Einfall, Berlusconi die Staatsführung nur unter der Bedingung zu überlassen, daß der sich von einem dazu extra geschaffenen Gremium kontrollieren läßt, zielt darauf, die Führungsfigur auf eine Trennung von Privat- und Staatsinteressen zu verpflichten, und institutionalisiert damit den Zweifel in die Integrität des obersten zur Ausübung der Staatsmacht berufenen Organs.

Wenn dann nach sechs Wochen trotz allem eine Regierungsbildung über die Bühne geht, nach demokratischem Brauch eine Kabinettsliste vorgelegt wird und die Minister vereidigt werden, dann ist das ein ziemlich außergewöhnliches Ereignis. Daß Parteien, die in den substantiellsten Fragen der Staatsführung abweichende Positionen vertreten, sich auf eine gemeinsame Regierung einigen, ist nämlich ein Widerspruch, der nur deswegen nicht den Rahmen der Demokratie sprengt, weil diese Parteien noch dabei sind, ihre Standpunkte zu definieren – und zwar sowohl gegeneinander als auch gegen die Ansprüche, die vom Ausland her an Italien gerichtet werden. Mit ihrer Regierung haben sie sich auf ein praktisches Experiment eingelassen, in dem sie sich Klarheit darüber verschaffen, wie weit sie sich über den Gebrauch der Staatsmacht verständigen können. Material dieses Experiments sind sämtliche Sachfragen der Politik, die eine Regierung zu entscheiden hat.

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Und die Linke? Die ist vollauf mit sich beschäftigt. So sehr, daß ziemlich Funkstille herrscht was Einwände gegen die politischen Machenschaften der Rechten betrifft. Für sie ist ihre Wahlniederlage kein Pech, sondern der Beweis, selbst Fehler gemacht zu haben. Daß die eventuell auf Seiten der Wähler liegen könnten, wenn die sich für einen norditalienischen Rassisten, einen Faschisten und einen Kapitalisten entscheiden, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Und zwar deswegen, weil sich ihr ganzes Selbstbewußtsein – von dem ihr politisches Programm zwar immer weniger spüren läßt, mit dem sie jedoch nach wie vor auf Stimmenfang geht – darin zusammenfaßt, Ausdruck der Interessen der Bevölkerung zu sein. Entsprechend geknickt ist dieses Selbstbewußtsein, nachdem das wählende Volk klargestellt hat, wie wenig es sich von dieser Linken angesprochen fühlt. Das Wichtigste sind für sie in der Situation „gründliche Analysen der Wahlniederlage“, in denen der Frage nachgegangen wird, wieso die Selbstdarstellungskünste nicht den erwünschten Eindruck gemacht haben. Damit ist sie dann bestens vorbereitet für einen zersetzenden Streit darüber, wer innerhalb des Linksbündnisses den Eindruck versaut hat (heißer Tip: die Linken unter den Linken). Und in der Erkundung neuer Bündnismöglichkeiten – z.B. biedert sie sich an die Lega Nord an, um doch noch einen Zipfel der Macht zu erwischen, die ihr die Wähler versagt haben – vollzieht diese Linke innerhalb ihrer Reihen den Rechtsruck nach, der außerhalb von ihr durch die offizielle Politik gegangen ist.

[1] „90% der italienischen Journalisten sind unter der Fahne des kommunistischen oder parakommunistischen Blocks tätig.“ Berlusconi in La Repubblica vom 29.4.94

[2] Berlusconi im Corriere vom 11.4.94

[3] Scognamiglio, ökonomischer Kopf der Forza Italia, in La Voce vom 7.4.94

[4] Pagliarini, ökonomischer Kopf der Lega Nord, in La Repubblica vom 2.4.94

[5] 1992 hat Italien erstmals – Tendenz steigend – mehr Zinsen für aufgenommene Kredite bezahlen müssen, als es sich mit seiner Neuverschuldung Finanzmittel an Land gezogen hat.

[6] Berlusconi in La Repubblica vom 8.4.94

[7] Corriere vom 21.4.94

[8] Zumindest nicht so grundsätzlich. Daß eine Rüstungsindustrie – ob sie sich rentiert oder nicht – einfach sein muß, leuchtet in der rechten Mannschaft natürlich allen ein. Und die Neofaschisten in der Regierung äußern zuweilen auch das Bedenken, der Staat könnte durch ein allzu großzügig angelegtes Volksverarmungsprogramm oder durch einen Total-Ausverkauf seiner Staatsindustrie – womöglich noch an Ausländer! – seine Grundlagen aufs Spiel setzen. Mit solchen Bedenken werden in den Auseinandersetzungen um die Regierungslinie Ausnahmen von einem Prinzip gefordert, dessen Durchsetzung sich die rechte Mannschaft vorgenommen hat.

