Das neue Arbeitszeitmodell von VW
Zuviel Kapital – weniger Arbeit – mehr Armut

Angesichts der Krise setzt VW als Nutznießer des Standorts auf eine sozialverträgliche Methode der Senkung seiner Lohnkosten: Arbeitszeit- und Lohnkürzung zwecks Einbindung in die Betriebsheimat statt Massenentlassung. Gemäß der Logik des ‚Instruments‘ Zeitlohn wird Unterbeschäftigung zur Normalbeschäftigung, damit die Trennung von Arbeit und Arbeitslosigkeit, von Arbeit und Pauperismus aufgehoben.

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Das neue Arbeitszeitmodell von VW
Zuviel Kapital – weniger Arbeit – mehr Armut

Deutsche Betriebe führen mit Massenentlassungen und Betriebsschließungen täglich vor, daß sich die Anwendung von Arbeit im bisherigen Umfang nicht mehr lohnt. Diese Sachlage hat Politik und Wirtschaft zu einer Debatte über Arbeitszeit und Lohn angestachelt – mit eindeutiger Botschaft: Wenn die Arbeitskraft für das Kapital unbrauchbar geworden ist, dann ist das ihre Schuld. Die Arbeiter kosten für die Unternehmen zuviel und leisten für deren Gewinn zuwenig. „Die Deutschen müssen bereit sein, mehr und billiger zu arbeiten!“ – so Kohl, Rexrodt und Co. So, aber auch nur so, wäre der Mißstand der Massenarbeitslosigkeit aus der Welt zu schaffen.

Der Diagnose aus dem Kanzleramt hat ein renommierter deutscher Konzern ein praktisches Dementi entgegengesetzt. Eine realistische Beurteilung der Lage, so VW, gebietet nicht das Einfordern von mehr Arbeit, sondern von weniger. Zur Bewältigung der krisenhaften Geschäftslage projektiert VW ein neues „Arbeitszeitmodell“, das die Reduktion von Arbeitszeit und Lohn der VW-Belegschaft um 20% vorsieht.

Seit das „Alternativmodell“ in der Welt ist, hat die Debatte um die national nützlichste Handhabung der Arbeitszeit erst recht Aufschwung genommen. „Ein falsches Signal“ finden die einen, eine „Notlösung, geboren aus der Krise“, die die Überwindung der Krise eher verbaut als erleichtert. Einen „realistischen Ansatz angesichts wachsender Arbeitslosigkeit“ sehen die anderen und möchten das Modell von VW auf die ganze Wirtschaft übertragen. Einig sind sich alle Wortmeldungen in einem: Noch viel entschiedener als bislang muß die Arbeit nach Preis und Einsatz dafür haftbar gemacht werden, daß auf dem Standort Deutschland der Gewinn des Kapitals wieder stimmt.

Mehr Arbeit!

Der moralische Appell der Regierung „Arbeitsvolk, sei fleißig und bescheiden, damit das Kapital wieder wächst!“ blamiert sich, sobald er als ökonomisches Argument ernstgenommen wird. Wer will sie denn überhaupt, die viele billige Arbeit? Was sollen die 4 Millionen „arbeiten“, die das Kapital gerade ausgestellt hat? Ihre Arbeitskraft ist offenkundig nicht für weniger Geld, sondern überhaupt nicht verkäuflich: Das Angebot, sie bei gesenktem Lohn und längeren Arbeitsstunden in ihren Diensten zu halten, haben deutsche Betriebe ihren Massen gar nicht gemacht. Und wenn es dazu käme, würde die Arbeitslosigkeit nicht schrumpfen, sondern noch mehr wachsen: Die Bereitschaft für einen Lohn die Arbeit von zwei Arbeitern zu verrichten, würde den Unternehmern noch mehr Beschäftigte und Löhne ersparen. Eine scheinbar sachgerechtere Fassung dieser Moral lautet: Wenn diejenigen, die jetzt noch arbeiten dürfen, billiger und länger arbeiten, könnten später wieder mehr Leute beschäftigt werden. Aber nicht einmal im bürgerlichen Lager wird das für glaubwürdig gehalten; dort herrscht nämlich die Auffassung, daß es sich bei dem, was das Kapital derzeit betreibt, um „dauerhaften Stellenabbau“ handelt, der durch späteres Kapitalwachstum nie mehr kompensiert werden wird. Es bleibt dabei: In Millionenzahl sind und bleiben Leute, die über keine andere Einkommensquelle verfügen als den Verkauf ihrer Arbeitskraft, für das Geschäft ihrer Anwender unbrauchbar.

Die Schuldzuweisung an die Abhängigen des Geschäfts: „An euch liegt’s, ob es mit dem Standort vorangeht“, ist eben keine ökonomische Diagnose. Denn wenn es an den Preisen der Produktionsfaktoren liegen soll, daß deren Einsatz fürs Kapital nicht mehr lohnt – warum gilt für die Preise von Maschinen, Gebäuden, Grundstücken nicht ebenfalls, daß sie „zu teuer“ sind, also billiger werden müssen? Die Unternehmen legen ja nicht bloß bislang genutzte Arbeitskraft still, sondern fällen auch über andere, für den Gewinn getätigte Auslagen das gleiche Urteil: nicht lohnend. Warum soll für sie das Argument nicht gelten, das in Bezug auf die Arbeitskraft im Umlauf ist?

Solche Einfälle, wenn sie denn einmal aufkommen, gelten als unsachgemäß. Die Gewerkschaft etwa hat die Schuld an der „Kostenkrise der deutschen Wirtschaft“ nicht nur dem Lohn, sondern auch dem Wechselkurs der DM anlasten wollen. Ihre Gesprächspartner von der Unternehmerseite lehnen diese Schuldzuweisung glatt ab, nicht ihren Gehalt: Das mit dem Wechselkurs mag ja stimmen, aber:

„Die Kostenrechnung der Unternehmen interessiert sich nicht dafür, woher die Kostensteigerungen kommen, sondern nur, wie sie sie in den Griff bekommen kann.“ (Kirchner, Necker u.a.)

Eine deutliche Auskunft: An den für Maschinen, Gebäude, Rohstoffe und Vorprodukte verausgabten Kosten gibt es für den Unternehmer nichts zu rütteln und also auch nichts zu kritisieren. Diese Vorschüsse sind ebenso notwendig wie fix. Notwendig, weil der Stand der Konkurrenz vorgibt, welche Maschinerie sein muß; und fix, weil „der Markt“, d.h. andere Unternehmer ihren Preis fordern und nicht so leicht davon abgehen. Die Lohnkosten dagegen, die für den Betrieb der produktiven Anlagen anfallen, gelten als lästiges Wegzahlen von Geld, an dem nichts notwendig ist. Denn auf der anderen Seite dieses Handels steht nicht ein Verkäufer, mit dem von gleich zu gleich um Preis und Leistung verhandelt werden müßte, sondern ein Überangebot an armseligen Figuren, die auf den Verkauf ihrer Ware existentiell angewiesen, also erpreßbar sind. Am Lohn, den der Unternehmer zahlt, und an der Leistung, die er verlangt, kann er drehen – also gilt ihm die gekaufte Arbeit nach ihren beiden Seiten als das Mittel, seinen übrigen Kapitalvorschuß lohnend zu machen; ja er tätigt diesen ganzen Vorschuß nur, weil und wenn er darauf rechnen kann, durch entsprechend billige und leistungsbereite Arbeiter in den Verkaufspreisen seiner Waren den getätigten Vorschuß mit Gewinn zurückzubekommen.

Der im Kapitalvorschuß steckende Anspruch auf Verwertung gilt dank der Macht der Unternehmer, ihn gegenüber der abhängigen Klasse durchzusetzen, als ein Sachzwang: Die „Kostenrechnung“ diktiert Preis und Einsatz der Arbeitskraft. So sehr, daß die stetig wachsenden Kapitalvorschüsse für Produktionsanlagen nie die Frage aufwerfen, ob sie nicht allmählich für den freien Unternehmer zu teuer werden. Die hohen Kosten für die schönen Automaten, deren Betrieb immer weniger Arbeit braucht, begründen immerzu wachsende Ansprüche gegenüber dem Arbeiter: Er muß sich die Erlaubnis, an dem horrend teueren Arbeitsplatz arbeiten zu dürfen, mit vermehrter Leistung und verminderten Lohnansprüchen verdienen.

