Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der historische Beschluss zum „Ausstieg aus der Atomenergie“:
Ein pauschal genehmigtes Kernenergiegeschäft mit langfristigen Auslaufperspektiven, die einer zivilen Atommacht alle Optionen offenhalten

Der „Ausstieg“ ist einer, der das Geschäft mit der Kernenergie mit langfristigen Auslaufperspektiven genehmigt- in Kenntnis aller bekannten Schädigungen und Entsorgungsschwierigkeiten. Alle Optionen einer zivilen Atommacht werden dabei offen gehalten. Die Grünen feiern diese energiepolitische Entscheidung als endgültige Erledigung der AKW-Gegner.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog

Der historische Beschluss zum „Ausstieg aus der Atomenergie“:
Ein pauschal genehmigtes Kernenergiegeschäft mit langfristigen Auslaufperspektiven, die einer zivilen Atommacht alle Optionen offenhalten

Geschafft! Die Konsensrepublik atmet auf. Der unsägliche „Streit um den Ausstieg aus der Atomkraft, der die Republik lähmte“, den Atombossen die Lust raubte, in „zukunftsträchtige Arbeitsplätze“ zu investieren, und „gewalttätige Chaoten“ dazu animierte, unschuldigen Polizisten ihr Arbeitsleben auf Castortransporten unnötig schwer zu machen, hat ein Ende. Nach einem 18-monatigen „Verhandlungspoker“ und einem letzten nächtlichen Ringen haben die Manager der Energieindustrie und die Bundesregierung auf die Kilowattstunde genau die „vernünftige Lösung“ (Schröder) gefunden, die das versprochene Programm der rotgrünen Politik, „die Stromerzeugung aus Kernenergie geordnet zu beenden“, mit dem Interesse unserer Nuklearkapitalisten versöhnt, mit ihren Strahlenschleudern Profit und shareholder-value zu produzieren. Der Ausstieg aus „den unverantwortbaren Risiken der Kernkraftnutzung“ (Koalitionsvereinbarung) hat damit sein amtlich besiegeltes verantwortbares Maß erhalten: In etwa noch einmal so viel gewinnträchtigen Atomstrom wie bisher darf unsere Energiewirtschaft mit ihrem abgeschriebenen AKW-Park noch produzieren, bis unter rotgrünen Herrschaftsverhältnissen – vorausgesetzt, die halten einige Jahrzehnte – „unumkehrbar“ Schluss sein soll.

