Das Baltikum, drei Kleinstaaten mit großem Auftritt: als Vorposten der NATO und Merkels giftige Kronzeugen in der Eurokrise

Wenn es in Europa Staaten gibt, die ganz offensichtlich „über ihre Verhältnisse leben“ – und zwar ganz anders als Griechenland & Co., auf die dieser Spruch immer gemünzt ist –, dann sind es Litauen, Lettland und Estland. Sie haben zusammen genommen etwas mehr als sechs Millionen Einwohner, ihre gesamte Wirtschaftsleistung erreicht nicht einmal die Hälfte derjenigen Griechenlands. Hinter ihnen rangieren in der EU-Statistik nur noch Zypern und Malta. Und auch in das westliche Kriegsbündnis haben sie kaum etwas an militärischen Potenzen einzubringen gehabt.

Ganz anders ihr gelebtes Selbstbewusstsein: Sie definieren sich offensiv als Feindstaaten mit vielen offenen Rechnungen gegenüber Russland, dem Kernland der alten Sowjetunion, der sie mal angehörten.

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Das Baltikum, drei Kleinstaaten mit großem Auftritt: als Vorposten der NATO und Merkels giftige Kronzeugen in der Eurokrise

Wenn es in Europa Staaten gibt, die ganz offensichtlich „über ihre Verhältnisse leben“ – und zwar ganz anders als Griechenland & Co., auf die dieser Spruch immer gemünzt ist –, dann sind es Litauen, Lettland und Estland. Sie haben zusammen genommen etwas mehr als sechs Millionen Einwohner, ihre gesamte Wirtschaftsleistung erreicht nicht einmal die Hälfte derjenigen Griechenlands. Hinter ihnen rangieren in der EU-Statistik nur noch Zypern und Malta. Und auch in das westliche Kriegsbündnis haben sie kaum etwas an militärischen Potenzen einzubringen gehabt.

Ganz anders ihr gelebtes Selbstbewusstsein: Sie definieren sich offensiv als Feindstaaten mit vielen offenen Rechnungen gegenüber Russland, dem Kernland der alten Sowjetunion, der sie mal angehörten. Den Geist dieser Anspruchshaltung bezeugen sie schon mal mit einer wenig völkerfreundlichen Behandlung der russischen Minderheiten auf eigenem Territorium. Auch in der anderen Himmelsrichtung treten sie äußerst fordernd in Erscheinung, verlangen Solidarität und stets noch mehr Unterstützung von ihren westlichen Bündnispartnern – eben weil sie als unschuldige Kleinststaaten der übermächtigen Ex-Weltmacht gegenüberstehen, der sie einen unausrottbaren Hang zur Unterjochung nachsagen, weshalb sie gewissermaßen von Natur aus „bedroht“ sind. Von einer Linie, wie sie früher einmal der Nachbarstaat Finnland verfolgt hat – eine Art Puffer-Status einzunehmen mit einer gewissen Distanz und Konzilianz gegenüber den benachbarten großen Mächten –, oder einer Funktion als „Brücke“, mit der sich andere Kleinstaaten in einer solchen Lage arrangieren, wollten sie nie etwas wissen. Ganz im Gegenteil.

In der Euro- und Griechenlandkrise stehen sie rhetorisch an der Spitze der ausgewiesenen Scharfmacher gegen alle Zugeständnisse an notleidende Südländer. Hatten sie nicht die Austeritätspolitik geradezu erfunden und erfolgreich vorgemacht, wie man die Wirtschaft gesundschrumpft und das Volk verarmt, im Dienst am und zur Stärkung des Euro?

Radikal antirussisch, Vorposten der NATO dicht am Feind, Musterschüler und Großmäuler in der EU – ein höchst anspruchsvolles Programm für drei Zwergstaaten. Wie können die sich das eigentlich leisten?

1. Die Staatsraison der Balten: Antirussisch

Gründung und Gründungslegenden

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, verkündet Gorbatschow. Die Balten machen diese Devise zu der ihren und sind die ersten, die aus der Sowjetunion ausscheren. Sie nehmen den Totengräber der SU beim Wort und dessen Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Sowjetmenschen als Erlaubnis, ihre gerade einmal zwischen den Weltkriegen praktizierte Eigenstaatlichkeit, die das Deutsche Reich der kriegsbedrängten jungen Sowjetmacht in Brest-Litowsk abgepresst hatte, wieder auszurufen. Angesichts ihrer Vorgeschichte als abwechselnd schwedischer, deutscher, polnischer und zuletzt Besitzstand des Zarenreichs fällt das Reservoir an nationaler Tradition eher spärlich aus, aber um einen solchen ideellen Rechtstitel im Namen eines völkischen Kollektivs geltend zu machen, kommt es darauf ja auch gar nicht an – entscheidend sind da allemal die wirklichen Machtverhältnisse. Und da haben die Freunde einer echt baltischen Herrschaft keinen geringeren als die Supermacht USA hinter sich.

Neben vielen anderen Einspruchstiteln gegen die Sowjetunion haben die USA auch die Annexion der Baltenstaaten per Hitler-Stalin-Pakt als völkerrechtliches Verbrechen identifiziert und seitdem diplomatisch an der Fiktion der fortbestehenden Eigenständigkeit dieser der SU inkorporierten Länder festgehalten.[1] Zur Unterfütterung ihres antisowjetischen Rechtsstandpunkts beherbergen die USA bei sich zu Hause auch eine baltische Diaspora samt Schattenregierung [2] und erinnern die noch im Völkergefängnis befindlichen Balten per Radio Liberty und Radio Free Europe unablässig an ihre missachteten Rechte, bis dann der außerordentliche Glücksfall von Gorbatschows Abrechnung mit dem eigenen System eintritt und von der Supermacht postwendend als Gelegenheit zur Demontage des versöhnungswilligen Reichs des Bösen wahrgenommen wird. Die amerikanische Regierung ermahnt Gorbatschow in aller Form, dass er den Separatismus der Balten und die Zersetzung seiner Union hinzunehmen hat, wenn er die Feindschaft zum Westen überwinden will.

Dank der völkerrechtlichen Legitimation und dem amerikanischen Machtwort an die Adresse der Sowjetführer, dass die sich ab sofort an das Prinzip der Gewaltfreiheit zu halten hätten, und dank deren Appeasement-Linie kommt die antisowjetische Freiheitsliebe am Ostseestrand dann im Jahr 1990 groß raus.[3] Eine ganz eigene Herrschaft wird wahr, bis dato nur der Traum etlicher Balten-Nationalisten, wie ihn viele andere Gesinnungsgenossen auch hegen, die sich als Opfer einer Fremdherrschaft definieren, aber eher selten erleben dürfen, dass daraus Wirklichkeit wird. Aber dank der amerikanischen Rückendeckung kommt der antirussische Fanatismus zu der Gelegenheit, sich als Staat zu gründen, und die baltischen Provinzen werden zu anerkannten und anspruchsvollen Mitgliedern der Staatenwelt – ganz ohne nennenswerte eigene politische, wirtschaftliche und militärische Machtmittel. Man sieht: Die Subsumtion ihres Fanatismus unter höhere weltpolitische Berechnungen in Amerika ist für die Balten kein Pech, sondern das größte anzunehmende nationale Glück.[4]

Dazu tragen ein paar andere Staaten in der näheren Nachbarschaft das ihre bei: In erster Linie die skandinavischen Staaten, aber auch die EU, lassen die Gelegenheit zur Offensive und Besetzung der Ostseeküste bis kurz vor St. Petersburg auch nicht aus und schwingen sich ebenfalls zu Schutzmächten auf, die kleine Völker ja bekanntlich brauchen.[5] Dank solcher Paten und vor allem dank des in Übersee weiterhin empfundenen Bedarfs an Containment gegenüber dem Kreml wird der baltische Staatsgründungswille, der es aus eigener Kraft höchstens zu ein paar vaterländischen Gesangsvereinen in Amerika gebracht hätte, unverhoffterweise in den Status einer politischen Größe versetzt, die es sich erlauben kann, Russland herauszufordern.

Im Selbstbewusstsein ihrer neu eroberten Staatlichkeit legen die politischen Führer dieser Länder dann los und widmen sich ihrer Mission, die Unbill der erlittenen Fremdherrschaft abzuschütteln. Sie erheben die Aus- und Abgrenzung gegen alles Russische in Sachen Volk, Grenzen und Standort zum obersten und wichtigsten Programmpunkt beim baltischen Nation-Building. Aufgrund ihrer förmlichen Ermächtigung sehen sie sich im Außenverhältnis zu einigem Revanchismus gegenüber der alten Herrschaft berechtigt und im Inneren zu einer gründlichen Entrussifizierung.