[9] Wo diese Überantwortung dennoch stattfindet, wie absehbarerweise beim Rentenwesen, wird das, was der Staat bislang erledigt hat, unter der Regie freier Versicherungsunternehmer eben nur in dem Umfang und nur zu den Bedingungen fortgeführt, wie sich daraus ein Geschäft machen läßt. Und zuweilen erweist sich schon diese Überantwortung als unüberwindliches Hindernis. Der bereits seit zwei Jahren laufende Versuch, sämtliche Staatsunternehmen zu privatisieren, hat im wesentlichen zum Verkauf zweier Staatsbanken geführt, die auch in Italien Krisengewinnler sind, während sich die in der Krise befindliche Staatsindustrie als ziemlich unverkäuflich erwiesen hat.

[10] Schenkt man den Schlagzeilen der Zeitungen Glauben, erlebt Italien gerade einen „Exportboom“, der sich in einer positiven Handelsbilanz niederschlägt. Im Kleingedruckten vermelden dieselben Zeitungen dann allerdings, daß sich der enorme Handelsbilanzüberschuß weniger einem „Exportboom“ verdankt, als krisenmäßig zurückgehenden Produktionsziffern, die die Inlandsnachfrage und damit auch die Importe zurückgehen lassen. Außerdem wird ein „Börsenboom“ gemeldet, bekanntlich ein enorm seriöser Indikator dafür, daß das produktive Kapital wieder Profite macht. Vom „Lottoboom“, der die Steuereinnahmen des Staats in die Höhe treibt, ganz zu schweigen.

[11] Fini: „Wir sind nicht bereit zu akzeptieren, daß dem Staat zuviele Kompetenzen entzogen werden. Zum Beispiel muß die öffentliche Bildung Vorrecht des Staats bleiben und nicht der Regionen. Außerdem akzeptieren wir keinen fiskalischen Föderalismus, der zu der extremen Konsequenz getrieben wird, daß zum Beispiel der Lombardei gestattet wird, alle Steuern zu behalten, die die Lombarden bezahlen, ohne sich auch nur im Mindesten um die ärmeren Regionen wie Kalabrien kümmern zu müssen.“

[12] Von maßgeblichen Figuren aus der Alleanza nazionale wird die Istrienfrage neu aufgeworfen und eine Entschädigung für die 1948 aufgegebenen Besitzstände der emigrierten Italiener gefordert. Im Falle einer Nichterfüllung wird Slowenien und Kroatien mit der Infragestellung des Grenzverlaufs gedroht. Dem wird durch die Forderung, die EU möge die wohlwollende Behandlung der Aufnahmeanträge der betreffenden Staaten, von der Anerkennung der italienischen Ansprüche abhängig machen, Nachdruck verliehen. Und das Anliegen macht auch seine Fortschritte, wenn sich in Istrien prompt ein paar italienische Landsleute finden, die ihre Autonomieansprüche nun entschiedener vortragen, und die Neofaschisten in der italienischen Regierung daraufhin postwendend unter Berufung auf diese Idioten ihren Ansprüchen eine neue Dringlichkeit verleihen.

[13] Und daran zu denken, ist gar nicht so abwegig, wenn beispielsweise der Chef der Lega-Nord, Bossi, vor 30000 lombardische Fahnen schwingenden Anhängern eine Rede hält, bei der sich nicht mehr unterscheiden läßt, ob er mit ihr seine Mannschaft als Bewegung aufhetzen oder sein Stimmvieh auf den Gehorsam gegenüber der neuen Regierung einschwören will: „Die nächste Regierung wird entweder verfassunggebend sein oder die letzte Möglichkeit einer demokratischen Erneuerung für das Land. Wenn die Änderungen nicht in kurzer Zeit passieren, werden wir, so wie wir heute ja zu einer Regierung sagen, die sich zu Liberalismus und Föderalismus bekennt, nach sechs Monaten, nachdem wir die Regierung gestürzt haben, wieder hier sein, um zu sagen, daß es keine Möglichkeit einer Änderung mehr gibt. Und an diesem Punkt wird sich der Norden davonmachen.“(Rede in Pontida am 10.4.94) Eines steht fest: Mit so einer Rede werden Maßstäbe gesetzt. Und an denen werden diejenigen gemessen, die sie setzen. In der Bossi-Partei gibt es bereits die Kritik, Bossi habe durch Nachgiebigkeit gegenüber den anderen Regierungsparteien eine „historische Chance vertan“. So setzen die heutigen Anführer der Parteien diejenigen Figuren in die Welt, die sie morgen in der Radikalität ihrer Anliegen überholen.

[14] Wie etwa in der Istrienfrage, die schließlich nicht nur Slowenien und Kroatien berührt, sondern – die beiden Staaten sind schließlich gerade erst von Europa anerkannt worden – die maßgeblichen Staaten Europas betreffende Fragen der Verläßlichkeit der innereuropäischen Grenzen.