1. Die „weltweit einmalige“ Kernenergiebewirtschaftung geht so: Die vereinbarte Gesamtstrommenge entspricht – die Nation packt den Taschenrechner aus – Regellaufzeiten für die deutschen Meiler von „32 Kalenderjahren bei höchster Auslastung“, die weltweit „mit Reaktoren der hierzulande betriebenen Typen noch nicht erreicht wurden“ (Spiegel). Das muss aber noch lange nicht heißen, daß dann so um 2021 die Herren des Stromgeschäfts endgültig auch noch die letzte Anlage schließen müssen. Dank des „genialen Konzepts“, für jedes AKW eine noch zu produzierende Strommenge festzuschreiben, die als Verstromungskontingent beliebig unter alle Meiler umverteilbar ist, verlängert sich in Zukunft mit jeder Betriebsstörung und verordneten Stillstandszeit ganz automatisch die Betriebslaufzeit der atomaren Produktionsanlage. Die betriebswirtschaftlich optimale Verschiebung der „Restlaufzeiten“ innerhalb des Nuklearparks gibt andererseits Anlass zu jeder Menge Hoffnungen, dass unsere scharf kalkulierenden Atommanager dann ja wohl veraltete Meiler wie Biblis A früher vom Netz nehmen können; denn sie können sich durch dieses Umlageverfahren ja die fälligen teuren Sicherheitsnachrüstungen für den Auslaufbetrieb nicht mehr den Sicherheitsnormen entsprechender Atommeiler sparen, ohne lohnende Produktionsrechte zu verlieren. Rentabilität und Sicherheit gehen im marktwirtschaftlichen System eben doch bestens zusammen; Sicherheit muss sich nur rechnen, dann bleibt das „Restrisiko“ von ganz alleine immer auf dem neuesten Stand. Der technologische „Faden“ darf natürlich auch nicht „abreißen“, weil eine jährliche 5,5%-ige Produktivitätssteigerung bei der auslaufenden Atomstromproduktion fest einberechnet ist. Also muss weiterhin frei und staatlich gefördert herausgeforscht werden können, wie sich die Reaktorökonomie auf Höchstleistung trimmen lässt und wie die Sicherheit das aushält. Die Betriebsgenehmigung einer von Siemens und Framatome fertig entwickelten „Zukunftsoption“ wird allerdings absehbarerweise nur in Frankreich zu erhalten sein. Einem weiteren „Milliardengrab“ ist mit der Vereinbarung auch erfolgreich entgegengearbeitet. Das seit 1988 wegen mangelnder Erdbebensicherheit juristisch stillgelegte AKW Mühlheim-Kärlich wird als Nuklearkapital reanimiert und mit einem Verstromungsrecht von 11 virtuellen Betriebsjahren ausgestattet, die von RWE ganz real in seinen genehmigten AKWs abstrombar sind. Damit dieser flexible Restlaufbetrieb nicht „verstopft“, bis die Voraussetzungen für die künftige direkte Zwischenlagerung des heissen Abbrands geschaffen sind, hat die radioaktive Müllabfuhr mit angeschlossener Plutoniumwirtschaft die nächsten fünf Jahre wieder die nötige freie Fahrt. Ab Herbst dürfen die wegen hochgradiger Strahlenverseuchung seit 2 Jahren stillgelegten Castoren wieder durch Europa rollen. Und nicht nur das. Als kleine Entschädigung dafür, dass sie bei der „Jahrhundertreform“ mitzieht, kriegt die Atomwirtschaft von der rotgrünen Politik die umfassende Zusage, dass die staatliche Sicherheitsaufsicht – anstatt das risikoreiche Gewerbe laufend mit Auflagen zu „behindern“ – künftig „den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung gewährleistet“ (Vereinbarungstext), dass also der Staat seine Aufsichtsgesichtspunkte grundsätzlich zurückstellt: Ein „ausstiegsorientierter“ Gesetzesvollzug, der mit „überzogenen Sicherheitsbedenken“ die Planungs- und Investitionssicherheit in Frage stellt, ist mit risikobewussten rotgrünen Politikern nicht zu machen, wäre das doch ein „Ausstieg auf kaltem Wege“. Statt dessen versprechen sie, „keine Initiative“ zu ergreifen, „mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt auch für das Steuerrecht.“ (Vereinbarungstext) Und damit sich beim Vollzug der Vereinbarung nicht doch noch politische Interessen über die der Energieunternehmen hinwegsetzen, dürfen die Unternehmen sich selber paritätisch mitkontrollieren: Für die „Umsetzung der gemeinsamen Vereinbarungen“ „wird eine hochrangige Arbeitsgruppe berufen, die sich aus drei Vertretern der beteiligten Unternehmen und drei Vertretern der Bundesregierung zusammensetzt.“ (Vertragstext)

Unsere in Atomfragen bekannt kritischen Meinungsbildner sind beeindruckt von der „Eleganz des Atomkonsenses“ (SZ) Sie hören sich bei Cogema, Siemens und den Energieanalysten der Deutschen Bank um und können der Nation die freudige Botschaft übermitteln: „Alle Lichter bleiben an“, die KWU steigt nicht beleidigt aus dem atomindustriellen Geschäft aus, und der Gaswirtschaft steht gar ein Aufschwung ins Haus. Fast schon ein „Ausstieg de luxe“, auf jeden Fall aber ein Kompromiss, der beim Ausstieg aus einer „Risikotechnologie“ kein neues Risiko für das „Rückgrat jeder Industriegesellschaft: die Energieversorgung“ stiftet; der nichts durcheinanderbringt bei den Pfennigen pro Kilowattstunde Strom; der unsere Regierung vor „horrenden Schadensersatzansprüchen“ einer „mächtigen“ Atomindustrie verschont; und der genügend Zeit lässt, für umweltverträglichen und preisgünstigen Ersatz zu sorgen…