Wie die westlichen Mächte legen sie die Abkehr der KPdSU von ihrem alten System aus wie eine Art Kapitulation, um umgekehrt als (Quasi-)Siegermächte dem staatlichen Nachfolger der Weltmacht Nr. 2 das Eingeständnis abzuverlangen, dass er sich einer falschen Herrschaft schuldig gemacht hat, und ihn dementsprechend als Beweis tätiger Reue und Wiedergutmachung auf gewisse Vorschriften zu verpflichten. Die frisch etablierten baltischen Herrschaften definieren die Zeit ihrer Zugehörigkeit zur SU als eine einzige Unterdrückungsperiode, die durch eine widerrechtliche Okkupation zustande kam – innerhalb des baltischen Hoheitsbereichs gilt die „Leugnung“ der „Okkupation“ durch die SU, ähnlich wie in Deutschland die des Holocaust, als Straftatbestand [6] –, und stellen die neuen Beziehungen unter das Postulat, dass es jetzt an Russland ist, dieses Unrecht zu begleichen: Sie praktizieren den Standpunkt in Form einer diplomatischen Dauerfehde mit dem gewendeten Russland, bombardieren den Nachbarn mit der Forderung, den Unrechtscharakter der Zeit zwischen 1940 und 1990 in aller Form einzugestehen, anders gebe es keine tragfähige Grundlage für neue Beziehungen, und legen diverse Forderungen auf, wie sie sich die nötige Wiedergutmachung vorstellen.

Ein Recht auf Reparationen

„Die Baltische Versammlung verabschiedete am 19. Dezember 2004 eine Resolution ‚Zur Notwendigkeit der Bewertung des Schadens für die baltischen Staaten durch die Besatzung‘. Im Wortlaut hieß es unter anderem: ‚Die Besatzung hat der Wirtschaft, dem Bildungswesen, der Kultur und der Intelligenz der baltischen Staaten einen riesigen Schaden zugefügt. Deswegen sind die baltischen Staaten im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn deutlich zurückgeblieben.‘...
Im Jahr 1997 behauptete Litauen, einen Schaden in Höhe von insgesamt 286 Milliarden US-Dollar während der Sowjetzeit erlitten zu haben, und forderte von Russland Schadenersatz. Später wurde diese Forderung auf 20 Milliarden reduziert. Im Jahr 2011 war dann von 834 Milliarden Dollar die Rede...
Auch Estland forderte nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Entschädigung für die ‚Besatzung‘... Die estnische Akademie der Wissenschaften setzte eine Kommission ein, um den Schaden zu bewerten. Ein ‚Weißbuch über die Verluste durch die Besatzungen im Zeitraum zwischen 1940 und 1991‘ wurde veröffentlicht. Demnach wurden die menschlichen Verluste von 1940 bis 1941 auf 48 000 beziffert. Die zweite sowjetische Besatzung soll 111 000 Opfer gefordert haben, unter ihnen Erschossene, Flüchtlinge in den Westen und diejenigen, die an Hunger und Krankheiten gestorben waren. Für jeden von ihnen forderte Estland 75 000 US-Dollar (insgesamt rund zwölf Milliarden Dollar). Vier Milliarden Dollar wollte das Land außerdem für den Umweltschaden bekommen. Den wirtschaftlichen Schaden bezifferte Estland auf mindestens 100 Milliarden Dollar...
Lettland war mit seinen Forderungen weniger aktiv. Im Jahr 1996 verabschiedete das nationale Parlament eine Erklärung ‚Zur Besatzung Lettlands‘. Es forderte dabei zwar keine Entschädigung, rief alle Länder und internationalen Institutionen aber dazu auf, die sowjetische Besatzung als Fakt anzuerkennen und Lettland ‚politisch und wirtschaftlich‘ dabei zu helfen, die Konsequenzen dieser Okkupation zu bekämpfen. 2005 kam dann eine weitere Erklärung zustande, die das ‚totalitäre kommunistische Besatzungsregime‘ in Lettland verurteilte. Als Rechtsnachfolger der Sowjetunion trage Russland ‚moralisch, rechtlich und finanziell die Verantwortung für die in Lettland begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für den Schaden, der dem lettischen Staat und seinen Bewohnern infolge der rechtswidrigen Aktivitäten zugefügt wurde‘, hieß es. Eine zuständige Kommission bezifferte den Schaden auf 18,5 Milliarden US-Dollar einschließlich der Umweltschäden durch sowjetische Industriebetriebe und Militärstandorte. Lettland kalkulierte auch, wie sein Bruttoinlandsprodukt gestiegen wäre, hätte die Republik nicht zur Sowjetunion gehört. Das mögliche Wachstumstempo wurde dabei mit Finnland, Österreich und Dänemark verglichen. Daraus hätte ein zusätzliches BIP in Höhe von jeweils 231, 277 oder 335 Milliarden Dollar resultieren können, so der Kalkül.“ (sputniknews.com/german.ruvr.ru)

Die offen gehaltene Grenzfrage

Die estnisch-russische Grenze ist die letzte Grenze in Europa, die unter Verfassungsvorbehalt steht (§ 122 Estnische Verfassung). Oder-Neiße auf Estnisch: Tallinn beruft sich auf den Vertrag von Tartu von 1920, in dem es den Esten mit deutscher Unterstützung gelungen war, der durch den Bürgerkrieg geschwächten SU Gebiet abzupressen. Der Sache nach geht es um drei winzige Landstriche an der Narwa und mitten im Wald; dem Prinzip nach ist das ein permanenter estnischer Korrekturbedarf, der dafür gesorgt hat, dass seit den 90er-Jahren zäh verhandelt wird. Der estnisch-russische Grenzvertrag wurde mehrfach (2005, 2011, 2014) unterzeichnet, jeweils von den Esten nachträglich mit ihrem Tartu-Vorbehalt versehen und dann nicht ratifiziert. Einen ähnlichen Streit gibt es zwischen Lettland und Weissrussland.

Da es sich bei der Wende in Russland dann aber doch um keine wirkliche Kapitulation handelt und die Balten samt ihrem siegreichen Freiheitsdrang mit einem ganz anderen Kräfteverhältnis leben müssen, kommen sie über das Fordern nicht hinaus. Schließlich zeigen auch die eigenen Schutzmächte wenig Neigung, den kompletten baltischen Revanchismus zu ihrer Sache zu machen. Die westliche Patronage bewährt sich denn auch eher darin, die antirussischen Exzesse der baltischen Schützlinge mit wohlwollendem Stillschweigen zu behandeln.

Die baltische „Minderheiten“-Politik

Ethnische Russen bilden in Lettland und Estland um die 30 % der Bevölkerung.[7] Den baltischen Herrschaften gilt dieser Umstand wie ein immer noch andauernder Teil sowjetischer Okkupation, siehe die Erklärung aus Lettland, warum man dort Flüchtlinge überhaupt nicht vertragen kann:

„Janis Dombrava vom Parlamentskomitee für Außenpolitik äußert die Bedenken der Gegner: ‚In Lettland hat es eine ‚historische Immigration‘ gegeben. Kein einziges Land in Europa hat eine solche Immigration erlebt wie Lettland und Estland und deswegen kann von der Aufnahme neuer Immigranten keine Rede sein (...) Wenn man sich die ethnische Zusammensetzung in der Hauptstadt Lettlands, in Riga, anschaut, dann ist es so, dass 54 bis 56 Prozent der Bevölkerung Letten sind, also eine hauchdünne Mehrheit. Deswegen der Widerstand: Es ist das Bewusstsein, dass man sehr leicht wieder zu einer Minderheit werden kann.‘
Bis vor 20 Jahren gab es in Lettland zusammengenommen mehr Russen, Weißrussen und Ukrainer als Letten. Das Trauma, im eigenen Land zu einer Minderheit zu schrumpfen, sei nicht verheilt. Die Letten sehen in den Russischstämmigen immer noch Fremde, die Integration ist ein schmerzhafter Prozess, wegen des Traumas der Okkupation. Noch immer will rund die Hälfte der Letten die Russen nicht akzeptieren.“ (Deutschlandfunk, 20.7.15)

So stehen die im Land befindlichen und im Übrigen kreuzbraven Russen prinzipiell unter dem Verdacht, qua Masse das gute baltische Volk zu überwuchern und -fremden, wenn nicht gar unter dem als „5. Kolonne Moskaus“ zu operieren. Dementsprechend werden sie behandelt, d.h. mit ausgesuchter Feindseligkeit: Sie haben den offiziellen Status von „Nicht-Bürgern“ und müssen sich in einem Verfahren, das einem Hindernisrennen gleicht, um die lettische Staatsbürgerschaft bewerben.[8] Entweder schwören diese potenziellen Handlanger des Feindstaates ihrem Russentum tätig ab und lassen sich in echte Balten umtaufen, oder sie sind zumindest vorläufig durch Ausgrenzung unschädlich zu machen.