Auf diesen Sachzwang beruft sich die öffentliche Moral, wenn sie der zu teuren, zu wenig leistungsfähigen Arbeit die Schuld am Mißlingen des deutschen Kapitalwachstums in die Schuhe schiebt. Ignorant dagegen, daß das Kapital mit genau den Löhnen und Arbeitszeiten, die heute als unzumutbares Anspruchsdenken gegeißelt werden, gestern noch satte Gewinne eingefahren hat, tut die öffentliche Moral so, als seien die Arbeiter die Subjekte ihrer Ein- und Ausstellung; als hinge es von ihrem Willen ab, welchen Preis ihre Arbeit erzielt und welchen Gewinn sie dem Unternehmer verschafft. Ob die „Rettung des Standorts Deutschland“ gelingt, soll von der rechten Einstellung der menschlichen Manövriermasse des Geschäfts gegenüber dessen Erfordernissen abhängen. Die Arbeitszeitdebatte kommt ganz ohne ökonomische Argumente aus; denn sie dreht sich nur darum, welches Maß an Fleiß und Bescheidenheit sich das Arbeitsvolk zulegen muß, damit sein Dienst am Kapital wieder die erwünschten Wirkungen zeitigt. „Wären sie bereit, für 20% weniger Lohn kürzer zu arbeiten?“, fragt Emnid für den Spiegel – und die Leute antworten, als ob sie wirklich gefragt würden: Ca. 60% des deutschen Volkes sind einverstanden.

Das ist die demokratische Art, eine Klasse zum Dienst an der anderen abzukommandieren: Ihr wird die Verantwortung fürs Gelingen des nationalen Programms zugeschoben, dessen Wirkungen sie ausbadet, dessen Erfolg aber nicht in ihrer Macht liegt. Das ist einerseits ganz sachgerecht: Ein anderes Mittel als die lebendige Arbeit haben die Kapitalisten für den Wiederaufschwung der Gewinne wirklich nicht: Nur dadurch, daß sie an diesem Kostenfaktor sparen und das gekaufte Arbeitsvermögen rücksichtsloser nutzen, können sie ihren Vorschüssen wieder Überschüsse entlocken.

Andererseits gelingt gerade das gegenwärtig nicht. Die Kapitalisten können mit verstärkten Diensten ihrer Beschäftigten nichts anfangen, weil sie deren Arbeitsprodukte nicht mehr gewinnbringend und teilweise gar nicht mehr verkaufen können. Insofern ist der Appell des Kanzlers, seine Forderung nach Fleiß und Bescheidenheit der arbeitenden Leute kein Vorschlag, durch dessen Beherzigung das Management deutscher Betriebe seine Rechnungen wieder auf eine solide Grundlage stellt. Noch weniger ist diese Neufassung des Maßhalte-Appells vom Glauben beseelt, daß die Lohnabhängigen mit ihrer Einstellung zu Lohn und Leistung die Herren und Lenker des Arbeitsmarkts wären und darüber entscheiden, wieviel von ihnen arbeitslos werden. Der flammende Aufruf an die Produktivkraft Moral reduziert sich auf die Mitteilung, daß die Arbeitskräfte der Nation für den Ausweg aus der Krise geradestehen müssen.

Weniger Arbeit

Gegenüber dem Moralismus entschlossener Krisenbewältigung durch mehr Arbeit kommt der Vorstoß des VW-Konzerns zur 4-Tage-Woche geradezu als Inbegriff von ökonomischem Realismus daher. Der Sachzwang der Krise, so der VW-Vorstand, verlangt andere, neue „Lösungsmodelle“:

„Die VW-AG hat angesichts der Marktlage und der Produktivitätssteigerung Ende 1995 nur noch einen Personalbedarf von 71 800 Vollzeitbeschäftigten, gegenüber 103 200 Ende dieses Jahres.“ Deshalb plant VW „eine Reduzierung der Arbeitszeit um 20% auf 28,8 Wochenstunden, die auf vier Tage aufgeteilt werden sollen, während die Werke 5 Tage in Betrieb sind. Dieses Modell könne je nach Produktionserfordernissen variiert werden. Da kein Einkommensausgleich vorgesehen ist, sollen die Einkommenseinbußen auf Jahresbasis 16 – 20% betragen. Dieses Modell möchte der Vorstand bereits Anfang 1994 einführen.“ (Personalchef Hartz lt. Handelsblatt 28.10.93)

Wohltuend ist der Unterschied zwischen dieser Kalkulation und der Litanei von den Deutschen, die wieder fester zupacken sollen, sicher nicht – aber erheblich. Auch das Management von VW ist zu dem Schluß gekommen, daß sich wegen der Krise, in der das Unternehmen steckt, am Einsatz der Arbeiter einiges zu ändern hat, und zwar auf ihre Kosten. Allerdings nimmt das Modell seinen Ausgang beim Bedarf des Unternehmens, den es aus der Marktlage und seinen Kapazitäten errechnet, wobei letztere aufgrund von Produktivitätssteigerungen für die Betriebsleitung durchaus zufriedenstellend ausfallen – und das ist das Gegenteil von der Klage, die Belegschaft ließe es an der nötigen Leistungsbereitschaft fehlen. Hier legen Praktiker der Marktwirtschaft nüchtern dar, daß und wie sie darüber befinden, in welchem Maße Arbeiter in deutschen Landen ihren Fleiß zu Geltung bringen.

Die Rationalisierungswut, mit der VW schon seit Jahren seinen Beitrag zum Standort Deutschland abliefert, hat schlicht ihr Werk getan. Sie war darauf berechnet, durch weniger Arbeit und mehr Leistung den Umfang der Produktion zu steigern – was auch gelungen ist. Nicht so gelungen ist der ertragreiche Verkauf der Waren; die Kosten-Gewinnrechnung, die mit der Produktivitätssteigerung verbessert werden sollte, ist nicht aufgegangen. Deswegen ist nun auch ein ansehnlicher Anteil der produktiver gemachten Arbeit nicht mehr rentabel. Eine Absage an die Rationalisierung, das Mittel für den Geschäftserfolg, hat VW daraus nicht abgeleitet. Wohl aber seine Nachfrage nach bezahlter Arbeit gründlich eingeschränkt.

Das ist durchaus konsequent. Der Gewinn, für den das Unternehmen VW alles tut und ohne den es keines mehr wäre, wird auch künftig über den Verkauf seiner Produkte auf dem Markt erzielt. Im Preisvergleich mit den Waren der Konkurrenten wird auch weiterhin ermittelt, ob und in welchem Umfang VW seine Autos absetzen kann. Und das Verhältnis zwischen Kosten und Überschuß, das der Betrieb dann beim Bilanzieren des Absatzerlöses ermittelt, ergibt sich demnächst wohl kaum aus einem „Gesetz“ von Angebot und Nachfrage sowie aus einem „Aufschlag“, den sich die Verkaufsabteilung zu verlangen erlaubt, nachdem sie die Einkaufspreise der „Produktionsfaktoren“ studiert hat. Umgekehrt entscheidet sich wie bisher schon an der kostengünstig organisierten Produktion, ob der erzielbare Marktpreis der Autos einen „Aufschlag“ auf die Gestehungskosten enthält.