So also sieht die neue ökologisch vorwärtsweisende Aussöhnung zwischen den beiden gegensätzlichen Seiten einer mit großem staatlichen Aufwand ins Werk gesetzten nationalen Atomwirtschaft aus – ihren enormen Leistungen und ihrem gleichfalls enormen Schadensrisiko.

2. Was die Leistungen angeht: Der vielfältige nationale Nutzen des Verfahrens, in einem Haufen leicht angereicherten Urans eine „kontrollierte Kettenreaktion“ in Gang zu setzen und zu halten, liegt auf der Hand. Erstens lässt sich jede Menge an privatwirtschaftlichem Gewinn für die nationalen Stromversorger produzieren, nachdem die rotschwarzen Vorgängerregierungen mit knapp 50 Milliarden plus ein paar kostenlosen Atomkraftwerken als Anschubfinanzierung die „unerschöpfliche“ Strom- zu einer leistungsfähigen nationalen Profitquelle entwickelt haben. Zweitens ist die so in die Welt gekommene Atomwirtschaft volkswirtschaftlich ungemein nützlich, weil sie die energetischen Betriebskosten für den Kapitalstandort und sein Wachstum senkt, also das Bestehen in dem „globalen Wettbewerb“ befördert, von dem wir alle leben. Zufrieden verbuchen Energiepolitiker einer „rohstoffarmen Republik“, die in dieser fundamentalen Frage nicht „angreifbar“ und von niemandem „erpressbar“ sein darf, drittens den Zuwachs an Versorgungssicherheit hinsichtlich eines Grundstoffs ihres kapitalistischen Wirtschaftsleben, also das Maß an nationaler Autonomie, die ihnen eine „heimische“ Energiequelle in Gestalt von 19 Meilern und einem fertig entwickelten „nationalen Brennstoffkreislauf“ verschafft hat: Kernenergie trägt zuverlässig und kostengünstig ein Drittel zum nationalen Stromgeschäft bei. Diese Fähigkeit, eine ganze Sorte industrieller Energieproduktion national zu beherrschen und kommerziell zu nutzen, ist viertens die beste Voraussetzung dafür, weltweit seinen Teil zur „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ beizutragen. Eine Nation vom Schlage der BRD steigt schließlich nicht ins Atomgeschäft ein, bloß um billigen Strom für den heimischen Markt im Angebot zu haben, sondern um mit ihren Nuklearartikeln auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein. Mit schwarzrotgoldener Atomtechnik muss sich, genau wie mit den anderen Exportschlagern made in Germany, weltweit Geld verdienen lassen. Die Nachfrage ist vorhanden; welcher zweit- und drittklassige Standortverwalter, der seine „Schwelle“ hin zu einem ordentlichen Kapitalismus überspringen will, möchte nicht in den Genuss und Besitz von deutschen Atomstromfabriken gelangen. Fünftens kann die strategische Macht, die aus der Weltmarktführerschaft von ziviler Atomtechnik erwächst, deren Verbreitung daheim wie auswärts nicht unter das „Nonproliferation“-Regime fällt, für eine Nation, die „freiwillig“ auf die Option einer eigenen Bombe verzichtet hat, nicht hoch genug veranschlagt werden. Was ist schließlich der Besitz einer Atombombe im Vergleich zu der nationalen Fähigkeit, über alle technologischen Mittel ihrer Herstellung zu verfügen, die sich die Republik im Laufe der Zeit nach und nach unter dem Firmenschild „zivil“ zugelegt hat. Zu den Zeiten eines Atomministers Strauß war dieser „duale“ Nutzen eines zivilen bundesdeutschen Atomprogramms übrigens ein nie verleugneter Gesichtspunkt beim kommerziellen Kernspalten im ehemaligen NATO-Frontstaat. Also entscheidet ein weltweit führender Ausrüster bei der kommerziellen „Proliferation“ dieser Güter, sechstens auch darüber, wem diese brisante Technologie zusteht und wem nicht. Auch eine zivile Atommacht erwirbt also mit ihren weltmarktfähigen nuklearen Gebrauchsgütern die exklusive Fähigkeit zur Beaufsichtigung auswärtiger Machtambitionen; deutscher Export ist hier gleichbedeutend mit der Herstellung imperialistischer Kontrollmacht.