Aufgrund der Menge der sogenannten russischen Minderheiten bilden russische Parteien und deren Wahlerfolge eine äußerst kritische Größe in diesen lupenreinen Demokratien. Die muss durch eine möglichst zurückhaltende Erteilung von Staatsbürgerrechten unter Kontrolle gehalten werden, während deren Führer mit Hilfe von Korruptionsskandalen kriminalisiert und aus dem politischen Leben entfernt werden.[9] Dasselbe gilt im Übrigen auch, wenn in der volkseigenen Parteienlandschaft Regungen aufkommen, die u.a. wegen ökonomischer Rechnungen ein auskömmlicheres Verhältnis zu Russland anstreben – die werden mit Hilfe amerikanischer Instanzen zumeist als russische Verbrecher und U-Boote identifiziert und unschädlich gemacht.

An Russland kräftig verdienen, aber keine Abhängigkeiten dulden wollen

In Sachen Wirtschaft leistet sich die antirussische Linie der neuen Souveräne eine entschiedene Doppelstrategie: Entgegen ihrer Definition der Hinterlassenschaften der sowjetischen Planwirtschaft als einer Ansammlung von Okkupations- und Umweltschäden scheuen sich die neuen Staaten keineswegs, sich dasselbe Inventar als Nationalvermögen zunutze zu machen und nach Kräften am russischen Geschäft mitzuverdienen. Die gesamte Infrastruktur – von der Bahn bis zu den Stromleitungen, Transportlinien und Häfen – und das darauf basierende baltische Wirtschaftsleben verdanken sich schließlich ihrer Funktion im Rahmen der sowjetischen Arbeitsteilung. Auch nach der Verselbständigung der Unionsrepubliken funktioniert vieles davon als abhängige Variable russischer Geschäfte, vor allem des boomenden russischen Rohstoffexports: Einen zentralen Aspekt der baltisch-russischen Beziehungen stellt die Frage des Transits von Gütern und hierunter insbesondere von Energieträgern dar. Etwa 40 % aller russischen Exporte und 60 % der Ölexporte gelangen über die baltischen Staaten nach Westen.[10] Und umgekehrt bleiben baltische Betriebe mit einer Menge eigener, woanders nicht konkurrenzfähiger Produkte auf russische Zahlungsfähigkeit angewiesen. Die eigene Unternehmerschaft nützt darüber hinaus die Grenzlage zu allerhand einträglichen, aber nicht ganz legalen Geschäften mit der russischen/weißrussischen Geschäftswelt, unterläuft z.B. gerne Handelsbeschränkungen wie die heutigen beiderseitigen Sanktionen zwischen EU und Russland, baut sich im Einvernehmen mit russischen Oligarchen als deren Brückenkopf in der EU auf, etwa mit dem Angebot an neureiche Russen, ihr Kapital in baltische Immobilien zu stecken, um im Gegenzug Visa für den ungehinderten Zugang zur EU zu ergattern.[11]

Diese nette Kombination, einerseits gegenüber dem großen Nachbarn mit revanchistischen Parolen und Schikanen gegen dessen Volksteile aufzutreten und andererseits die Nachbarschaft in allen Hinsichten geschäftlich auszunützen, ist dann doch nicht ohne Friktionen zu haben. Russland setzt seinerseits die ökonomischen Abhängigkeiten als Druckmittel ein, um die Balten in ihrer antirussischen Linie zu bremsen und vor allem vom Beitritt zur NATO abzuhalten. Daher beschweren sich die Staatschefs bitterlich, wenn Russland ihr Transportgeschäft beschneidet,[12] suchen andererseits russischen Einfluss an ihren Standorten zurückzudrängen und warnen dann auch wieder vor den Russland-Sanktionen, die ihr Wirtschaftsleben nur schlecht verträgt.[13] Das baltische Ideal: aus der Grenzlage und der ererbten Infrastruktur so viel Geschäft herauszuschlagen, wie nur irgend geht, und gleichzeitig die russischen Einflussmittel auf null zurückzuführen, ist nicht zu haben; stattdessen geraten die fortexistierenden Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zum Stoff für lauter Streitigkeiten und Hebel wechselseitiger Erpressung; mal stoppt Russland die Belieferung mit Öl und Gas, mal behindern die Balten die Versorgung von Kaliningrad. Mittlerweile hat das heutige Russland einiges Transportgeschäft verlagert; zum anderen haben sich die Balten im strategisch bedeutsamen Energiesektor per Stromtrasse aus Finnland und einer Anlage zum Import von Flüssiggas partiell von der Versorgung durch Russland abgekoppelt. Und auf der Grundlage des neuen EU-Programms der Energiesicherheit gegen Russland rechnet man damit, dass in Zukunft auch mehr EU-Gelder in solche Projekte fließen – schließlich läuft der Beschluss, sich ökonomisch vom großen Nachbarn unabhängig zu machen, ganz banal auch immer wieder am mangelnden Geld der Staaten auf.

2. Der eigentümliche Fanatismus der baltischen Politik im Verein mit und als Instrument der amerikanischen Außenpolitik

Der eine und einzige Rechtsstandpunkt dieser neu erstandenen Souveräne lautet: Die Ursache der Verhinderung ihrer freien Selbstbestimmung als Nationen, der böse Wille der ehemaligen Herren aus Moskau, darf auf keinen Fall weiter geduldet werden! Dass dieser Nationalismus der Ausgrenzung, der sich über das Ressentiment gegenüber der früheren Herrschaft definiert, angesichts des absurden Kräfte(miss)verhältnisses zu dem nach wie vor großmächtigen Russland überhaupt die Gelegenheit erhält, praktisch zu werden, liegt, wie gesagt, daran, dass er die Schutzmacht USA hinter sich hat. Die neuen Souveräne betätigen sich denn auch höchst selbstbewusst als Schützlinge und dankbares Instrument der Amerikaner, von deren Protektion sie in ihrer Unversöhnlichkeit in allererster Linie abhängen; dazu verstehen sie sich, als sei das waldursprünglich in der baltischen Volksseele angelegt.

Vorkämpfer für die Befreiung des russischen Umfelds von russischer Hegemonie und für die antirussische Ausrichtung der EU

So spielen sie von Beginn an ihre Rolle in der amerikanischen Strategie, den früheren Hauptfeind und seinen immer noch viel zu machtvollen Erben Russland weiter zu beschränken, insbesondere von seinen Partnern in der GUS zu befreien. Die Balten machen sich aus Prinzip für jede Spielart von antirussischem Nationalismus stark, für alle antirussischen Bestrebungen anderswo, die „Farbenrevolutionen“ in Georgien, in der Ukraine, Moldau etc., sie bieten auch der weißrussischen Opposition die nötige Infrastruktur, in ihre Heimat hineinzuwirken. Bei allen amerikanischen Anstrengungen, Russland sein „nahes Ausland“ streitig zu machen, dürfen baltische Repräsentanten mitwirken; angesichts beschränkter Mittel zwar mehr als Dekor amerikanischer Außenminister, die als Rechtstitel ihrer Politik immer gerne ein paar ihrer lokalen „allies“ vorzeigen, aber so stehen sie dann überall auf der Bühne mit herum.

Damit setzen sie sich dann allerdings auch in Gegensatz zu ihrer anderen Schutzmacht, der EU: Mit ihren transatlantischen Sonderbeziehungen machen sich die Balten als proamerikanischer Spaltpilz auch gegen die europäischen Führungsmächte geltend. Zu Zeiten des Irak-Kriegs treten sie gegen die Schröder-Chirac-Putin-Linie auf und machen sich als Bestandteil des „neuen Europa“ verdient, Litauen z.B. mit einem Geheimgefängnis, in dem die CIA exterritorial foltern darf. Seitdem monieren sie den vor allem deutschen Kurs allzu großer Russlandfreundlichkeit, d.h. den deutschen Versuch, sich mit immer enger werdenden Beziehungen Russland als Domäne herzurichten, und beziehen mehrfach dagegen Position. Mit allen verfügbaren Mitteln versuchen sie, den Bau der Ostseepipeline oder die zeitweilig angepeilte Energiepartnerschaft mit Russland (2007) zu torpedieren; auch gegen die Aufnahme Russlands in die WTO leisten sie hinhaltenden Widerstand.

Bei ihrer rücksichtslosen und exponierten Russlandfeindschaft war den neuen Herrschaften natürlich von Anfang an klar, dass ihnen die politische Rückendeckung durch das große Amerika alleine nicht genügt: Sich im westlichen Kriegsbündnis verstauen zu lassen war das oberste Desiderat ihrer neu errungenen Unabhängigkeit, das sie 2004 bei der zweiten Osterweiterungswelle der NATO erreicht haben.

Drei strategische Vorposten der NATO und Galionsfiguren ihrer Propaganda

Für sich genommen kann man die militärischen Potenzen der Balten vergessen. Sie selbst verfügten und verfügen über kein nennenswertes Militär, um sich im Fall des Falles in ihrer, strategisch betrachtet, einigermaßen prekären Lage zwischen der Ostsee, dem ehemaligen großen Bruder und dessen Exklave Kaliningrad zu halten, auch wenn sie jetzt aktuell Aufrüstungspläne auflegen und einige Balten als Privatnationalisten in Wald und Sumpf Partisanenkämpfe üben. Aber jetzt sind sie eben Teil der NATO, laut Vertrag also Schutzobjekt im Fall einer Aggression von außen; zum Dank, natürlich an die Amis als Führungsnation, beteiligt man sich mit ein paar Mann am Irakkrieg (ohne NATO) und Afghanistankrieg (mit NATO).

