Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Krise der Bauwirtschaft im Osten
IG BAU im Rettungseinsatz für den Flächentarifvertrag

Die ostdeutsche Bauwirtschaft erfreut sich sowohl kräftiger Spekulationsgewinne als auch eines Überschusses an billigen Arbeitskräften, was sie zum Lohndumping ausnutzt. Die IG Bau ergreift Gegenmaßnahmen, die den Tariflohn nicht anheben, sondern noch weiter senken.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Krise der Bauwirtschaft im Osten
IG BAU im Rettungseinsatz für den Flächentarifvertrag

Die Konjunktur der Bauwirtschaft bricht immer weiter zusammen, vor allem im Osten. Betriebe schließen massenhaft; noch massenhafter werden Leute entlassen. Weil diese Entwicklung vor allem die Gegenden trifft, in denen bis neulich noch die Planungshoheit des sozialistischen Staates jede Privatinitiative gelähmt hat, wollen wir aber nicht daran herumnörgeln, daß sowas in der Marktwirtschaft immer wieder mal passiert, sondern uns des mittlerweile erzielten grundsätzlichen Fortschritts entsinnen, der drüben mit dem Systemwechsel Einzug gehalten hat: Es gibt keinen Mangel mehr. Es fehlt weder an kaputtgewohnten Häusern noch an Material zu ihrer Erneuerung oder für Neubauten; es gibt massenhaft Bedarf nach gescheiten Wohnungen und massenhaft Arbeitskräfte, die diesen Bedarf decken könnten. Vor allem aber mangelt es nicht länger an jener unübertroffenen marktwirtschaftlichen Vernunft, die Arbeitskräfte, Produktionsmittel und Bedürfnisse immer dann, aber auch nur dann zusammenkommen läßt, wenn genug Zahlungsfähigkeit da ist, um aus dem Wohnungsbau ein Geschäft für private Bauunternehmer zu machen. Wenn es daran fehlt, gibt es schließlich für Unternehmer mit Privatinitiative noch eine Menge Gelegenheiten, ihr Eigentum besser, gewinnbringender anzulegen.

In den Aktien wirklich großer Bauunternehmen zum Beispiel. Denn es ist noch nicht einmal so, daß es überhaupt zuwenig Zahlungsfähigkeit gäbe in der wiedervereinigten deutschen Gesellschaft. Im Gegenteil: Wo ein unternehmerischer Kopf sich aus- und seiner Hausbank vorgerechnet hat, daß die Vermietung von Neubauten im ehemaligen Vaterland der sozialistischen Mangelwirtschaft unweigerlich zu einem Überfluß an Einnahmen führen müßte – der gescheiterte Baulöwe Schneider steht damit nicht allein –, da wird im Vorgriff auf zukünftige Erträge jede benötigte Menge Zahlungskraft geschöpft und von den Unternehmen mit den preiswertesten Angeboten abgeschöpft. An solchen spekulativen Köpfen und mitspekulierenden Kreditinstituten herrscht in einer funktionierenden Marktwirtschaft – anders als in der Planwirtschaft – auch kein Mangel, so daß es mittlerweile einen Überfluß auch noch an neugebautem Büro- und Geschäftsraum gibt, den niemand zu den vorweg kalkulierten Quadratmeterpreisen kauft oder mietet. Vernünftigerweise legt das Bauspekulationsgewerbe daher erst einmal eine Pause ein, die Banken schreiben Kredit ab, und die weniger sattelfesten Baubetriebe gehen Pleite, weil sie weder alte Rechnungen bezahlt noch neue Aufträge kriegen. Das heißt aber wiederum nur, daß die Baubranche um Betriebe mit mangelhafter Kapitalausstattung bereinigt wird und auf gesunde Unternehmen gesundschrumpft. Das sind solche, die erfolgreich um diejenige zahlungsfähige Nachfrage nach Gebäuden konkurrieren, die es noch gibt – von Seiten potenter Firmen etwa, die sich eigene neue Repräsentationsbauten im Osten hinstellen; oder auch und vor allem von Seiten der Staatsmacht, die ihrerseits ja auch nichts mehr mit dem alten System der Mangelwirtschaft zu tun hat.