Für vorausschauende nationale Energiepolitiker alles in allem also 6 unschlagbar gute Gründe für eine deutsche Atomkraftnutzung! Entsprechend haben sie das Atomprogramm mit all ihrer Macht aufgezogen und vorangetrieben.

3. Die andere Seite, das enorme nationale Schadenspotential dieser „unerschöpflichen“ Energiequelle, liegt gleichfalls auf der Hand und ist von den verantwortungsbewußten Standortpolitikern deutscher Nation nie unterschätzt worden – kein Wunder bei ihrem anspruchsvollen Programm, eine Atombombe auf eine geschäftlich lohnende Energiequelle hin zu modifizieren. Der alltägliche Betrieb der AKWs schließt alle möglichen garantierten Strahlen‚risiken‘ für Mensch und Material ein. Und wenn bei der „kontrollierten Kettenreaktion“ nahe des „kritischen Zustands“ mehr schief laufen sollte als beim Normalbetrieb mit seinen regelmäßigen „Störfallen“ der Kategorien „N“ (Normal) bis „E“ (Eilt) und eine Atomstromfabrik „durchgeht“, dann lässt sich die Strahlenbelastung der Republik nicht mehr einfach in die „natürliche Hintergrundstrahlung“ hineinrechnen. Dann geht ziemlich viel lebendes wie totes Staatsinventar kaputt, und mehr oder weniger große Teile des Standorts D sind auf unabsehbare Zeit nicht nur für das inter-nationale Kapital „unbewohnbar“. Dass diese Sorte Energieproduktion der Nation mehr beschert als nur unendlich viel günstige Elektrizität, war auch schon längst vor dem ersten schwarzrotgoldenen Reaktorexperiment bekannt: einmal abgesehen von den paar im Abbrand auch noch enthaltenen Tonnen Plutonium, fällt eine gewaltige Menge an „schwach-“, „mittel-“ und „hochradioaktivem Abfall“ und damit ein unübersehbares Entsorgungsproblem mit diesen gefährlichen Strahlenquellen an.

Zu ernsthaften politischen Zweifeln an dieser Sorte nationaler Energieerzeugung, geschweige denn zu ihrer Infragestellung hat die von der Atomenergie gar nicht zu trennende Produktivkraft in Sachen Zerstörung und Strahlung jedoch nie geführt. Der Nutzen der Atomkraft für die Erfolgsbilanz eines aufstrebenden bundesdeutschen Staatswesens war dafür zu eindeutig. Also haben „die großen Sicherheitsrisiken mit der Gefahr unübersehbarer Schäden“ ihre sachgerechte Berücksichtigung erfahren, eben als das Problem, einen atomaren Nutzungsbetrieb unbedingt machbar zu machen und die schädlichen Wirkungen auf ein nationalverträgliches „Restrisiko“ herunterzudämmen. Das Verfahren ist bekannt. Noch eine Umhüllung der Strahlung und noch eine „Redundanz“ der „Sicherungssysteme“, bis nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeitskunst die Rechnung der Reaktorsicherheitskommission ergibt, dass der größte anzunehmende Unfall – Harrisburg hin, Tschernobyl her – „praktisch“ ausgeschlossen ist und sich der Normalbetrieb mit seinen diversen Störfällen im Durchschnitt an die großzügig festgelegten staatlichen „Grenzwerte“ hält. Und hinsichtlich der Entsorgungsfrage hat lange Zeit sogar der Standpunkt gegolten, dass die verbrauchten Brennelemente viel zu schade sind fürs bloße Vergraben, weil die „strahlende Erblast“ noch eine Menge atomaren Brennstoff enthält, den es mit einer „Kreislaufwirtschaft“ aufzuschließen gilt, damit die Republik auch beim nuklearen Brennstoffnachschub ein Stück weit autark wird.