Für die NATO sind diese Mitglieder allerdings dank ihrer Lage ein enormer strategischer Zugewinn: Mit der Herrschaft über das Baltikum dehnt das Bündnis seinen Operationsraum bis an die russische Grenze aus; es engt den russischen Zugang zur Ostsee ein; dient als Aufstellungsplatz für Abhöreinrichtungen und alle einschlägigen Geräte. Geeignet ist das Baltikum infolgedessen auch als Ort politischer Demonstration der NATO-Entschlossenheit und Geschlossenheit. Seit der Zunahme der „Spannungen“ mit Putins Russland zeigen die potenten NATO-Mächte mit permanenten Kontrollflügen, „Air policing“, Präsenz vor der russischen Grenze. Und seitdem Russland den Willen der antirussischen Kiewer Regierung, das Land trotz aller Abhängigkeiten von Russland auf Westkurs zu bringen, mit Militäraktionen bestraft, die sich auf einen russischen bzw. russophilen Volkswillen in der Ukraine berufen, erleben die Balten erst recht eine militärpolitische Hochkonjunktur.

Sie laufen zu großer Form auf und deklarieren sich vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise als erstklassige „Betroffene“. Die Gefahr einer weiteren Aggression gegen Ex-Mitglieder der SU, die Russen beherbergen und schlecht behandeln, wird zum maßgeblichen Prinzip russischer Außenpolitik aufgeblasen: – Wir haben es immer schon gewusst! –, um auf einem harten Vorgehen der eigenen Bündnisse gegen Russland zu bestehen. Seitdem Russland seinerseits Demonstrationen seiner militärischen Stärke und Entschlossenheit abliefert, treten die Balten erst recht fordernd auf gegenüber der NATO, verlangen, dass sich die NATO-Staaten geschlossen hinter sie stellen und aktive Abschreckung betreiben. Am liebsten wäre ihnen eine Aufwertung ihres Hoheitsgebiets durch Errichtung einer Kommandozentrale, Riga ist im Gespräch, so dass die Verteidigung von NATO-Macht und Baltikum möglichst in eins fallen möge; jedenfalls beantragen sie unentwegt mehr an „Schutz“ und bekommen da auch einiges geliefert.

Schließlich hat die NATO selbst seit der Ukraine-Krise, gemäß der interessanten Logik, was Russland in der Ostukraine getan hat, tut es demnächst immer und überall, die Definition der Balten als gefährdetes Bündnisgebiet ausgegeben. Und damit lässt sich jede Verschärfung der NATO-Politik gegenüber Russland rechtfertigen [14] – ganz so, als würde sich das mächtigste Kriegsbündnis aller Zeiten zu keinem anderen Zweck aufstellen als einen Schutzwall für die niedlichen kleinen Ostseeanrainer zu bilden. Die NATO begründet damit ihren Aufmarsch gegenüber Russland seit der Ukraine-Krise, den Aufbau ihrer very high readyness joint forces, sehr schnell an die Ostfront verlegbarer Eingreifeinheiten; eine dauerhafte Verstärkung durch NATO-Kräfte vor Ort findet auch statt, wird aber in Gestalt ständig rotierender Einheiten organisiert, um den in der NATO-Russland-Akte vereinbarten Verzicht auf substantielle Veränderungen bei der Stationierung von Truppen der Form nach irgendwie einzuhalten. Zusätzlich verlegen die USA Kriegsmaterial und Personal in die vorgelagerten NATO-Staaten und zeigen ihre Präsenz wie kürzlich an der estnisch-russischen Grenze mit einer demonstrativen Panzerparade.[15] Estland wird mit einem NATO-Zentrum in Sachen Cyberwar bestückt und alle drei Staaten mit Programmen zur ideologischen Kriegsführung für die russische Bevölkerung in und außerhalb der eigenen Grenzen.[16]

Dass man sich mit dieser Linie immer mehr in die Rolle eines Frontstaats begibt, der sich genau dadurch mehr an gespannten Beziehungen und Pressionen einhandelt, ist den Balten keine Bedenklichkeit wert: Mit ihrer Staatsraison legen sie es ja gerade auf diesen Status an, und das, was sie dann an Unterstützung durch das westliche Kriegsbündnis herausschlagen, ist ihnen nie genug.

Denn jetzt sitzen die Balten ja mitten drin im Streit innerhalb der NATO über das weitere Vorgehen gegen Russland. Klar, dass sie als Scharfmacher gerne eine geschlossene Phalanx hinter sich wüssten; aber wie die Lage nun mal ist, schließen sich die Europäer unter deutsch-französischer Führung der amerikanischen Militanz nur mit Vorbehalten an und versuchen die Amerikaner mit ihrer Normandie-Diplomatie auszubremsen. Was für die Balten heißt, dass die Deutschen ihren Antrag auf Waffenlieferungen erst ablehnen und dann, als die USA einseitig Panzerlieferungen auf die Tagesordnung setzen, nachziehen und die Übernahme der „Speerspitzen“-Strategie für sich beanspruchen, um hierüber Einfluss auf die amerikanischen NATO-Ambitionen ausüben zu können, für den Fall, dass die NATO, amerikanisch dominiert, aktiv wird.

Was die Ausstattung als Militärstützpunkt und Vorratslager der NATO angeht, macht das Baltikum also gewaltige Fortschritte, auf den Entscheidungsebenen hat es nach wie vor wenig zu suchen.

3. Wirtschaft und Krisenpolitik im Europa des Euro: Die drei Musterknaben

Die Staatsgründung haben die Nationen glorreich hinbekommen – und sehen sich damit zugleich vor die Existenzfrage gestellt, wovon sie eigentlich leben sollen. Das Programm, als kapitalistische Nationen lebensfähig zu werden, die Abschaffung aller sozialistischen Erfolgskriterien für ihr Wirtschaften und der Austritt aus der Allunions-Arbeitsteilung sind identisch mit einem großen Abbruchunternehmen. Sie müssen sich umstellen auf die Kriterien marktwirtschaftlichen Erfolgs auf einem Weltmarkt, ohne selbst über das entscheidende Erfolgsmittel, nämlich Kapital, zu verfügen – insgesamt ein ziemlich selbstmörderisches Projekt für die Nationen, die sich mit der Trennung von ihrem bisherigen ökonomischen Funktionszusammenhang auch ihrer bisherigen Mittel berauben. Von daher ist der Anschluss an das mächtige europäische Staatenbündnis seit dem Gründungsakt die gebieterische Perspektive und alternativlose Linie. Wie die anderen Transformationskandidaten des Ostblocks erklären sich die Balten in ihrer großartigen Unabhängigkeit zu kompletten Betreuungs- und Entwicklungsfällen für den Geschäftssinn kapitalstarker Unternehmer und interessierter westlicher Regierungen; dafür bieten sie alle nationalen Ressourcen zur gefälligen Verwendung.

In der ersten Phase vor 2004 (NATO- und EU-Beitritt) gelingt es ihnen, mit allen erdenklichen Vorzugskonditionen (Sonderwirtschaftszonen, Joint-ventures mit Staatsbetrieben, Steuerprivilegien, großflächiger Landerwerb aus Staatsbesitz etc.) vor allem skandinavische Unternehmen sesshaft zu machen. Das Bankwesen im Baltikum ist bald nahezu komplett schwedisch (Nordea et al.), die Holzindustrie finnisch/schwedisch; der baltische Wald gehört mittlerweile größtenteils IKEA. Nokia nutzt Estland als IT-Standort; die Logistik ist die Sphäre von Maersk (Dänemark). Auch im Tourismussektor setzt das Baltikum auf Angebote für zahlungskräftige Ausländer und erwirtschaftet damit größere Teile seines Nationalprodukts: Skandinavier kommen zum Saufen, Russen immer noch wegen der Meeresstrände im Sommer und deutsche Studienräte zum Bestaunen der Tradition der balten-deutschen Ordensritter. Baltisches Personal ist mittlerweile auch zum festen Bestandteil der skandinavischen Unterhaltungsindustrie geworden: Nutten, Schmuggelgeschäfte und Mafia kommen in nordischen Kriminalfilmen und der Wirklichkeit zumeist aus dem Baltikum; schließlich reicht das, was an Kapitalanlage in den Ländern zustande kommt, nicht annähernd zur Lebensgrundlage für die dortigen Völker, so dass die sich zu größeren Teilen auf Erwerbsquellen im sogenannten informellen Sektor verlegen.