Deshalb geht es bei der „Reduzierung der Arbeitszeit“ mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt auch gleich um die Lohnkosten – also um dasselbe wie bei Entlassungen. Während diese das Kunstwerk der Rationalisierung krönen – die Umstellung auf neue Technik und Arbeitsteilung erspart mit den freigesetzten Arbeitskräften deren Bezahlung –, das die Lohnstückkosten senkt, weil weniger Leute unter den veränderten Arbeitsbedingungen dasselbe und mehr produzieren, rationiert das „Modell“ den Lohn. Als teilweise „Verhinderung von Entlassungen“, also als zeitgemäße Bemühung um soziale Vernunft verkauft, läßt diese Regelung keine Zweifel darüber aufkommen, wozu sie eine Alternative darstellt. Aber das ist bei sozialen Maßnahmen ja nichts Neues – erst werden die Schadensfälle geschaffen, dann die Opfer geschäftsdienlich zugerichtet und betreut.

Die sozialverträgliche Notlösung des Kapitals: Beschäftigung statt Lohn

Neu an der Initiative von VW ist vielmehr, daß der Gesichtspunkt der „Beschäftigung“, der als wohlfeile Ideologie den marktwirtschaftlichen Umgang mit der Lohnarbeit begleitet, Einzug hält in die Kalkulation eines bedeutenden Unternehmens. Zu einem Zeitpunkt, da sich sogar die Bild-Zeitung anschickt, öffentlich daran zu zweifeln, ob „unsere“ Unternehmer es darauf abgesehen haben, „Arbeitsplätze“ zu schaffen, lassen sich die Funktionäre des VW-Kapitals allen Ernstes auf die Überlegung ein, ob sich die von den Rechnungen des Betriebs her gebotenen Entlassungen nicht wenigstens zum Teil und ausnahmsweise vermeiden lassen. Sie besichtigen die Welle von Massenentlassungen, an der sie erheblich mitwirken, in ihrer Eigenschaft als Herren und Nutznießer eines Standorts. Als solchen sind ihnen die Wirkungen des eigenen Geschäfts tatsächlich nicht gleichgültig. Wenn es feststeht, daß die kassenmäßige Bewirtschaftung von Millionen überflüssigen Lohnabhängigen mit den herkömmlichen Instrumenten nicht mehr gewährleistet ist; wenn ihnen der bürgerliche Verstand von Politikern und Journalisten glaubwürdig versichert, daß die zu bleibender Armut verurteilten Massen zwar nicht revolutionär, aber zu nicht mehr berechenbaren Irrläufern werden, die sich an der wohlgeordneten Stabilität des öffentlichen Lebens vergehen – dann sehen sich die Mitglieder des Vereins, der als „die Wirtschaft“ eingetragen ist, schon einmal herausgefordert. Bloß wie!

Erstens so, daß sie geprüft haben, ob das „Beschäftigen“ mit der Grundrechnungsart ihres Unternehmertums verträglich ist, nach der nur rentable Arbeit stattfindet und einen entsprechenden Lohn wert ist. Dabei ist herausgekommen, daß ziemlich viele der Arbeitsplätze, die sie bislang zu ihren Kapazitäten zählten, nichts taugen.

Zweitens so, daß sie sich selbstkritisch gefragt haben, ob sich rentable Arbeit nicht wenigstens teilweise anders organisieren läßt, als sie es bislang getan haben. Und dabei sind sie fündig geworden – und zwar ganz ohne gewagte Schritte, wie sie zu Zeiten des gesellschaftlichen Fortschritts bisweilen große Neuerer auszeichnen. Sie haben entdeckt, daß ihnen in der marktwirtschaftlichen Einrichtung des Arbeitslohns ein Instrument zu Gebote steht, das manche alternative Handhabung erlaubt.

Mit diesem Instrument hat es nämlich so seine Bewandtnis, wie die postwendend vorgelegte und dann auch bestätigte Rechnung des Unternehmens zeigt. 20% weniger Arbeitszeit ergeben – „natürlich“ – 20% weniger Lohnkosten, weil man ja grundsätzlich nach Arbeitszeit bezahlt. Ein paar zusätzliche Rechnereien schließen sich an – die diesen „kühnen Schritt“ nicht begründen, sondern seine Modalitäten betreffen: Da Massenentlassungen unterbleiben, fallen keine Sozialpläne und Abfindungszahlungen an. Da die verkürzte Arbeit nicht als Kurzarbeit im arbeitsamtlichen Sinn gilt, entstehen weder dem Arbeitsamt Ausgaben für Kurzarbeitergeld noch dem Unternehmen Kosten für die bislang üblichen Zuzahlungen. Auf Grundlage dieser relativen Kostenersparnis kann die Leitung mit sich darüber reden lassen, ob die Lohnanpassung nach unten überall und schlagartig volle 20% betragen muß.

Denn das stand für die mit der Gnade der Weiterbeschäftigung bedachten Arbeiter sofort fest: Weil und wenn der Lohn gleich bleibt, ist er gefallen. Wegen des Lohnes, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, sind sie auf „Beschäftigung“ angewiesen, aber von dem entfällt erst einmal ca. ein Fünftel, was sogleich zu einer Debatte darüber führt, ob nicht die bislang zu den Tarifen der unteren Lohngruppen Beschäftigten jetzt mit der Not Bekanntschaft machen. In einer Maßnahme, durch die sich ein Unternehmen ausdrücklich auf den Standpunkt der Erhaltung seiner Arbeitskräfte stellt, relativiert es mit seinen Geschäftsbedingungen seine Fürsorge recht gründlich. Ausgerechnet unter dem Titel der Rücksichtnahme auf die Notwendigkeiten, denen Lohnabhängige unterworfen sind – sie brauchen einen Arbeitsplatz, siehe Arbeitslose! –, definiert ein deutscher Konzern, woran sich die Erlaubnis, von Lohnarbeit zu leben, heute bemißt. In quasi gewohnheitsrechtlicher Berufung auf die „gerechte“ Form der Bezahlung macht VW den Lebensunterhalt auch und gerade von Beschäftigten vom Bedarf abhängig, den das Geschäft nach ihren Leistungen anmeldet.

Das funktioniert deshalb so zuverlässig, weil der Arbeitslohn zwar für den Lebensunterhalt des Arbeiters gezahlt wird, aber nur dann, wenn seine Arbeit aufgrund ihrer Produktivität, also seine Leistung die Anlage von Kapital rentabel macht. Deshalb gibt es den Preis der Arbeit, in dem die Zahlung an den Geschäftserfolg „gebunden“ ist.

Der Lohn ist die Geldsumme, mit der das Unternehmen sich verfügbare Kräfte kauft. Es nimmt den Lohnarbeitern ja nicht ein von ihrer Person unterschiedenes, mit einem Preis versehenes Tagewerk – oder Stunden- oder Monatswerk – ab, es kauft nicht eine von den „Arbeitnehmern“ definierte, kalkulierte, zu Fix- oder Dumpingpreisen angebotene „Dienstleistung“, geschweige denn ein Produkt, sondern zahlt für die Freiheit, über das Arbeitsvermögen seiner Dienstkräfte nach seinen Kalkulationen und Bedürfnissen und gemäß seinen technischen Mitteln zu verfügen. Der gesamte Inhalt der Arbeit wird vom Unternehmen mit seinen Produktionsmitteln vorgegeben, einschließlich Arbeitsteilung, Organisation und Leistungsanforderungen an jedem Arbeitsplatz; es ist gar keine konkrete Arbeit, die der Mensch seiner Firma „anbietet“ und für Lohn verkauft, sondern das, was in dem geläufigen Ausdruck „unselbständige Arbeit“ mehr angedeutet als ausgedrückt ist. Der Lohn bezahlt die Arbeitskraft im abstraktesten Sinn: den Menschen als einen, der gemäß betrieblichem Bedarf täglich von neuem bei seinem „Arbeitgeber“ antritt und erledigt, was dieser als „Arbeitsplatz“ einrichtet und als Arbeitspensum definiert. Sich als Arbeitsvermögen in diesem abstrakten Sinn erhalten: das muß der Mensch mit seinem Lohn allerdings auch hinbringen können; nicht mehr und nicht weniger. Der Lohn ist die Geldsumme, die das Unternehmern aufwenden muß, um ihn als verfügbare Kraft zu reproduzieren.[1]