4. Nach 30 Jahren haben sich bei dieser nationalen Güterabwägung ganz vorsichtig die Gewichte verschoben, und der Gesichtspunkt des Schadensrisikos konnte in der politischen Verträglichkeitsrechnung in den Rang eines irgendwie doch ernster zu nehmenden Einwandes gegen die Atomkraftnutzung aufsteigen. Dafür war allerdings etwas mehr vonnöten, als der Aufstieg einer „aus der Anti-AKW-Bewegung hervorgegangenen“ grünen Partei, die die „Betroffenheit“ eines AKW-Protests in eine nationale Betroffenheitsfrage überführt und regierungsfähig gemacht hat. Dafür musste sich für die Nation der besagte unabweisliche Nutzen der „unerschöpflichen Energiequelle“ schon auch etwas relativiert haben. An billiger und reichlicher Energie, die „uns“ zu Gebote steht, herrscht seit der Wiedervereinigung und der Befreiung des „Ostblocks“ zu kapitalistischer Benutzung kein Mangel. Wegen des seit längerem „überführten“ internationalen Strommarkts lässt die Nachfrage nach den Verkaufsschlagern unserer Atomwirtschaft national – aber auch weltweit – auch zu wünschen übrig. Außerdem hat die inzwischen fertige zivile Atommacht sich schon vor Jahren – trotz erheblicher Verzichtsbedenken – zu dem Standpunkt durchgerungen, dass sie nicht jede nukleare Option und Fähigkeit, die sie gefördert hat, auch unbedingt national nutzen muss. Das Projekt einer deutschen Wiederaufarbeitung fiel der kostengünstigeren Europäisierung dieses Geschäfts zum Opfer, und für einen störanfälligen Brüter war in den Augen von Politik und Energiewirtschaft letzten Endes dann doch kein zwingender Bedarf mehr vorhanden. Die Entwicklung des europäischen „Zukunftsreaktors EPR“, dessen Betrieb in deutschen Landen mangels Nachfrage schon die alte Vorgängerregierung auf absehbare Zeit keine „Zukunft“ eingeräumt hatte, kam gleich als deutsch-französisches Gemeinschaftsprojekt auf die Welt mit dem Auftrag an die nationalen Nuklearfirmen, ihre Fähigkeiten und Kapazitäten zu bündeln, um schlagkräftiger zu werden im Kampf um das nicht mehr so gewaltig expandierende globale AKW-Geschäft.

Unter diesen Bedingungen hat nicht erst die rotgrüne Regierung öffentlich die Frage gestellt, ob die Nation noch so viel Bedarf nach Kernkraftnutzung und nach einer Fortführung des ganzen atomindustriellen Komplexes hat oder ob sie nicht doch vielleicht einiges an dieser risikoreichen nationalen Energieproduktion einsparen kann. Vorausgesetzt, „das Sterbeglöckchen für eine Risikotechnologie“ ist „der Startschuss für eine große industrielle Revolution“ (Röstel) – von deutschem Boden in die ganze globale marktwirtschaftliche Welt hinaus. Denn unter einem energiepolitischen imperialistischen Aufbruch macht eine Minderung des „Risikos“ auch für die rotgrünen politischen Organisatoren der „historischen Energiewende“ keinen Sinn.