Fit machen für EU-Beitritt und Euro: Um jeden Preis und trotz Krise

Mit der Erschließung durch die skandinavischen Nachbarn wollen sich die Baltenstaaten nicht zufriedengeben; ihr eigentliches Ziel ist die Aufnahme in das potente europäische Wirtschaftsbündnis. Sie machen sich mit Feuereifer von Anfang an daran, die anspruchsvollen ökonomischen, rechtlichen, politischen Kriterien für einen Beitritt zu erfüllen, die im Katalog des Acquis communautaire festgeschrieben sind (mit Ausnahme der Gewährung der vollen Bürgerrechte für die russische Bevölkerung) und nehmen sich nach dem Beitritt 2004 sofort die nächste Etappe, das Fitmachen für den Euro-Anschluss durch Einhaltung der Maastricht-Kriterien vor.[17] Dabei verlegt sich die baltische Regierungskunst, was die Bewirtschaftung des Standorts angeht, mit entschiedener Einsinnigkeit auf die Tugend der Haushaltsdisziplin oder auch des Sparens – zuerst, um die Aufnahme in die EU zu erreichen; in der nächsten Etappe, um sich für den Euro zu qualifizieren. Noch während dieser Etappe landet die Finanzkrise auch an der Ostsee und will nun erst recht mit dieser Tugend bewältigt werden; dabei bleibt es bis zum Eintritt in den Euro, dessen Regime, nun zum Stabilitätspakt ausgebaut, von derselben Tugend noch mehr verlangt...

Dieser außerordentliche Rigorismus, mit dem in den Ländern eine Rosskur nach der anderen veranstaltet wird, der auch journalistische Beobachter aus den alten Euro-Mitgliedsnationen zuweilen erstaunt, verdankt sich nicht alleine der wirtschaftspolitischen Vernunft, nach der jeder standortpolitische Bedarf hinter dem Ziel eines soliden Staatshaushalts zurückzustehen hat – er folgt vielmehr aus dem ausgeprägten Schutzbedürfnis der Balten, das auf ihrer ausgeprägten Feindseligkeit gegenüber ihrem östlichen Nachbarn beruht. Damit entrichten sie quasi die Eintrittsgebühr für die Teilhabe an europäischer Macht, erwerben sich zunächst die Qualifikation zum EU-Mitglied und dann zum Euro-Staat mit einem klaren Um-zu: um für ihren Revanchismus auch die schützende Gewalt des europäischen Machtblocks in Anspruch nehmen zu können. Von daher haben sich die baltischen Regierenden mit ihrer äußerst beschränkten Souveränität in Sachen Haushalt und Standortpolitik schon immer abgefunden – im Namen ihrer politischen Anspruchshaltung, für die sie das Bündnis hinter sich bringen wollen.

Im Verlauf dieser Karriere hat die Finanzkrise ihnen dann neue exorbitante Sparleistungen abverlangt. Ganz im Sinne der verlangten Reformen hatten sie sich auch zu Objekten fürs Finanzkapital hergerichtet und einiges an Spekulation, insbesondere auf dem Feld der Immobiliengeschäfte, auf sich gezogen – und werden damit gleich zu den ersten Opfern der Lehman-Krise unter den europäischen Nationen: Dem auf Schadensbegrenzung bedachten Finanzkapital fällt plötzlich das Zwergenformat dieser Volkswirtschaften unangenehm auf, es bezweifelt deren Fähigkeit, das Übermaß an Kredit, das es dort hineingestopft hat, regelgerecht zu bedienen, und vor allem die Fähigkeit der Nationalbanken, die feste Bindung zum Euro einzuhalten – Grund genug, sie mit Kreditentzug zu bestrafen.

Während andere Eurobeitrittskandidaten wie Polen, Tschechien, Kroatien keine Eile haben, die gerade im Zuge der Krisenbewältigung besonders schmerzhaften Beitrittskriterien zu erfüllen, beharren die Baltenstaaten auf ihrem Terminplan und der festen Anbindung an den Euro, selbst gegen massive Zweifel aus dem Hauptgläubigerland Schweden, das auf Verschiebung und Abwertung von Lats & Co. drängt. Sie halten eisern an der Erfüllung der Maastricht-Kriterien fest: Der Zusammenbruch vieler gerade erst installierter Geschäftszweige darf nicht mit kreditfinanzierter staatlicher Förderung bekämpft werden, stattdessen schleusen sie mit drastischen Einschnitten bei staatlichen Ausgaben ihre Verschuldung auf europäisches Spitzenniveau herunter und setzen auf das Rezept der sogenannten „inneren Abwertung“, „modernisieren“ durch „Strukturreformen“ ihren Arbeitsmarkt: Lohnkosten auf Unternehmens- und Staatsebene bis hin zur Rente werden drastisch abgeschmolzen.

„Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der vielen verschuldeten Länder weltweit fragen, wie Sparpolitik eigentlich aussieht, dann sollten sie sich dieses 3,3 Millionen Einwohner zählende Land des Baltikums anschauen. Angesichts der steigenden Defizite, die das Land nur noch einen Steinwurf weit vom drohenden Bankrott existieren lassen, hat Litauen seine Staatsausgaben um 30 Prozent reduziert. Im öffentlichen Dienst wurden die Löhne um 20 bis 30 Prozent und die Renten um etwa 11 Prozent gekürzt...
Und das ist noch nicht alles. Für eine Vielzahl von Produkten – darunter Medikamente und Alkohol – hat die Regierung die Steuern erhöht. Die Körperschaftssteuer stieg von 15 auf 20, die Mehrwertsteuer von 18 auf 21 Prozent. Als Nettoergebnis konnte der Finanzhaushalt des Landes neun Prozent des Bruttoinlandsproduktes einsparen. Dank dieser finanzpolitischen Veränderungen steht Litauen (gleich nach Lettland) an der zweiten Stelle der Länder, die seit Beginn der Krise erfolgreiche Haushaltsausgleiche betrieben haben.
Jedoch verlangte dieser Sparkurs, dass auf individueller sowie gesellschaftlicher Ebene ein hoher Preis gezahlt wurde. Rentner, deren Pensionen gekürzt wurden, strömten zuhauf in die Suppenküchen. Die Arbeitslosenrate stieg von einer einstelligen Zahl bis auf 14 Prozent an und die schon wacklige Wirtschaft schrumpfte im vergangenen Jahr um weitere 15 Prozent.“ (Litauen: Feste sparen, 22. April 2010, The New York Times, voxeurop.eu)
„Nach einem ungesunden Kreditwachstum der privaten Haushalte von mehr als 50 Prozent in den Jahren 2006 und 2007 hatte Lettland 7,5 Milliarden Euro Notkredit des Internationalen Währungsfonds benötigt. Die größte einheimische Bank Parex musste verstaatlicht werden. Drei Jahre lang schrumpfte die Wirtschaft, allein im Jahr 2009 um dramatische 17,7 Prozent... Den Großteil der Sanierungslasten aber haben die Letten selbst getragen: Die ohnehin niedrigen Renten sanken um 10 Prozent, die Löhne im öffentlichen Dienst um 20 Prozent. Der Staatshaushalt wurde seit 2009 um 17,5 Prozent einer Jahreswirtschaftsleistung gekürzt. Die Ratingagentur Fitch spricht von einer ‚der größten Konsolidierungen aller je von Fitch analysierten Staaten‘. Ökonomen betonen besonders, dass die Sanierung Lettlands ohne Abwertung der Währung Lats gelang. Vielmehr gewann die Exportwirtschaft dank der niedrigeren Löhne an Wettbewerbsfähigkeit, vor allem in ausgefeilteren Branchen wie der Elektroindustrie.“ (FAZ, 2.3.13)

Anders als die solchermaßen traktierte Bevölkerung, die in der staatsbürgerlichen Beurteilung der Sinnhaftigkeit einer Euro-Übernahme recht gespalten ist, und das keineswegs entlang der ethnischen Scheidung in autochthone Landsleute und fremde russische Bewohner, lassen sich die Staatsführungen durch die Bank nicht in ihrer Linie beirren. Für die Erlangung der Mitgliedschaft im Club der Eurostaaten ist ihnen kein Preis zu hoch, weder der Souveränitätsverlust in Geld- und Haushaltspolitik noch die damit übernommenen Notwendigkeiten, das eigene Land eurotauglich zu machen, ganz zu schweigen von den Kosten, die sie ihren Völkern damit aufbürden. Der außerökonomische Grund für diesen Fanatismus des harten Geldes, den die dortigen Staatsführer gegen alle standortpflegerischen Rücksichten betreiben und sich als ihre euro-politische Mustergültigkeit zugute halten, wird in den Baltenstaaten auch offen ausgesprochen: Für die Existenzsicherung ihrer antirussischen Staatsraison muss auch die eigene politökonomische Existenz fundamental, eben über das kapitalistische Herzstück Geld, mit der der anderen EU-Staaten verknüpft, der eigene Standort als Substandort einer größeren Gemeinschaft anerkannt und eingegliedert und das politische Schicksal der Nation auf diese Weise unauflösbar mit dem aller anderen Euro-Nationen, zumal dem der führenden, verbunden, also denen als Schutzobjekt ans Herz gelegt werden – zusätzlich zum Rückhalt, den man sich als NATO-Mitglied erobert hat.[18]

Dem Fußvolk ist der Anschluss an die EU einmal als der sichere Weg zu Wohlstand verkauft worden, zu viel mehr Wohlstand, als es der reale Sozialismus zu bieten hatte. Realisiert worden ist von dem Versprechen so viel, dass die Baltenrepubliken zu Kapitalstandorten geworden sind, bleibend abhängig von Auslandsengagements und dem schwankenden Zuspruch des Finanzkapitals, Standorte, die eine punktuelle Etablierung von Unternehmen zu verzeichnen haben, die auf Weltmarktniveau Produkte und Dienstleistungen vermarkten können – und dann prompt von Weltmarktkonzernen aufgekauft werden. Auf ihren Standorten verbleibt etliches an Lohnveredelung, z.B. billige IT-Ingenieure,[19] daneben eine grassierende Armut und eine ebenso grassierende Emigration.