Weil es, wie gesagt, in der gesamtdeutschen Marktwirtschaft an Arbeitskräften ohne Beschäftigung und Einkommen am allerwenigsten fehlt, sind die gesunden Mitglieder der krisengeschüttelten Baubranche mit ihren Konkurrenzanstrengungen in einer komfortablen Position: Sie kriegen Leute für jeden Lohn und unterbieten einander mit immer niedrigeren Arbeitskosten. Tarifvertraglich festgelegte Löhne sind da schon längst keine Schranke mehr, weil erstens kaum eine Firma darin mehr als eine unverbindliche Preisempfehlung sieht und zweitens das ganze marktwirtschaftlich aufblühende Europa, innerhalb wie außerhalb des EU-Raums, von Arbeitslosen wimmelt., die man am Bau allemal ausnutzen kann. Um der Konkurrenz der Arbeitgeber um die branchenweit schlechteste Entlohnung wenigsten ein festes Datum vorzugeben, haben sich Unternehmerverband und Baugewerkschaft bereits vor gut einem Jahr für ein Jahr auf ein Mindestentgelt für Arbeitskräfte aus der EU – sog. EU-Löhner – von DM 15,64 in den neuen und 17 Mark in den alten Bundesländern geeinigt; Baufirmen von außerhalb der EU wären im Prinzip an den Flächentarifvertrag der Branche gebunden. Den Gewinnen der Firmen, die ihrem Auftraggeber seither für auswärtige Kräfte die vereinbarten Mindestlöhne in Rechnung stellen müssen, hat das auch durchaus gutgetan: Unter den verschiedensten Gesichtspunkten läßt sich die pro Mann in Rechnung gestellte Lohnsumme schmälern, bevor sie in den Taschen eines portugiesischen oder britischen EU-Löhners landet. Andererseits ist, nicht zuletzt deswegen, auch der zwingend vorgeschriebene Mindestlohn in der Praxis der freiheitlichen Marktwirtschaft nur irgend so ein Datum; nahezu flächendeckend wird tatsächlich weniger gezahlt, gerade im Osten.

An der Stelle kommt nun die IG Bau ins Spiel. Sie führt erstens öffentlich und herzergreifend Klage über die unmöglichen Zustände – Wildwest-Manieren! – im ostdeutschen Baugewerbe. Zweitens fordert sie die Justiz zum Eingreifen auf und weiß zugleich, weshalb das nichts bringt: Die Kontrollen sind lax, die Strafgelder bescheiden – schließlich geht es hier nicht um die Rettung geschäftstüchtigen Eigentums vor Ladendieben, sondern um Ansprüche ans kapitalistische Geschäft, die außer einem windigen Tarifrechtstitel nichts auf ihrer Seite haben, schon gar kein öffentliches Interesse; außerdem ist kaum ein Betroffener zu einer richtigen Klage zu bewegen, weil ihm die Kündigung dann sowieso sicher ist. Nun wäre es denkbar, daß eine Gewerkschaft diese Sachlage als genau den Zustand proletarischer Ohnmacht begreift, gegen den sie sich aufbaut, die Betroffenen zusammenschließt und mit Streiks vorgeht, die genauso flächendeckend erpresserisch ausfallen wie das Lohn-Dumping der Arbeitgeber. Und irgendwie, das ist nicht zu bestreiten, sieht sich die Gewerkschaft auch zur kollektiven Interessenvertretung der Arbeitnehmerseite herausgefordert: Verhandlungen über haltbare Vereinbarungen bekommt sie auch, deutet in deren Verlauf sogar gelegentlich Streikdrohungen an – und präsentiert als Erfolg ihres Manövers einen Abschluß, den der Verhandlungsführer der Arbeitgeber als Beweis dafür lobt, daß die Branche in der Lage sei, Fehlentwicklungen aus eigener Kraft zu korrigieren. Bei weiterhin 93,8% des Westlohns werden bis auf weiteres die Ostlöhne eingefroren, die sich nach der bis dahin gültigen Vereinbarung im Oktober auf 100% des Westtarifs hätten fehlentwickeln sollen. Die Tariflöhne dürfen ab sofort zur Sicherung der Beschäftigung, zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und zur Stärkung des Baugewerbes in einer ganzen Region um bis zu 10% unterschritten werden. Und die Mindestlöhne für EU-Löhner werden im Westen um eine Mark auf DM 16, im Osten um eine halbe auf DM 15,14 zurückgenommen. Alles in allem ein bemerkenswerter Vertrag – nach Auffassung der Arbeitgeber zukunftsweisend für das gesamte produzierende Gewerbe und ein Vorbild für andere Branchen –, weil die Gewerkschaft da endlich einmal offiziell und unbeschönigt einer nominellen Senkung der als Arbeitsentgelt vereinbarten DM-Summen zugestimmt hat.