5. Die Relativierung der Nutzenerwägungen, die atomare Option betreffend, ist also nicht gleichbedeutend damit, dass das atomare Risiko nun ein für alle Mal den Ausschlag gegen die atomare Option gegeben hätte. Vielmehr steht mit den vielseitigen Leistungen des Atombetriebs, die sich die Nation auf keinen Fall vergeben darf, auch fest, was die denkbaren Alternativen zu leisten haben – im Prinzip das Gleiche nämlich. Und es steht auch fest, dass sie das so einfach gar nicht zu leisten vermögen. Kein Wunder, dass der beschlossene „Ausstieg“ darauf abgestellt ist, nichts von dem zu gefährden, woran der Nation in dieser Sache gelegen ist. Die Abmachungen haben überhaupt nicht den Charakter eines Eingriffs in die Rechnungen der Atomwirtschaft. Der Betrieb der strahlenden Fabriken wird nicht eingeschränkt, sondern verlässlich auf Dauer gestellt; statt einer Beschränkung erhält das Atomenergiegeschäft eine umfassende Bestandsgarantie – verbunden mit der Perspektive einer langfristigen energiepolitischen Umorientierung, ohne dass auf die ‚atomare Option‘ ganz verzichtet werden soll. Teile des Atomgeschäfts sollen auf jeden Fall im europäischen Rahmen weitergeführt werden. Wenn es sich rechnet, wird ferner künftig verstärkt „schmutziger“ Strom aus Frankreich und der Ukraine importiert; so tragen die ausländischen Lieferanten die Hauptlast des „Risikos“, und die deutschen Lande bleiben im Schadensfall einigermaßen sauber. Dass keine einseitige „Abhängigkeit von Stromimporten“ entsteht, wird durch einen Doppelbeschluss verhindert: Das Atomprogramm wird auf „Halbzeit“ gesetzt, mit allem, was dazu an Forschung nötig ist – insbesondere was die zukunftsträchtige Spitzentechnologie für das Verschrotten von verstrahlten Atomanlagen betrifft. Für die andere Hälfte der „langfristigen“ Versorgungssicherheit wird der erfinderische Geschäftssinn deutscher Kraftwerksbauer stimuliert. Schließlich kommt mit der verstärkten „Förderung regenerativer Energiequellen“ absehbarerweise mehr geschäftlich ausnutzbarer Bedarf für moderne Windmühlen, Solarzellen, Kraftwärmekopplung und Brennstoffzellen in die Welt. Für die ganz langfristigen nationalen Energieperspektiven weiht der Kanzler zur Feier der Vereinbarung außerdem schon mal einen Fusionsforschungsreaktor in Stendal ein, damit ausprobiert werden kann, ob sich in fernerer Zukunft Wasserstoffatome nicht lohnend fusionieren lassen; ob das strahlungsärmer ist, wird sich beim Experimentieren schon zeigen. Auf jeden Fall kann Rotgrün damit „dem Verfall der Kernkompetenz“ langfristig entgegensteuern. „Kurz- und mittelfristig“ heisst es für die rotgrünen „Umsteiger“, auf den bewährten Mix und die mit der Zone angeschlossenen „reichen Braunkohlevorkommen“ zurückzugreifen. Bis die energetischen Geschäftsartikel von morgen weltmarktreif sind, muss der Rückgang der heimischen Nukleargeschäfte für die demnächst mit Framatome fusionierende KWU logischerweise durch eine mit Hermesbürgschaften abgesicherte deutsche Exportoffensive wettgemacht werden. Die nationalen Verantwortungsträger von der Opposition befürchten freilich dennoch Schlimmes in Sachen Sicherheit der internationalen Atomkraftwerke, die nach einem Ausstieg ohne uns stattfindet (Wiesheu, CSU), weil die dafür nötigen Angebote an deutscher nuklearer Spitzentechnik auf Auslaufbetrieb gesetzt sind. Angedeutet ist damit immerhin, was vom nationalen Standpunkt aus dann doch gar nicht so leicht verdaulich ist an den konstruktiven rotgrünen ‚Ausstiegs‘-Perspektiven: die Frage der strategischen Fähigkeiten, des Status einer zivilen Atommacht, den die BRD sich verschafft hat und keinesfalls aufgeben will. Folglich darf auf keinen Fall auch nur ein nuklearer Besitzstand einfach abgeschafft und unwiederbringlich weggeworfen werden. Ein Musterbeispiel: die längst stillgelegte Hanauer Plutoniumfabrik, aus der sich noch nach 10 Jahren strategisches Kapital schlagen läßt. Durch ihren Export nach Russland soll sie demnächst ein gutes Abrüstungswerk vollbringen und russisches Raketenplutonium unumkehrbar in strategisch unschädliche MOX-Brennstäbe für „unsere“ AKWs umwandeln. Mit der unter Risikogesichtspunkten besonders schwer handhabbaren „Plutoniumwirtschaft“ lässt sich aber garantiert Schluss machen, falls die Franzosen und Briten „entschädigungsfrei“ mitziehen. Den deutschen Müll in deren Wiederaufarbeitungsanlagen recyclen zu lassen, das ist natürlich ein einziger aufwendiger „Irrweg“, nachdem sich die Nation dazu entschlossen hat, in ihrem Abbrand nur mehr eine kostengünstig zu entsorgende Strahlenlast zu sehen.