Der Aderlass an Bevölkerung, die wegen ihrer „inneren Abwertung“ das Weite sucht, beschädigt nicht nur die Attraktivität der nationalen Arbeitsmärkte – die Sanierung treibt u.a. die wertvollsten, weil bestqualifizierten Arbeitskräfte in die Emigration und entvölkert ganze Wirtschaftszonen –, sondern nagt ironischerweise auch an der elementaren Staatsgrundlage Volk, die nun einmal in diesen Staatsgebilden nicht so üppig ausfällt.

„Seit 2000 ist jeder zehnte Lette ausgewandert – davon allein die Hälfte während der dreijährigen Sparphase. Nach vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung leben in Lettland 1,9 Millionen Letten, bislang war man offiziell von 2,2 Millionen ausgegangen.“ (Financial Times, 10.11.11)
„Tatsächlich ergab die jüngste estnische Volkszählung im Frühjahr ein alarmierendes Bild: Erstmals ist die Bevölkerungszahl unter 1,3 Millionen gesunken, seit Anfang der 90er Jahre hat die kleine Baltenrepublik knapp 18 Prozent ihrer Bevölkerung verloren.“ (DW, 18.10.12)
„600 000 Menschen hat das kleine Litauen in den vergangenen zehn Jahren durch Auswanderung verloren, jeden sechsten Einwohner. Das ist, als würde ganz Oberösterreich völlig von Menschen geleert... 3,7 Millionen Menschen zählte Litauen, als das Land 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, bis 2050 werden es eine Million weniger sein, heißt es in den Bevölkerungsprognosen des Statistischen Amtes... So massiv ist der Aderlass bei der Jugend, dass Litauens Durchschnittsalter in nur vier Jahren von 36 auf über 40 Jahre anstieg. Das beeinflusst auch die ohnedies triste Fertilitätsstatistik: 1990 wurden noch 57 000 Babys geboren, 2011 nur noch 34.000, und mit 10,7 Geburten pro tausend Einwohnern liegt Litauen am düsteren Ende der internationalen Ranglisten.“ (Die Presse, 1.1.13)

Ein schöner Erfolg der Politik, die für die Etablierung ihrer völkischen Souveränität keine Kosten und Mühen gescheut hat. Der Genuss einer ganz eigenen Herrschaft fällt offenkundig mehr bei den Herrschenden als den Beherrschten an.

Scharfmacher gegen EU-Krisenopfer und Kronzeugen der deutschen Eurokrisenbewältigung

Die Regierungen hantieren lieber mit einem anderen Erfolg ihrer Austeritätspolitik: Sie beanspruchen mit ihrer EU-Linientreue das Recht, das Maul aufzumachen. Und das Recht nutzen sie weidlich, da ihr großer Traum vom guten Geld, der Eintritt in den Euro in den Zeiten der Krise ironischerweise neue Lasten bedeutet, für sie als erstes zusätzliche Kosten bringt. Bis 2020 aber kostet die neue Währung Litauen etwa 600 Millionen Euro... Den Großteil zahlt das Land dabei für den europäischen Rettungsschirm ESM. (FAZ, 7.4.15)

Umso rabiater treten die Repräsentanten der Baltenstaaten dagegen auf, neue Lasten im Rahmen der europäischen Rettungsschirme zu übernehmen. Wortgewaltig führen sie den Streit um die Kostenverteilung und stellen da penetrant ihre Vorbildlichkeit in den Vordergrund, mit der sie sich an die Regeln gehalten haben. Mangels eigenen Gewichts oder besonderer Potenzen, die sie in die Konkurrenz um Berücksichtigung in der EU einbringen könnten, bleibt nur die Vorbildlichkeit bei der Einhaltung des Finanzregimes, um den Interessen ihrer Länder wenigstens auf dem Weg der Anbiederung an diejenigen in der EU, die diese Regeln verfertigen, zu einem relativen Gewicht zu verhelfen.

Umgekehrt reservieren sie ihre Ressentiments ganz für die Krisenopfer, wollen aus dem Programm der Führungsmächte zur Rettung ihres imperialistischen Projekts Euro samt Euro-Zone nichts anderes heraushören als die unbescheidenen Forderungen der Versagerstaaten. Bei der Hetzkampagne kommen dann die Leiden der eigenen Völker groß heraus – als Rechtstitel auf die notwendigen Leiden anderer Völker im europäischen Süden. Die Chefs dieser Länder streichen eigens heraus, dass die Armutsverhältnisse bei sich zuhause die der Eurokrisenländer immer noch in den Schatten stellen – weniger als unfreiwillige Kritik an ihrer Regierungskunst, vielmehr dient das obszöne Lob der Tragfähigkeit ihrer Völker in Sachen Verelendung dazu, die Ablehnungsfront im europäischen Schacher um die Griechenland-„Rettung“ zu untermauern.

Dass ihr Gezeter außerhalb der eigenen Landesgrenzen überhaupt einmal zur Kenntnis genommen und zu einer gewichtigen Position aufgeblasen wird, liegt nicht an ihnen, sondern einzig an ihrer Eignung als Demonstrationsmaterial dafür, wie sehr die deutsche Linie gegenüber Griechenland berechtigt ist. Sie lassen sich eben als Kronzeugen dafür verwenden, dass die Unterordnung der Eurokrisennationen, allen voran Griechenlands, unter die Konditionen des Rettungsregimes der Eurogruppe zwar hart, aber alternativlos und am Ende sogar lohnend für die in die Pflicht genommene Euro-Mitgliedsnation zu sein hat. Ihre gehässigen Beschwerden über griechische Hallodris werden zu dem Zweck abgefragt, der deutsch geführten Auflagenpolitik für Griechenland die Qualität eines Sachzwangs der reinen europäischen Vernunft zuzusprechen.[20]

Anders sieht es mit der Europatreue der Balten wiederum auf dem Gebiet der Flüchtlingspolitik aus: Sie sperren sich ebenso wie die Visegrad-Kollegen entschieden gegen das Ansinnen der Führungsmacht, europaweit „solidarisch“ (Quoten-)Flüchtlinge zuzuteilen – völlig unzumutbar für Nationen, die ja schon mit der „Integration“ ihrer Russen, d.h. der Bewahrung ihrer nationalen Identität gegen ein Übermaß von Fremdkörpern, völlig überlastet sind.

Das Baltikum: Ein markantes Beispiel für nationale Selbstbestimmung

Die Balten sind stolz auf ihre Unabhängigkeit und die mit ihr erreichten Erfolge. Als Mitglieder in großen supranationalen Organisationen sind sie zwar ganz andere Abhängigkeiten eingegangen, dies aber erstens aus freien Stücken und zweitens mit der Wirkung, dass sie ihrem übermächtigen Rivalen Russland endlich aus einer Position der Stärke gegenübertreten können – auch wenn diese Stärke nur geliehen ist, es daher keineswegs in ihrer Hand liegt, wie sie zum Einsatz kommt. Was die Balten wert sind, wie viel ihre Räson zählt, das hängt ganz an ihrem Nutzen für höhere imperiale Interessen; die können sie gut gebrauchen als Berufungstitel etc., aber auch für die Sicherung des Weltfriedens gegen den Aggressor Russland. Ihren Schutzmächten dienen sie jeweils als Kronzeugen, mal für deren ruinöse Euro-Rettung, mal für deren Russland-Containment. Für mehr Einfluss taugt ihre eigene Machtbasis nicht. Die freien Menschen im Baltikum dürfen erleben, was das jeweils für sie heißt. Immerhin dienen sie mit sensationell niedrigen Löhnen einem sensationell sanierten Standort und bewohnen, soweit sie nicht abgehauen sind, eine vorgeschobene Bastion des westlichen Kriegsbündnisses und den potentiellen Schauplatz einer Konfrontation von Großmächten – das ist doch mal ein schöner Erfolg in Sachen nationale Selbstbestimmung.