Seine Aufgabe für den „Arbeitgeber“ hat er damit noch nicht erfüllt. Für dessen Rechnung ist der Unterhalt eines Lohnabhängigen nur eine Bedingung. Und noch nicht einmal eine, die er nach irgendwelchen ethischen, medizinischen oder ernährungsmäßigen Grundsätzen erfüllt. Das kommt daher, daß er der Arbeit dauerhaft einen Dienst abverlangt, der mit der Erhaltung von Arbeitskräften nichts zu tun hat und ihr sogar entgegensteht. Die „Beschäftigung“, die er organisiert, hat sich in Produkten niederzuschlagen, die ihm erstens gehören, zweitens einen Preis erzielen, der Gewinn einbringt. Damit sich diese „Produktivität der Arbeit“ einstellt, werden die Arbeitsstunden und -tage entsprechend organisiert – und der Lohn als Kost auf sie berechnet.[2] In der Verpflichtung auf rentable Arbeitsstunden ist freilich über die Anzahl der geforderten bzw. gewährten Stunden nicht entschieden. Wieviel davon gebraucht werden, ist eine Frage der geschäftlichen Konjunkturen, die einen Arbeiter einerseits nichts angehen, andererseits seine „Einteilung“ von Arbeitszeit und Freizeit und die seines Geldes bestimmen.

In dieser Form der Bezahlung verschafft sich der kapitalistische „Arbeitgeber“ die Garantie, daß er sein Geld für nichts anderes hergibt als für den durchkalkulierten Nutzeffekt, den er aus seinen Arbeitskräften zieht, und zwar je nach der Zeitdauer, die diese ihm Produkte, also – quasi – Geld schaffen. Was die Arbeitskraft, nämlich ihre dauernde Verfügbarkeit, also ihre Reproduktion kostet – der eigentliche ökonomische Inhalt der Lohnzahlung –, das nimmt dadurch die verquere, für den lohnzahlenden Interessenten aber ungemein passende Gestalt eines Preises der pro Zeiteinheit Wert produzierenden Arbeit an. Vom Inhalt, den der Lohn nach wie vor hat – eben der notwendige Aufwand des Unternehmens dafür, sich seine Arbeitskräfte für seinen Bedarf immer wieder hinzustellen –, wird auf diese Weise total abstrahiert. Der lohnzahlende Unternehmer dispensiert sich grundsätzlich von jeder Rücksicht auf die Frage, ob den beschäftigten Individuen ihre Reproduktion als einsetzbare Arbeitskraft mit dem verdienten Lohn überhaupt gelingt. Die haben zu schauen, daß sie mit den zusammengezählten „Preisen“ ihrer pro Tag, Woche und Monat geleisteten „Arbeit“ täglich bis monatlich über die Runden kommen. Darauf, daß die Summe auch nur einigermaßen reicht, haben sie keinerlei Recht – außer dem, das sie sich gegen das Unternehmerinteresse verschaffen; erst recht haben sie dafür keinerlei Garantie – außer ihrem Geschick, sich einzuteilen. Das alles folgt daraus, daß die Abstraktion von den Reproduktionskosten der Arbeitskraft zum Prinzip ihrer Bezahlung gemacht ist.

Und das hat Folgen. Zum Beispiel die gar nicht bloß ideologische, daß „Arbeit“ und „Lohn“ Synonyme geworden sind und Lohnarbeiter sich besser stellen, wenn sie länger arbeiten: Gerade als Unselbständige brauchen sie längere Inanspruchnahme ihrer Arbeitskraft, wenn sie mit den Sorgen ihres Lebensunterhalts besser zurechtkommen wollen. Umgekehrt ist kürzere Beanspruchung ein Unglück, weil das nach der sturen Logik des Zeitlohns den Lebensunterhalt unmöglich macht. Und so etwas in dieser Richtung wird jetzt bei VW organisiert. Um dazu Marx das Wort zu geben:

„Wird der Stundenlohn in der Weise fixiert, daß der Kapitalist sich nicht zur Zahlung eines Tages- oder Wochenlohns verpflichtet, sondern nur zur Zahlung der Arbeitsstunden, während deren es ihm beliebt, den Arbeiter zu beschäftigen, so kann er ihn unter der Zeit beschäftigen, die der Schätzung des Stundenlohns oder der Maßeinheit für den Preis der Arbeit zugrundeliegt. Da diese Maßeinheit bestimmt ist durch die Proportion ‚Tageswert der Arbeitskraft‘ dividiert durch ‚Arbeitstag von gegebener Stundenzahl‘, verliert sie natürlich allen Sinn, sobald der Arbeitstag aufhört, eine bestimmte Stundenzahl zu zählen… Der Kapitalist kann jetzt ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit aus dem Arbeiter herausschlagen, ohne ihm die zu seiner Selbsterhaltung notwendige Arbeitszeit einzuräumen. Er kann jede Regelmäßigkeit der Beschäftigung vernichten und ganz nach Bequemlichkeit, Willkür und augenblicklichem Interesse die ungeheuerste Überarbeit mit relativer oder gänzlicher Arbeitslosigkeit abwechseln lassen.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, S. 568).

Wegen dieser Schönheiten der Bezahlung pro Zeit waren gesetzliche und tarifliche Schranken der freien Handhabung von Stundenlohn und Lohnstunden nötig, um der Nation und ihren Geschäftsleuten eine halbwegs intakte Arbeiterschaft zu sichern. Zwar wurde die Bezahlung pro Zeit nie verboten, also auch nicht das Jonglieren mit der Arbeitszeit je nach Geschäftslage, aber es gab einen „Normalarbeitstag“ und einen geregelten Umgang mit Abweichungen – nach oben wie nach unten.

Die Definition eines Normalarbeitstags setzte für „normale“ Beschäftigungsverhältnisse eine Untergrenze der Lohnsenkung durch Stundenminderung; die „unnormalen“, die es auch noch gibt, hießen nicht umsonst „Teilzeitarbeit“, womit ausgedrückt ist, daß deren Verdienst zum Leben gar nicht reichen soll. Und für Überstunden, die einen extra Verschleiß der Arbeitskraft bedeuten, sind im Sinne einer gerechten Kompensation Sonderzahlungen üblich. So, aber auch nur so, ist bisher anerkannt, daß der Lohn nicht nur als Kostenfaktor des Betriebs, sondern auch als Reproduktionsmittel der Arbeiterklasse taugen muß.

Dieser Normalarbeitstag zwingt den Unternehmer zu nichts – außer zum Kalkulieren: Entweder er beschäftigt seine Leute voll oder gar nicht oder als offizielle Teilzeitarbeiter, oder er beantragt die Ausnahmeregelung namens Kurzarbeit. Die Belegschaft kürzer als normal arbeiten zu lassen und entsprechend geringer zu bezahlen, wird bislang staatlich wie tariflich als Notmaßnahme behandelt; die Lohnkürzungen werden über Kurzarbeitergeld partiell kompensiert, manche Betriebe wie VW stocken diese Zahlungen bis zu 90% des Nettolohns auf. Wenn bezahlte Arbeit aber auf Dauer überschüssig ist, werden nach Maßgabe des 8-Stundentages in entsprechendem Umfang Arbeiter auf den Arbeitsmarkt entlassen und gar nicht mehr bezahlt.

Eine gewerkschaftsnahe Form des Arbeitsplatzabbaus

Schon vor 10 Jahren hat die IG-Metall die wachsende Arbeitslosigkeit als eine „falsche Verteilung der Arbeit“ diagnostiziert und durch Umverteilung dieses knappen Guts, d.h. durch Arbeitszeitverkürzung kurieren wollen. Sie ignorierte dabei systematisch, daß es so etwas wie „Arbeit“, ein festes Quantum und eine – gelungene oder weniger gelungene – Verteilung davon im Kapitalismus überhaupt nicht gibt. Die Unternehmer verteilen keine Arbeit, sondern können Arbeit brauchen, die sie auf ihren Bedarf zurichten, und zahlen dann und nur dann einen Lohn, von dem der Arbeiter lebt und den er sich einteilt. Ohne dieses Verhältnis zum Preis, der sich als lohnende Kost für den Gewinn bewähren muß, gibt es einfach nichts zu tun. Selbstverständlich kommt dadurch irgendeine Teilung der Arbeitsbevölkerung in Beschäftigte und Arbeitslose zustande, aber „Arbeit verteilt“ hat dafür niemand; und „anders verteilen“ kann sie schon gleich niemand.