Bleibt die Frage, was sich eigentlich geändert hat mit dem „Ausstiegs“-Beschluss. An der nationalen Geschäftsordnung in Sachen Energiepolitik und Energiegeschäft jedenfalls nichts Wesentliches. In der Sache wird nichts beschlossen, was nicht sowieso im Rahmen der üblichen Aufsicht und Planung ohnehin nötig ist: die fälligen politischen Betriebsvorschriften sowie Laufzeitenregelungen für die nationalen Stromfabriken und die nach inzwischen Jahrzehnten Atombetrieb dringlicher gewordene Regelung der Frage der Lagerung des Abfalls. In all diesen Belangen wird nichts einfach dekretiert, sondern alles im vollsten Einvernehmen mit der Atomwirtschaft geregelt. Der damalige Verzicht auf die Wiederaufbereitungsanlage war jedenfalls ein größerer Eingriff in die laufende Atomwirtschaft und hat mehr Umstellung von ihr verlangt als der jetzige „Ausstiegs“-Beschluss. Und auch die politischen Rahmenrichtlinien für eine gewandelte energiepolitische Zukunftsplanung bewegen sich ganz im Rahmen einer ohnehin fälligen Diskussion über vorausschauende Weichenstellungen unter den Auspizien der erreichten nationalen Freiheit bei der nationalen Energieversorgung. Die Abmachungen vollziehen eher den gewandelten Stellenwert nach, den der atomare Energiebetrieb mit seiner fertigen Einrichtung in dieser Republik inzwischen hat, als dass sie ihm irgendeinen neuen Status zudiktieren.

All diese Regelungen und Planungen sind aber in einer eigentümlichen Form beschlossen und verkündet worden, nämlich als Verständigung über ein einvernehmliches allmähliches Auslaufen des umstrittenen Atombetriebs. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die mehr als vagen Absichtserklärungen in diese Richtung zwar an alle Fragen rühren, wie es um den Status Deutschlands als Atommacht künftig bestellt sein soll, aber ohne dass hier wirklich unwiderrufliche Weichenstellungen getroffen würden. Projektiert ist eine allmähliche Umstellung der bisherigen energiepolitischen Schwerpunktsetzung, von der nicht einmal klar ist, wie sie genau aussehen soll; von der nur soviel feststeht, dass sie einen endgültigen und vollständigen Verzicht auf die atomare Option nicht beinhalten soll. Und nicht einmal diese Vorentscheidung für eine langfristige Umorientierung ist definitiv beschlossene Sache; in dieser Hinsicht wissen die nationalen Verantwortungsträger, was ihre Herrschaftsform leistet: In einer Demokratie ist nichts unumkehrbar. (Staatssekretär Baake). Also halten sie es auch für ihre Pflicht, nicht durch praktische Eingriffe vollendete Tatsachen zu schaffen und eine künftige Revision oder Modifikation der aktuellen Beschlusslage zu verunmöglichen.