[1] 1998 bekräftigen die USA diese traditionsreiche Völkerfreundschaft in einer eigenen Baltic Charter:

 „In Erinnerung an die freundschaftlichen Beziehungen, die die Vereinigten Staaten von Amerika, die Republik Estland, die Republik Lettland und die Republik Litauen seit 1922 kontinuierlich unterhalten;

auch in Erinnerung daran, dass die Vereinigten Staaten die gewaltsame Angliederung von Estland, Lettland und Litauen an die UdSSR im Jahr 1949 niemals anerkannt haben, vielmehr deren Staatlichkeit seit Erringung ihrer Unabhängigkeit als ununterbrochen gültig betrachten, eine Politik, die die Vereinigten Staaten in fünf Jahrzehnten immer wieder bestätigt haben;

in Anerkennung der reichhaltigen Beiträge, die die Einwanderer aus Estland, Lettland und Litauen zur multi-ethnischen Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika geleistet haben, ebenso wie des europäischen Erbes, dessen sich die Vereinigten Staaten als Nutznießer der Beiträge von Intellektuellen, Künstlern und Hanse-Kaufleuten der Baltischen Staaten zur Entwicklung Europas erfreuen;

in Würdigung der Beiträge von US-Bürgern zur Befreiung und zum Wiederaufbau von Estland, Lettland und Litauen...“ (United States of America: Congressional Record, 105th Congress (1997-1998), (Senate – March 18, 1998) A Charter of Partnership among the United States of America and the Republic of Estonia, Republic of Latvia, and Republic of Lithuania, January 16, 1998, thomas.loc.gov)

[2] Nach Kriegsende werden die in Amerika aufbewahrten Volksgruppen durch Bestandteile der Waffen-SS aufgefüllt: Mit der Kapitulation gerieten ca. 25.000–30 000 lettische Militärpersonen in die Kriegsgefangenschaft der Westmächte. Diese wurden 1946 zum Großteil entlassen. Die meisten von ihnen emigrierten später nach Übersee. (Wikipedia)

[3] Ironischerweise war es auch der reale Sozialismus selbst, der wegen seines Bedürfnisses, sich per Pflege und Förderung der Besonderheiten seiner vielen Völker als deren genuine Heimat auszuweisen, für ihr völkisches Selbstbewusstsein einiges getan hat. Mit Menschenketten quer durchs Baltikum demonstrieren die dann ihr moralisches Recht auf Separatismus. Dass sie damit durchkommen, liegt weniger an ihrem erschütternden Gesang, wie es die Legende von der singenden Revolution wissen will, als daran, dass sie zu ihrem Glück auf eine dank der Perestrojka zerrüttete sowjetische Staatsführung treffen, die ihre Macht anders als dann später in Tschetschenien nur sehr zögerlich dagegen setzt.

[4] Auch um die Auswahl des passenden Herrschaftspersonals hat sich Amerika verdient gemacht: Der heutige estnische Präsident Ilves hat sich seine Qualifikationen auf dem antisowjetischen Arbeitsplatz bei Radio Free Europe erworben; andere Kollegen sind direkt aus der baltischen Diaspora in den USA oder Kanada importiert worden, damit in den neuen Staaten auch die nötige Zuverlässigkeit garantiert ist.

[5] Die nordisch-baltische Sicherheitskooperation begann direkt nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991. Beim Aufbau nationaler Militärkapazitäten im Baltikum spielte die Unterstützung von nordischer Seite eine entscheidende Rolle. Das betraf nicht nur Militärgerät, sondern vor allem auch den Transfer von Wissen und Erfahrung. Nordische Ausbilder halfen dabei, militärische Infrastruktur und Standards zu etablieren, etwa in Form der Baltischen Verteidigungsakademie. In der Tat wäre es ohne die nordische Hilfe kaum vorstellbar gewesen, dass die baltischen Länder bereits 2004 in die NATO aufgenommen wurden. (Christian Opitz, Potenziale der nordisch-baltischen Sicherheitskooperation, Stiftung Wissenschaft und Politik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Juli 2015)

[6] Der balten-nationalistische Furor richtet sich im Übrigen ausschließlich gegen Russland, klammert die Zeit der Besetzung durch Nazideutschland dagegen ausdrücklich aus bzw. deklariert die baltische Beteiligung am nationalsozialistischen Feldzug gegen die SU als nationale Befreiung. Bis heute ziehen die Veteranen und Sympathisanten der ehemaligen ‚Lettischen Legion‘ (der Waffen-SS) jedes Jahr am 16. März durch die Innenstadt von Riga. (Wikipedia) Ein Höhepunkt in der Geschichte der (anti)diplomatischen Affronts gegen Russland war die Entfernung eines sowjetischen Kriegerdenkmals. Schließlich kann man die Russen mit nichts besser beleidigen als mit der Bestreitung ihrer antifaschistischen Leistungen im großen vaterländischen Krieg. Siehe Denkmalstreit in Estland. Europa diskutiert seine „Geschichte“ – Anträge zur Umwandlung des sowjetischen Siegs über den Faschismus in eine russische Niederlage inGegenStandpunkt 2-07.

[7] In Litauen gibt es wesentlich weniger, das rechtet seinerseits mit Polen um den Status einer Menge ethnischer Polen herum, die es aus der Zeit geerbt hat, in der es zu Teilen unter polnischer Hoheit stand, benimmt sich da aber wegen der polnischen Rolle in der EU bedeutend zurückhaltender.

[8] Durch diese unversöhnliche Behandlung großer Teile der eigenen Bevölkerung sieht sich mitunter sogar die EU dazu genötigt, im Interesse an nützlichen Beziehungen zu Russland und im Namen ihrer Position als Hüter der Menschenrechte den unablässig vorgetragenen Beschwerden aus Moskau ein bisschen nachzukommen und Ermahnungen an die baltischen Adressen auszusprechen.

[9] Zur Zeit interveniert die estnische Justiz gegen den Bürgermeister von Tallinn: Die Staatsanwaltschaft in Estland hat beantragt, den Oppositionsführer Edgar Savisaar wegen Korruptionsverdachts von der Ausübung seines Amtes als Bürgermeister der Hauptstadt Tallinn auszuschließen. Savisaar führt die estnische Zentrumspartei, die als wichtigste politische Repräsentation der großen russischen Minderheit im Land gilt. (FAZ, 25.9.15)

[10] Kai-Olaf Lang, Die baltischen Staaten vor den Toren von EU und NATO, Politikinformation Osteuropa (Friedrich-Ebert-Stiftung), März 2003, S. 16

[11] Die Euro-Krise bietet da weitere Anreize: Der Euro-Raum ist bald um ein Steuerparadies reicher: Sein nächstes Mitglied Lettland bietet Bedingungen, die den zyprischen verdächtig ähnlich sehen. Manch reicher Russe informiert sich schon, wie man Geld aus Zypern nach Riga schafft... Lettlands Unternehmenssteuersatz liegt mit 15 Prozent inzwischen deutlich unter dem EU-Durchschnitt (23,5 Prozent)... Sogenannte Holdings – also Firmen, die Aktien anderer Firmen halten – genießen in Lettland noch weitere Vorzüge. Seit Anfang 2013 sind ihre Gewinne aus Dividenden und Aktienverkäufen steuerfrei, die Weiterleitung dieser Gewinne in viele andere Länder ist es ebenfalls. Ab 2014 fallen zusätzlich keine Steuern mehr für Zinsen und Lizenzgebühren an, die lettische Holdings ausländischen Firmen zahlen. Durch dieses Konstrukt können Ausländer ihr Geld nicht nur zu niedrigen Steuern in Lettland parken; sie können das Land auch als Brückenkopf nutzen, um Geld aus Europa fast kostenlos in andere Länder zu verschieben. (SPIEGEL online, 10.7.13)

 Dagegen ist dann die EU-Kommission eingeschritten:

Lettland hat nach dem Bericht mittlerweile die Bankenregulierung erheblich verschärft. Jene Banken, deren Geschäftsmodell in der Verwaltung der Einlagen ausländischer (vor allem russischer) Investoren besteht, müssen überdurchschnittlich viele liquide Mittel vorhalten und höhere Kapitalanforderungen als andere Banken erfüllen. Im Zusammenhang mit der zyprischen Bankenkrise war über hohe Geldtransfers von Russland nach Lettland berichtet worden. Die Kommission mahnt die lettische Regierung, die eigenen Anti-Geldwäsche-Gesetze entschlossen durchzusetzen. (FAZ, 4.6.13)

[12] Die baltischen Staaten sind daran interessiert, die Transportströme auf dem bisherigen Niveau beizubehalten oder gar auszubauen, denn für alle drei baltischen Republiken stellt das Transitgeschäft eine immens wichtige Einnahmequelle dar. In Lettland werden schätzungsweise 8–10 % des Bruttoinlandsprodukts durch Transit erwirtschaftet, in Estland 7–9 %, in Litauen 4–6 %. Mit Sorge beobachtet man daher, dass Russland infrastrukturelle Großprojekte initiiert hat, deren Ziel es ist, Transportströme an den baltischen Häfen vorbeizulenken. Die Erstellung neuer Pipelines (sog. Baltisches Pipelinesystem BPS) und Ölterminals (in Primorsk und Ust-Luga bei Petersburg) stellt eine ernste Gefahr für das baltische Transport-Business dar. (FAZ, ebd.)