Die Gewerkschaft stellte sich diesem Faktum auf die wohlfeile Art, daß sie gar ein Problem darin sah, die beschränkt angebotene Arbeit gerecht auf alle Köpfe zu verteilen, die ihrer bedürfen – und andererseits ein kleines Zusatzproblem anerkannte: Bei der Frage der Bezahlung war das Teilen der „Arbeit“ schwieriger! Das regelte die IG-Metall per Kompromiß: Sie verrechnete mögliche Lohnzuwächse gegen Arbeitszeitverkürzung, bestand aber immerhin noch auf dem Zusammenhang von Normalarbeitswoche und Normallohn: Voller Lohnausgleich hieß das. Bei VW wurde der Lohn für vorher 40 Stunden auf 36 Stunden bezogen, der Wochenlohn nicht gekürzt, der Stundenlohn also entsprechend erhöht. VW erkaufte sich dafür die Freiheit zum flexiblen und entsprechend intensiveren Einsatz der Arbeit. Die Arbeitswoche von 36,6 Stunden wurde zur rechnerischen Durchschnittsgröße: Wie lange oder kurz ein Arbeiter pro Tag und Woche tatsächlich zu arbeiten hat, ist zu einer puren Funktion der Schichtpläne geworden. Die 36,6-Stundenwoche existiert als weithin frei auf das ganze Arbeitsjahr aufteilbare Stundensumme.

Im Vergleich mit den Flexibilisierungen, die im Zeichen der 35-Stunden-Sonne eingerissen sind und die ja auch schon einiges von dem Zusammenhang von festem Lohn und fester Arbeitszeit aufgelöst haben, ist der Vorstoß von VW revolutionär. Die Firma gibt der Gewerkschaft einmal recht: Man kann – ausnahmsweise und vorübergehend – die Nachfrage nach Arbeit, die VW lohnend findet, wie einen Arbeitszeit-Topf betrachten, der neu verteilt werden kann – aber nur, wenn auch der Lohn, den die Firma zahlen will, als fixer, unter den Beschäftigten aufzuteilender Lohnfonds genommen wird. Natürlich ist an diesem Fonds überhaupt nichts fix – die Firma erlaubt diese Deutung der Sachlage ja nur, weil sie den gezahlten Lohn gerade um 20% drücken will. Dazu bekommt sie die Zustimmung der IG-Metall, die in der radikalen Lohnkürzung nicht die arbeiterfeindliche Konsequenz der Bindung ihres Lebensunterhalts an den Geschäftserfolg ihrer Anwender sieht, sondern eine vielleicht nicht ideale, aber doch konsequente Verwirklichung ihrer alten 35-Stunden-Agitation: Vor dem Hintergrund des einzigen noch anerkannten Übels des Kapitalismus, der wachsenden Massenarbeitslosigkeit, gilt ihr die Verteilung der reduzierten Löhne auf alle Köpfe als schiere Vernunft, die entstehenden „Lohnfragen“ als „regelbar“. Dafür räumt sie jetzt aktiv viel von dem „in Jahrzehnten erkämpften“ Regelwerk ab, auf das die deutsche Arbeitervertretung stets ihren Stolz gegründet hatte.

VW macht sich also die Logik des Zeitlohns zunutze und befreit sich von den gesetzlichen und tariflichen Schranken seiner Handhabung, die bisher als notwendig galten. Als Normalarbeitswoche gelten demnächst nicht mehr 36,6 sondern 28,8 Stunden. Der neue „Normallohn“ ergibt sich aus der Multiplikation der bisher gezahlten Stundenlöhne mit der abgesenkten Stundenzahl.

Das setzt auch sonst neue Standards und schafft neue Freiheiten: Unterbeschäftigung ist nun Normalbeschäftigung. Das Maß an Unterbeschäftigung, das Kompensationsansprüche, also Kurzarbeitergeld, begründet, ist neu festgesetzt, wenn nicht abgeschafft. Auf dieser Basis kommen noch ganz andere, womöglich zusätzliche Formen der Arbeitszeitverkürzung in den Blick: Die Vier-Tage-Woche soll kein neues festes Arbeitszeitmaß werden, sondern der Ausgangspunkt für phantasievolle Gestaltungsmöglichkeiten: Teilzeit, Flexibilisierung, „Qualifizierungsurlaub“ usf.: Kann man nicht auch Leute nur ein 3/4 Jahr arbeiten lassen und den Lohn dafür aufs Jahr verteilen?

Einen Anspruch der Belegschaft auf Rückkehr zur Vollzeitbeschäftigung mit „Normallohn“ gibt es nicht. Ebensowenig aber Anspruch darauf, daß hinfort das, was der Betrieb für Lohn übrig hat, auf eine fixe Belegschaft aufgeteilt wird. Der angepeilte neue Werktarifvertrag wird auf 2 Jahre terminiert, aber wohl kaum, weil irgendjemand glaubt, dann würde VW die Beschäftigten wieder voll für den Gewinn brauchen können, sondern weil VW auf dem Ausnahme- und Versuchscharakter dieser Maßnahme besteht und kein Recht gegen sich entstehen lassen will. Im Prinzip richtet sich eben auch bei VW die Nachfrage nach Arbeitskräften, Arbeitszeit und Lohnhöhe nach dem Bedarf des Betriebs und nicht nach sozialpolitischen Modellen. Der Konzern hat halt doch nicht der „Lohnfonds-Theorie“ recht gegeben. Er befreit sich einmalig von einem riesigen Posten der Lohnkosten und macht die Beschäftigten auf diese Weise für Fortschritte bei der Produktivität ebenso wie für Schwierigkeiten beim Verkauf haftbar. Er macht überflüssige Arbeiter lohnend, indem er ihnen aufzwingt, nurmehr die für die Firma lohnenden Arbeitsstunden zu verrichten. Die für den Lebensunterhalt der Arbeiter nötigen Stunden kommen nicht mehr zustande.

Der reaktionäre Sinn sozialer Fürsorge: Einbindung statt Geld!

Die von VW gewählte Form der Streichung von Lohnkosten hat gegenüber ihrer Alternative, den Massenentlassungen, einen entscheidenden Vorzug, und der ist gesellschaftspolitischer Art. Die Firma stellt sich, so sieht sie es, einer Verantwortung für das große Ganze, die der private Unternehmer nicht ignorieren darf – gerade weil es bei seinem Geschäft darauf ankommt, daß er mit Kosten und Gewinn frei kalkulieren kann.

Angesichts der Dimensionen, in denen nicht nur der VW-Konzern derzeit Beschäftigung abbaut, erscheint es ihm verantwortungslos, Arbeitskräfte zu heuern und zu feuern, ohne die Wirkungen auf das soziale Umfeld und die Region zu berücksichtigen – immerhin waren die ordentliche und friedliche Arbeiterschaft, funktionierende Städte und stabile politische Verhältnisse ein Grund für den weltweiten Erfolg des Standorts Deutschland. VW stellt sich seiner Mitverantwortung für ein kapitalfreundliches Umfeld nicht erst seit heute: Ganz Wolfsburg als „sozialer Ort“ ist vom Verkehrswesen über den Wohnungsbau bis zur Arbeitsweise des Stadtparlaments schon immer als Anhängsel des VW-Geschäfts organisiert gewesen; die in Wolfsburg ansässigen Menschen liefern VW den Nachwuchs, den der Betrieb für wechselnde Erfordernisse benötigt. Die Arbeitsverhältnisse im Betrieb selbst sind ein Muster funktionierender Sozialpartnerschaft. Damit ist VW gut gefahren. Und dabei soll es auch bleiben, wenn die Zeiten härter werden und der Betrieb nicht umhinkann, seine schlechten Bilanzen der Belegschaft und der Region als weitere Verarmung aufzuhalsen.