Geändert hat sich aber dank der Form der energiepolitischen Beschlüsse doch etwas Entscheidendes: nämlich die nationale Auseinandersetzung um die Kernenergie. Indem dem weiterlaufenden Atombetrieb eine mehr als vage politische Auslaufperspektive mit auf den Weg gegeben worden ist, ist dieser jahrelange politische Streitfall, ohne dass ihm beschränkende Auflagen gemacht worden wären, mit einer neuen gesellschaftlichen ‚Akzeptanz‘ versehen, so dass die Vertreter des Atomgeschäfts, ohne sich lächerlich zu machen, verkünden können, dass „die Kernenergie weiter Zukunft hat und nicht mehr strittig ist in dieser Republik“ (RWE-Chef Kuhnt). Dafür hat die Partei, die einmal aus dieser AKW-Bewegung hervorgegangen ist und sich zur Regierungsverantwortung emporgearbeitet hat, mit den jetzigen Abmachungen gesorgt.

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Und dazu steht sie auch. Der „historische Atomkonsens“ Teil zwei ist eine Woche später perfekt. Auf dem „Schicksalsparteitag“ von Münster verkünden die grünen Chefaussteiger nach zwei Stunden das Ende der „kleinmütigen Debatte“ (Fischer), ob mit diesem Ausstieg „das Projekt einer Generation“ (Trittin) wirklich schon fertig ist: „Das ist der Ausstieg. Es gibt nur diesen Ausstieg und keinen anderen.“ (Trittin) Da heißt es für die Parteibasis, auch wenn es „schmerzt“, schleunigst zuzulangen, um den größten anzunehmenden Unfall zu verhindern, den eine aus der „Anti-AKW-Bewegung hervorgegangene Partei“ so kennt: „Wir haben die Wahl zwischen 32 Jahren Laufzeit und 32 Jahren Opposition.“ (Trittin & Co.) Also lässt man sich auch als Fundi, der sich beim langen Marsch vom „Sofortausstieg“ hin zu dem einzigen Ausstieg, der geht, mit der Forderung nach 30 Jahren Restlaufzeit bis auf zwei Jahre herangekämpft hat, jetzt das letzte überzeugende Angebot einleuchten: „32 Jahre Regellaufzeit kann man auch so übersetzen, dass in 20 Jahren 20 Kernkraftwerke abgeschaltet werden.“ (Trittin). Das in der Atomfrage so „tief gespaltene“ Parteifußvolk nickt „mit überwältigender Mehrheit“ den geschichtsträchtigen „Kompromiss“ ab. Von da an steht der Feier nichts mehr im Wege. Die befürchtete „Zerreissprobe“ gerät zur einzigartigen Jubelveranstaltung, dass „20 Jahre Kampf gegen Atomkraftwerke“ (Künast) sich gelohnt haben: Der „AKW-Protest“ ist an seinem Ziel und ein „ganzer Lebensabschnitt der Grünen“ (Fischer) in Erfüllung gegangen. So feiern die Grünen enthusiastisch ihre historische Leistung, dass die aktuellen energiepolitischen Entscheidungen im Gewand eines Atom-Ausstiegsprogramms, also als endgültige Erledigung der Anliegen einer verflossenen Protestbewegung daherkommen. Damit hat sich umgekehrt jeder Protest erledigt. Die Frage, ob die Republik ihre atomare Option ganz aufgeben oder ob sie sie – und wenn, in welcher Form – weiterpflegen soll, wird also die Republik weiter begleiten, aber ziemlich sicher ohne dass darüber erschreckte und aufgeschreckte Bürger wie vormals in Bewegung geraten – also mit aller demokratischen Freiheit der Politik, die ihr passende Antwort zu beschließen.