[13] Die Regierungschefin Lettlands, Laimdota Straujuma: Ich würde den Beschluss aufmerksam prüfen, Russland vom SWIFT-System abzuschalten, denn dieser Schritt würde die Weltwirtschaft lahmlegen. Uns allen wird es schlechtgehen, wenn die Wirtschaft Russlands kollabiert. Die Abschaltung von SWIFT kommt einer Isolierung des Landes gleich. (Sputnik, 29.1.15)

[14] Als besonders besorgniserregend empfinden die US-Verteidigungsexperten die Tatsache, dass die NATO und die USA verschiedenen Berichten zufolge nur bedingt in der Lage sind, Estland und Lettland zu verteidigen. Diese beiden Staaten gelten als die wahrscheinlichsten Kandidaten für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Moskau.“ (DW, 23.9.)

 Die Befunde der Strategen, dass das Baltikum im Ernstfall gegen Russland kaum zu halten ist, taugen in der US-Sicht und Propaganda dann als hinreichender Grund für alles, was sich Amerika unter dem Titel Abschreckung an militärischer Neuaufstellung in Europa vorgenommen hat.

Die Balten schützen... Das Pentagon stellt sich kein Szenario vor, in dem es Russland nicht gelingt, erst einmal ein Stück baltisches Territorium einzunehmen. Das Ziel ist Abschreckung – Verteidigungsminister Ashton Carter hat im Sommer angekündigt, dass die Vereinigten Staaten Dutzende Panzer, Panzerfahrzeuge und Haubitzen ins Baltikum und nach Osteuropa schicken werden – und, falls das misslingt, die mühsame Wiedereroberung von NATO-Territorium. (foreignpolicy.com, Julia Ioffe, September 18, 2015)

[15] Nur wenige Hundert Meter von der russischen Grenze entfernt, aber inmitten des neuen Kalten Krieges, fahren die USA mit Militärpanzern vor. Anlass dafür ist eine Parade zum estnischen Nationalfeiertag. Estland ist seit 2004 NATO-Mitglied. Das Land hat auch eine gemeinsame Grenze mit Russland. Genau dort, an der estnisch-russischen Grenzstadt Narva haben die USA und andere NATO-Staaten am Dienstag eine Militärparade abgehalten. Anlass war der estnische Nationalfeiertag. Zu der Parade waren Soldaten des 2. US-Kavallerieregiments eingeladen worden. Narva ist nur durch einen Fluss von Russland getrennt. Mit Flaggen geschmückt seien die Kampffahrzeuge am Morgen durch die Grenzstadt gerollt. (NTV, Mittwoch, 25. Februar 2015)

[16] Wo der Russe angeblich mit gefährlichster Propaganda Erfolge verzeichnet, darf sich die andere Seite nicht lumpen lassen, was die erwünschte freiheitliche Gehirnwäsche betrifft:

‚Das russische Fernsehen kann nicht mehr als normaler Nachrichtensender oder normaler Journalismus angesehen werden, sondern als Propaganda- und Kriegsinstrument‘, sagt der lettische Außenminister Edgars Rinkevics. ‚Wir müssen der russischsprachigen Bevölkerung eine alternative Informationsquelle anbieten‘, sagt die lettische Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma. Dabei gehe es nicht um Gegenpropaganda, betonen beide. Diesen Anschein müsse die EU auf jeden Fall vermeiden, um sich nicht moralisch angreifbar zu machen, sagt auch Ideengeber Makarovs... Was der lettischen Regierung vorschwebt, ist kein weiterer Nachrichtensender nach dem Vorbild von Euronews, der schon auf Russisch sendet. Es gehe um einen ‚echten‘ Fernsehsender mit Sport und Unterhaltungssendungen, aber eben auch mit akkuraten Nachrichten, sagt Rinkevics. Nur so könne die EU die russischsprachige Bevölkerung wirklich erreichen. Selbst sie schaue schließlich das russische Fernsehen, sagt Ministerpräsidentin Straujuma — wegen der guten Filme. (FAZ, 10.1.15)

Berlin will helfen, russischsprachige öffentlich-rechtliche Sender in den drei Staaten zu gründen. Dazu soll kurzfristig etwa die Deutsche Welle russischsprachige Fernsehbeiträge liefern... Langfristiges Ziel der Bundesregierung ist es, dass russischsprachige Journalisten im Baltikum mit selbstproduzierten Inhalten ihren Bevölkerungen eine pluralistische Gegenöffentlichkeit zum Weltbild des Kremls präsentieren können. Ob die baltischen Regierungen wirklich auf Gegenpropaganda verzichten wollen und auf Pluralismus setzen, ist eine offene Frage. So soll von Montag an der russische Sender ‚RTR Planeta‘ zunächst für drei Monate nicht mehr in Litauen zu empfangen sein. Außenminister Linas Linkevicius beruft sich dabei auf europäisches Recht, was Steinmeier nicht weiter kommentiert. (FAZ, 18.4.15)

[17] Am 27. Juni 2004 traten Estland und weitere zwei der zehn neuen EU-Länder dem Wechselkursmechanismus II im Rahmen des EWS II bei, der erste Schritt, um den Euro einzuführen. Estland, Litauen und Slowenien legten die Leitkurse ihrer Währungen zum Euro fest und verpflichteten sich ab sofort, die Schwankungen unter ±15 % zu halten... Der Kurs ergab sich durch die seit 1993 festgelegte Kopplung der Krone zur Deutschen Mark im Verhältnis 1 DEM = 8 EEK. Estland verpflichtete sich (wie auch Litauen) zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik. (Wikipedia) Lettland folgt 2005.

[18] Als sich in Lettland ein Sturm auf die Banken anbahnte, stand schließlich der IWF vor der Tür – und die Frage, ob die Krisenländer ihre jeweilige Währung, bisher in einem festen Verhältnis an den Euro gekoppelt, abwerten sollen oder nicht. Die Anhänger der Abwertung... argumentierten mit einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit, der Vermeidung einer Deflationsspirale und der Gefahr des Kaputtsparens. Estland und Lettland entschieden sich für die Aufrechterhaltung der Wechselkursbindung. Dies war auch Bedingung für das Hilfsprogramm von IWF und EU. Es gab dafür einen politischen Grund und einen ökonomischen. Für die Balten hatte der Beitritt zum Euro, wie zuvor schon die Mitgliedschaft in EU und NATO, als Vollendung der politischen Westbindung oberste Priorität. (3Sat, 20.1.15)

[19] Ein sowjetisches Erbe, Absolventen der auf Elektronik spezialisierten Universität Tartu repräsentieren inzwischen den genuin estnischen Erfindergeist: „Die Software Skype, die kostenloses Telefonieren über das Internet erlaubt, ist 2003 von drei Esten entwickelt worden; inzwischen gehört das Unternehmen zu Microsoft. Regierungschef Roivas ist auf derselben Linie: Exportieren wollen wir nicht einzelne Programme, sondern die Geisteshaltung. Wir sind ein kleines Land, wir werden nicht die nächste Concorde bauen, aber wir wollen sie designen und die Ingenieure dafür ausbilden. (FAZ, 4.5.15)

[20] Die FAZ macht sich extra auf ins Baltenland, um mit folgender Frage der zuständigen Ministerin die Antwort in den Mund zu legen: „Auf die Frage dieser Zeitung, wie die lettische Regierung den 2 Millionen Letten mit Durchschnittsgehältern von 750 Euro und Renten von 300 Euro erkläre, dass ihr Land Griechenland unterstützen müsse, sagt Wirtschaftsministerin Dana Reizniece-Ozola im Gespräch mit dieser Zeitung: ‚Wir können das den Menschen in Lettland nicht erklären, solange Griechenland keine Reformen unternimmt, die seine Wettbewerbsfähigkeit langfristig verbessern.‘ Solidarität in Europa sei zwar wichtig. ‚Aber Solidarität ist nie einseitig. Es gibt nicht nur die Verpflichtung zu helfen, sondern auch die Verpflichtung des Hilfesuchenden, sein Haus in Ordnung zu bringen.‘...

 Die estnische Finanzministerin Maris Lauri formuliert es ähnlich: ‚Der Euroraum ist ein Beispiel für Solidarität. Alle Länder, ob groß, ob klein, reich oder arm, haben Griechenland, Portugal, Irland, Zypern und Spanien geholfen. Wir erwarten keine Dankbarkeit. Aber es macht uns traurig, wenn es nicht anerkannt wird und nur immer mehr gefordert wird.‘“ (FAZ, 28.2.15)