Die aufgeklärten Sozialtechnologen aus dem Personalbüro betrachten Arbeitslosigkeit als Ordnungsproblem: die Armut, die sie stiften, finden sie problematisch nicht wegen der Schwierigkeiten, die sie ihren Opfern macht, sondern wegen der Schwierigkeiten, die im Fall des Falles diese Opfer machen. Dabei denken die Personalpolitiker so wenig wie ihre Opfer daran, daß diese sich angesichts der Perspektiven, die dieses System ihnen zu bieten hat, antikapitalistischen Parolen zuwenden könnten. Sie sind sich einfach sicher, daß Leute ohne Einkommen verlottern, verwahrlosen, ein kriminelles und rechtsradikales Potential werden. Dem will der Konzern gegensteuern, wenn er anbietet, die Leute „in Arbeit zu halten“, auch wenn er sich von 20% ihrer Löhne verabschiedet. Es geht nicht um das materielle Leben der Leute, oder es geht um dieses nur als Basis ihres staatsbürgerlichen Funktionierens, wenn sie zwar kaum mehr verdienen dürfen, als was sie sonst an Arbeitslosengeld bekämen, aber eingebunden bleiben in den Rhythmus des Arbeitslebens, das soziale Umfeld und seine Betreuungsleistungen. VW pflegt den Willen seiner Abhängigen, sich zusammenzunehmen, die gewohnte Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten und sich in den Bahnen des Erlaubten zu bewegen – und zwar deswegen, weil der Grund, dies zu tun – so kommt man durchs Leben und zu einem ordentlichen Einkommen –, immer schlechter wird. Es liest sich fast schon wie ein Witz, wenn Hartz bekennt, er wolle den „Mitarbeiter im Sympathiekreis des Unternehmens halten, auch wenn er nicht beschäftigt wird“ –, als ob es noch andere Gründe für die Anhänglichkeit der Lohnabhängigen an den Betrieb gibt als das Geld, das sie brauchen. Aber das ist programmatisch: Betriebsheimat statt Lohn; Zusammenhalten in der Not statt Ausgrenzung; Volksgemeinschaft statt Ellbogengesellschaft.

Das Ende der 2/3-Gesellschaft – wieviel Armut ist zumutbar?

Bisher hatte es das grandiose System der Lohnarbeit zur Trennung der lohnabhängigen Bevölkerung in „Arbeitsplatzbesitzer“ und Millionen Arbeitslose gebracht. In der Phrase von der 2/3-Gesellschaft steckt ein Kompliment und ein Tadel für den bundesdeutschen Kapitalismus: Das Kompliment besagt, daß es denen, die Arbeit haben und durchschnittliche Löhne beziehen, „gut geht“, weil sie bezahlen können, was ihr durchschnittliches Leben kostet. Der Tadel besagt, daß dieser Wohlstand eine Schattenseite aufweist: die unsolidarische Ausgrenzung des letzten Drittels, das, weil es keinen regulären oder gar keinen Arbeitsplatz hat, mitten im Wohlstand in echter Armut leben muß. Wegen des enormen Wachstums dieses Volksteils hat VW dem sozialen Vorwurf der Ausgrenzung recht gegeben und die Trennung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, von Arbeit und Pauperismus ein Stück weit aufgehoben: Arbeit und Armut sind kein Gegensatz, wie ihn das bundesdeutsche Selbstbild so stolz vor sich hergetragen hatte, sondern gehören zusammen.

Die Fragen und Rechnungen, die das neue Beschäftigungsmodell provoziert hat, verweisen darauf, daß alle Beteiligten wissen, daß das großartige Sozialwerk, das sie da in Angriff nehmen, zuallererst eine Senkung des Lohnniveaus bedeutet, die alle bisherigen Formen des Auskommens infrage stellt.

Geht das überhaupt, von einem Normallohn 20% wegzustreichen? Können die Leute von dem, was da übrig bleibt, leben? Nicht zu Unrecht wälzen Bild und Talkshows in ganz Deutschland diese Frage – und auf einmal gehört es zum guten Ton, öffentlich vorzurechnen, daß auch die „hohen deutschen Löhne“, die bisher für Vollzeit gezahlt wurden, nach den Steuer- und Beitragserhöhungen der letzten Jahre, angesichts von Mietsteigerungen und Inflation für viele Familien richtige Armut bedeuten. Auf einmal ist die Frage, ob der Lohn reicht, öffentlich anerkannt – und damit bekennt sich die Nation nicht etwa zu irgendeinem Anspruchsdenken, sondern – entgegen allen ihren alten Ideologien über Leistungslohn und gerechte Bezahlung – zu Marx’ Begriff „Wert der Ware Arbeitskraft“, gerade weil der Lohn diesen Wert nicht mehr bezahlt. Was der Lohn ist und leisten muß, wird zum Problem und Ideal: Er sollte für das Nötige reichen; mehr nicht. Die Leute sollten, wenn es irgend geht, über die Runden kommen. Von Lebensqualität, Teilhabe am Reichtum oder am Betriebserfolg – von all den alten Lügen ist nicht mehr die Rede. Auch die Volkswagen AG, die die bisherige Normalität gerade entscheidend unterschreiten will, stellt sich der Frage, ob das geht. Und sie tut auch etwas dafür, daß „es“ geht – natürlich ohne Geld, das wird im Interesse des Gewinns ja gerade eingespart.

Der Sorge, daß die Beschäftigten mit ihren geminderten Bezügen über die Runden kommen, wird erstens durch rein optische Maßnahmen entsprochen: Eine 20%ige Kürzung der laufenden Monatseinkommen – da erhebt die Gewerkschaft Einspruch – ist nicht zumutbar, zu große Teile davon sind fest verplant und nicht verfügbar. Aber die Arbeitervertretung ist auch konstruktiv: Die anstehende 3%ige Lohnerhöhung bietet sie schon gleich mal zur „Verrechnung“ an. Das Geld fehlt niemandem, keiner hat sich daran gewöhnt – es stand bisher noch nie auf dem Lohnstreifen. Man kann auch die betrieblichen Sonderzahlungen zu Weihnachten und für den Urlaub streichen und um diese Beträge die Monatslöhne schonen; auch das merkt man nicht so oft, nur ein-, zweimal im Jahr. Übertarifliches, ohnehin „Unnormales“ kann man auch prima drangeben, wenn dafür beim „Normalen“ weniger geblutet werden muß. Es gilt jetzt gar nichts mehr, daß es für Lohnerhöhung, Weihnachts- und Urlaubsgeld einmal gute Gründe gegeben hat. Unpassend erscheint der Einwand, daß es schon egal ist, ob man die immergleiche Kürzung des Jahreslohns so oder so berechnet und umlegt. Es geht offenbar darum, den Leuten ihre Verarmung so einzuteilen, daß sie von Monatsende bis Monatsende zahlen können.

Die zweite Sorge darum, daß „es“ auch mit 20% weniger geht, ist nicht nur optisch. Sie geht auf soziale Auswahl und beruht auf der Entdeckung, daß VW erstens in den verschiedenen Lohngruppen bisher schon sehr ungleiche Löhne gezahlt hat, daß zweitens aber auch gleiche Löhne ganz verschiedene Lebensnotwendigkeiten bezahlen müssen: Man kann den unteren Lohngruppen nicht 20% streichen, ohne die Leute in die Gegend des Sozialhilfesatzes zu drücken; wenn nicht – worauf ja auch spekuliert wird – das Arbeitsamt für die halben Arbeitslosen etwas drauflegt. Auch ein Einkommen in den mittleren bis guten Lohngruppen, das den Familienvater schon längst auf das Notwendigste einschränkt, läßt dem Single noch Spielraum – der müßte nicht sein. Daß sich Menschen in ihrer privaten Lebensführung bestimmte Kosten – für Frau und Kind, Verschuldung fürs Häuschen – nicht aufgebürdet haben, daß mit dem Erwachsenwerden der Kinder gewisse Freiheiten beim Haushaltsgeld, das vorher für mehr Mäuler reichen mußte, einreißen – alles das entdeckt der soziale VW-Konzern als Sparpotential, auf das er zugreifen kann, ohne die lebensnotwendigen Funktionen des Lohns gleich zu ruinieren.