Noch bemerkenswerter ist freilich der Gesichtspunkt, unter dem die IG Bau das nicht nur tut, sondern sogar als den nach Lage der Dinge wünsch- und erreichbaren Erfolg verkauft. Der liegt nach ihrer Auffassung darin, daß es einen von der Gegenseite unterschriebenen Flächentarifvertrag und einen vom Bundesarbeitsminister für verbindlich erklärten Mindestlohn überhaupt gibt. Das Ziel, das sie sich gesetzt und nunmehr erreicht hat, besteht gar nicht darin, per Vertrag einen halbwegs anständigen Lohn auszuhandeln, sondern die de facto gezahlten unanständig niedrigen Löhne annäherungsweise in eine vertragliche Form zu bringen. Um die Form, den Flächentarif zu „retten“, ist sie bereit, in der Frage der Tarife „Realismus“ walten zu lassen und ein gutes Stück der Lohnsenkung, die ohnehin praktiziert wird, zu akzeptieren – so wurde wenigstens ein bißchen Ordnung in den „tariflichen Wildwuchs“ gebracht, den sie auf den Baustellen der Nation, vor allem im Osten, notieren muß. In diesem Ziel konnte sie sich mit ihren Kontrahenten treffen. Die Arbeitgeber sind nämlich ihrerseits mit der Absicht in die Tarifgespräche gegangen, das Gefälle zwischen Tariflohn und Marktlohn zu glätten (NZZ). Dabei ist es ihnen zwar, anders als der Gewerkschaft, gar nicht um den Formalismus des Flächentarifvertrags gegangen, sondern um ihr Geld, nämlich die Legalisierung eines Teils ihrer Lohnsenkungspraxis.. Eben deswegen aber und nur so konnte es zu dem abgeschlossenen „Geschäft“ zwischen IG Bau und Arbeitgebern kommen: geringere Löhne gegen die Konzession, diese in einem Tarifvertrag herkömmlicher Machart bzw. einer Mindestlohnvereinbarung hineinzuschreiben.

Dabei macht sich über die flächendeckende Durchsetzbarkeit der neuen, entgegenkommenderen Flächentarife niemand etwas vor. Auch die IG Bau geht davon aus, daß die Unternehmer nach wie vor machen, was sie wollen, und mit ihren andernfalls mit Entlassung bedrohten Belegschaften einschließlich Betriebsräten – sofern es die überhaupt gibt – darüber allemal einig werden. Aber vom Abwehrkampf gegen Reallohnsenkungen bis zum Streit um Lohnausgleich für Arbeitszeitverkürzungen haben Deutschlands Gewerkschaften schon eine lange Tradition und viel Erfahrung darin, immer nur um genau die Anliegen zu kämpfen, die ihnen gerade bestritten werden, und mit ihrem Kampf die Streichung des jeweiligen Anliegens zu besiegeln. So ist das Gefecht um den Flächentarifvertrag das deutliche Signal, daß der faktisch schon außer Kraft gesetzt ist. Umgekehrt ist dieser Umstand für die IG Bau nur ein Grund mehr, sich gegen die immer weitere Erosion des Flächentarifvertrags zu stemmen und für dieses hohe Gut an der Erosion der darin niedergelegten Lohnziffern mitzuwirken. (Die IG Chemie hat es ihr neulich ja erst vorgemacht: siehe Tagebuch-Eintrag Nr.3) Schließlich steht mit dem Formalismus des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags nichts Geringeres als ihr Status als Tarifvertragspartner auf dem Spiel – und insofern ihre Existenz. Wenn daher ein Tarifvertrag anders nicht zu haben ist, dann soll er der Gegenseite ruhig gar nichts weiter vorschreiben als die abgesenkten Löhne, die zwar vertragswidrig, aber faktisch gezahlt wurden und nach gewerkschaftlicher Einschätzung auch gar nicht zu korrigieren sind. Denn wenn schon für sonst nichts: Für die Unterschrift unter irgendeine flächendeckende Vereinbarung wird es die Gewerkschaft immer brauchen…