„Gradmesser sei die Zumutbarkeit, die in jedem Einzelfall zu klären sei. Es sei ferner zu beachten, welche Auswirkungen Entlassungen auf die Region hätten und wie das soziale Umfeld des Mitarbeiters aussehe.“ (Hartz, FAZ 9.11.93)

Was man den unteren Lohngruppen, was man dem Familienvater, der sich schon mit vollem Lohn nichts mehr „leisten“ kann, nicht wegnehmen kann, das geht bei anderen.

„Als zweite Möglichkeit nannte Hartz die Einführung einer flexiblen Jahresarbeitszeit, die etwa acht bis neun Monate umfassen könnte, während der Rest für Qualifizierungsmaßnahmen genutzt wird. Hier denke man etwa an die 37% Unverheirateten in der Belegschaft und die 30 000 Beschäftigten im Alter von bis zu 30 Jahren. Schließlich sollen als dritte Variante flexible Arbeitszeiten eingeführt werden, etwa über eine tägliche Verkürzung der Arbeitszeit oder die Einführung von Blockzeiten für Arbeitnehmer bis zu 30 oder ab 50 Jahren. In diesem Zusammenhang verwies Hartz darauf, daß VW junge Leute über den eigenen Bedarf hinaus ausbildet.“ (HB 28.10.93)

Der Personalchef kann sich vorstellen, Lehrlinge, die ohnehin noch nie einen richtigen Lohn bekommen, sich also auch nicht darauf eingestellt haben, nach ihrem Abschluß mit einer Arbeitszeit von anfänglich 4 Stunden pro Tag zu übernehmen und sie erst im Laufe von vier weiteren Jahren in die Rolle des richtigen Lohnempfängers hineinwachsen zu lassen; die Alten können mit Minderarbeit wieder hinauswachsen und schon im Berufsleben das Konsumniveau des Rentnerhaushalts vorwegnehmen. Hinterher sinken sie nämlich noch einmal ab und kassieren – berechnet auf ihre Minderbeschäftigung – die Minderrente.

Das System des Sozialstaats am Ende – so oder so!

Die sozialpolitische Neuerung von VW – Arbeitszeit- und Lohnkürzung statt Massenentlassung – führt eine neue Methode ein, die Arbeiterklasse für den Unterhalt der vom Kapital nicht benötigten Arbeitskräfte aufkommen zu lassen. Schon bisher hat der Lohn der Nation für die Arbeitslosen mit reichen müssen; über die Nürnberger Zwangskasse hat der Staat allen Arbeitnehmern einen Teil ihres Lohns – und den Arbeitgebern einen anderen Teil ihres Lohns – für den Unterhalt der Erwerbslosen abgenommen und sie zu Mitgliedern einer Solidargemeinschaft ernannt. Bei VW sollen nun die Beschäftigten die Arbeitslosigkeit als partielle gleich auf sich nehmen und die finanziellen Lasten der Erwerbslosigkeit ohne den Umweg über Kassen und Beiträge tragen, die deswegen natürlich ebensowenig wegfallen wie die Millionen Arbeitslosen, die Deutschland schon zählt.

Insofern ist das VW-Modell ein Angebot zur Schonung der ohnehin überlasteten Kassen und zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionsfähigkeit: VW entläßt weniger Leute; sie bleiben der Nürnberger Anstalt als Beitragszahler erhalten, statt ihr als Arbeitslosengeldempfänger auf der Tasche zu liegen; zugleich fällt Kurzarbeitergeld für die normal gewordene Kurzarbeit nicht mehr an.

Andererseits ist die Überwindung der Trennung von Arbeit und Arbeitslosigkeit, die VW organisiert, keine Lösung der Schwierigkeiten der Sozialkassen, sondern Indiz dessen, daß die Grundlagen ihres bisher geläufigen Funktionierens entfallen sind. Die Arbeiterklasse ist als ganze für alle Formen der Unbrauchbarkeit von Arbeitern für das Geschäft – Alter, Krankheit, fehlende Nachfrage – herangezogen worden, solange und sofern diese Unbrauchbarkeit eine Ausnahme, die überwiegende Benutzung und Bezahlung der Arbeiterschaft die Regel war. Wenn aber die Nichtbenutzung der Arbeitskräfte durchs Kapital überhand nimmt, oder wenn wie bei VW die Trennung von Arbeit und Armut eingeebnet wird, dann ist dem auf Ausnahme berechneten „System der sozialen Sicherheit“ der Boden entzogen.

Die 4/5-Beschäftigten und teilweisen Arbeitslosen, die VW schafft, kommen – und das sagt schon alles – in Bezug auf die Sozialkassen doppelt vor: als Leistungsempfänger und als Beitragszahler! Firma und Gewerkschaft versuchen die Kassen anzuzapfen, damit die aushelfen, wo aus Beschäftigten gleich Sozialfälle werden; z.B. in den Qualifizierungsphasen, beim Übergang in die Rente und bei den niedrigen Lohngruppen. Arbeits- und Sozialminister Blüm geht darauf ein, aber nicht so, daß er einen auch nur teilweisen Ausgleich der Lohneinbußen anbieten würde. Er weiß, daß die Arbeitszeitkürzung bei VW keine Arbeitsplatzgarantie ist, daß die Beschäftigten also außer mit dem Lohn stets mit dem Arbeitslosengeld kalkulieren müssen. Er wäre bereit, übergangsweise und einmalig „Hemmungen abzubauen“, die sich einstellen bei der Aussicht auf ein Arbeitslosengeld, das auf Minderbeschäftigung berechnet wird.

„Ich könnte mir vorstellen, daß man eine Hemmung des Umstiegs von der Vollerwerbsarbeit in die Teilzeitarbeit gesetzlich abbaut. Viele Vollerwerbstätige … würden zwar zur Teilzeit umsteigen. Aber sie haben Angst, daß der Teilzeitarbeitsplatz wegfällt und sie dann ein Arbeitslosengeld bekommen, das nur halb so hoch ist. Man würde manche Hemmung abbauen, wenn man in einer einmaligen „Tür-auf-Aktion“ für begrenzte Zeit den Umstieg dadurch erleichtern würde, daß man den Arbeitslosengeldanspruch aus dem alten Arbeitsplatz vorübergehend beibehält. Das halte ich im übrigen auch für eine Möglichkeit, die Vier-Tage-Woche bei VW zu erleichtern.“ (Blüm im SZ-Interview 13.11.93)

Gerade weil diese Verarmung beim gezahlten Arbeitslohn über das System der Sozialkassen zur lebenslangen wird, bietet Blüm Hilfen zum Abgewöhnen von „Besitzstandsdenken“. Die Beschäftigten sollen sich auf Status und Lebensstandard des Minderbeschäftigten einstellen. Hierin – nämlich in der Betreuung des Abstiegs in die Armut – sieht Blüm die bleibende Funktion des Sozialstaats. Jedoch fragt sich, ob er mit solchen Angeboten überhaupt auf der Höhe der Probleme ist.

Dieselben Beschäftigten, die er als Sozialfälle betrachtet, kalkulieren die Kassen nämlich als Beitragszahler – und zwar als unbrauchbare: In dem Maß, in dem unterbezahlte Minderbeschäftigung normal wird, kommen die Beiträge und ihre Finanzmasse überhaupt nicht mehr zustande, die es für die bisher bekannte Organisation des Sozialwesens braucht. Wachsende Defizite in den Arbeitslosen-, Renten- und Krankenkassen verhindern ihr weiteres Funktionieren im bekannten Maßstab. Die Bundesregierung denkt nicht daran, die Defizite auszugleichen. Sie geht nicht ab von dem Standpunkt, daß die Alimentierung der fürs Kapital Unbrauchbaren „den Staat nichts kosten“ darf. Beitragserhöhungen wären nötig, aber die kann man den Unternehmern nicht zumuten, die die Hälfte zahlen müßten, sich aber gerade von Kosten entlasten sollen. Natürlich kann man die Leistungen der Kassen an die Bedürftigen immer weiter absenken und so einen Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben anstreben – und das wird ja auch gemacht; aber grenzenlos geht das nicht, sofern überhaupt noch auf die Funktion dieser Leistungen für ihren Empfänger geachtet wird. Schließlich steigen die Ausgaben für Sozialhilfe in dem Maße, in dem die Arbeitslosenversicherung auf ihren Haushalt achtet, weniger und kürzer zahlt. Damit ist endgültig klar, daß es so nicht weitergeht. Der Staat wird doch nicht unter dem einen Namen das zahlen, was er unter dem anderen verweigert. Fachleute der Renten- und Arbeitslosenversicherung, aber auch gesamtwirtschaftlich denkende Bankiers sagen es längst: Der deutsche Kapitalismus kann 6 Millionen Mittellose nicht aus abzweigbaren Beiträgen der Lohnabhängigen mitschleppen. In bezug auf die ganze Klasse teilen sie die Wahrheit mit: Die Arbeiter können von diesem System nicht leben.

Das ist nicht das Ende der Sozialpolitik, im Gegenteil. Ein grundsätzlicher Umbau der Sozialsysteme steht an – mit den bewährten Methoden der quantitativen Kürzung ist es nicht mehr getan. Die Verwaltung, Betreuung und Organisation der Armut geht anders: Je weniger „Transfer-Einkommen“ drin ist, desto mehr kommt es auf die sozialordnerische Seite der Fürsorge an: Aufsicht.

Alle diese Konsequenzen sind nicht das Produkt des VW-Modells – sie stehen an mit ihm und ohne es. An der Alternative von VW und dem Streit der Fachleute und Meinungsmacher darüber ist lediglich offenbar geworden, was ohnehin der Fall ist: Das ganze System des sozialstaatlich organisierten Pauperismus kommt durcheinander, wenn die Pauperisierung zum Bestandteil normaler Lohnarbeitsverhältnisse wird und nicht als davon getrennte Ausnahme stattfindet.

Vorwiegende Ablehnung des VW-Modells im Arbeitgeberlager

Daß VW „den Mythos von der Vollzeitarbeit angreift“ (Spiegel) und den Vollzeitlohn abschafft, finden die Kollegen Kapitalisten begeisternd. Aber sonst haben sie der innovativen Personalpolitik von VW nur schlechte Noten gegeben. „Pauschale Regelungen“, so der Arbeitgeberverband der Chemischen Industrie, seien „für die Chemieunternehmen wenig sinnvoll“. „Dauerhaft unrentable Arbeitsplätze sind so nicht zu retten!“ „Unser Problem sind die hohen Kosten, und die senken wir um keinen Pfennig, wenn wir die Vier-Tage-Woche einführen.“ (Daimler-Benz-AG, Spiegel 44/1993)

Keine dieser ablehnenden Aussagen stimmt – schließlich senkt VW die Kosten um 20%, rettet gar keine unrentablen Arbeitsplätze, sondern senkt seine Nachfrage nach Arbeit und setzt seine Leute anders ein – und doch merken die Kollegen Kapitalisten etwas: Sie wehren sich gegen die „Systemveränderung“ und gegen die Vermischung der Zuständigkeiten, die in dieser Form des „Arbeitsplatzabbaus“, bzw. „-erhalts“ liegt. Sie beharren darauf, daß Beschäftigung nicht ihre Aufgabe ist, sondern der Gewinn, daß Beschäftigung nach Maßgabe des Gewinns zustandekommt oder gar nicht, daß sie den Unternehmen aber nicht neben ihrem eigentlichen als ein Extraziel abverlangt werden darf. Wird dem Verlangen nachgegeben, daß bei der betrieblichen Kalkulation auch noch soziale Gesichtspunkte berücksichtigt werden sollen, dann untergräbt man nur das Recht des Gewinns, alleiniger Zweck des Wirtschaftens zu sein. Unternehmer beschäftigen, wenn es sich lohnt; um die Entlassenen kümmern sich andere Instanzen, denen man dafür Beiträge abführt. Vom entgegengesetzten Standpunkt aus wehren sich die Verwalter der Sozialkassen ebenfalls gegen die beabsichtigte „Systemveränderung“: Sie sind für den Arbeitsmarkt und die Arbeitslosen auf ihm zuständig und wollen sich nicht zum Instrument der betrieblichen Personalpolitik machen lassen, wie es der VW-Konzern anpeilt, wenn er Gelder aus Nürnberg will. Die Sozialpolitiker sehen voraus, daß dann gleich jeder Betrieb versuchen würde, seine Löhne vom Arbeitsamt bezahlen zu lassen. Das Sozialsystem beruht auf der Trennung von gewinnmaximierendem Betrieb und den Sozialkassen, die nur Unkosten verwalten. Die Vermischung beider Instanzen erscheint den Verantwortlichen fast als so etwas wie Sozialismus.

Deshalb werden sie grundsätzlich: die „Vier-Tage-Woche“, die den Leuten auf einen Schlag ein Fünftel ihres Lebensstandards nimmt, geißeln sie schon wieder als Verführung zum „Besitzstandsdenken“: Wer Massenentlassungen vermeidet, begründet schon wieder Pflichten des Betriebs gegen die Beschäftigten; die Maßnahme erscheint als ein Tausch, aus dem die Beschäftigten dann eine Garantie gegen Entlassungen ableiten werden. Und das in der jetzigen Krise, in der es endlich die Chance gibt, die „Anspruchshaltungen“ einmal gründlich zu korrigieren! Mit der Abwehr des VW-Modells bauen die Herren Unternehmer schon mal der Erwartung vor, sie ließen sich, wie derzeit in Frankreich und Spanien diskutiert, von sozialpolitischen Erwägungen – etwa einer möglichen SPD-Regierung – die Umgangsweise mit überflüssig gemachten Arbeitern vorschreiben.

[1] Marx, so heißt es, hat die heutige Arbeitswelt nicht vorausgesehen. Das wäre auch etwas zuviel verlangt, wo nicht einmal sieben Wirtschaftsforschungsinstitute die Entlassungswellen des kommenden Jahres voraussehen können. Im Unterschied zu denen hat er diese Welt allerdings erklärt; nachzulesen in Band 1 seines Buches über Das Kapital. Wer es kürzer und oberflächlicher haben will, kann auf Band 2-92 dieser Zeitschrift zurückgreifen; darin wird „Die Ware Arbeitskraft in der Theorie von K.Marx – Die Lohnarbeit in der Praxis Deutschlands“ ausführlich und gründlich dargestellt.

[2] Es gibt zahllose Variationen über das hier behandelte Thema; ausgeklügelte Systeme der Entlohnung nach Leistung gehören zur Grundausstattung des modernen Kapitalismus. Die Unternehmer sind wirklich sehr erfinderisch in der Entwicklung von Methoden, mit denen sie sich die Garantie verschaffen, daß sie auch wirklich nichts anderes als ihren Nutzen aus der Beschäftigung von Arbeitskräften entlohnen. Dazu gehören die zahlreichen Gesichtspunkte, nach denen Löhne gestaffelt werden, so als würde die ganz individuelle oder jedenfalls eine konkret bestimmte Leistung vergütet. Näher betrachtet verraten diese Gesichtspunkte, daß sie der abstrakten Bestimmung der zu entlohnenden Arbeit als Verausgabung des Arbeitsvermögens das anspruchsvolle Urteil hinzufügen, daß in den meisten Fällen dieses Vermögen gar nicht voll verausgabt oder nur ein unterdurchschnittliches Vermögen in Anspruch genommen würde.