Albanien
Ein neuer Fall für bewaffnete internationale Humanität

Die Auflösung staatlicher Strukturen in Albanien wird von dortigen Politikern als Ordnungsproblem wahrgenommen, eine Intervention von außen als dessen Lösung. Zu der ist nur Italien bereit, nicht zuletzt um damit seinen Status innerhalb der EU aufzuwerten. Die „Aktion Morgenröte“ unter italienischer Führung führt zu innenpolitischem Streit, beseitigt nicht den Grund des albanischen Staatszerfalls und stößt auf wenig Gegenliebe seitens der EU-Führungsmächte.

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Albanien
Ein neuer Fall für bewaffnete internationale Humanität

Die Lage in Albanien

Die spontanen Ausbrüche der Volkswut der albanischen Bevölkerung nach dem Zusammenbruch der Pyramidenspekulation haben genügt, um die albanische Staatlichkeit zu erledigen.[1] Die Obrigkeit hat sich den Volkszorn dadurch zugezogen, daß sie den Traum von Habenichtsen, auch ohne vorhandene Arbeitsgelegenheit Geld zu verdienen, erst mit der Förderung der Spekulationsangebote an die Massen geweckt, sich nach dem Ruin der Spekulationsgesellschaften aber geweigert hat, das Volk für den verlorenen Einsatz zu entschädigen. Dessen Empörung richtete sich daraufhin gegen alle sichtbaren Stätten staatlicher Exekutivgewalt. Kasernen, Polizeistationen und Gerichtsgebäude wurden erstürmt, geplündert und angezündet. Das alles ohne Gegenwehr der angegriffenen Vertreter der Staatsgewalt. Militär und Polizei zogen sich beim ersten Aufmarsch zurück, lösten sich auf oder liefen über. Damit existiert von einem Tag auf den anderen die Staatsmacht nicht mehr. Ad absurdum geführt ist nicht nur die Vorstellung, Land und Leute könnten als Material einer nationalen „Marktwirtschaft“ taugen; durch die Gehorsamsverweigerung ist die Obrigkeit selber, ihr Kommando über die Gesellschaft, aus den Angeln gehoben.

Dabei ist bei diesem Aufruhr weit und breit von politischer Staatsgegnerschaft nichts zu sehen: Das Volk hat nicht für irgendeine Vorstellung von besserer Staatsverwaltung Partei ergriffen; ein organisierter Bürgerkrieg um die Ausübung der Staatsmacht findet nicht statt. Ein Wille zur Rückkehr zu den kommunistischen Verhältnissen, eine Abkehr von der „Marktwirtschaft“, die den Albanern keine Lebensmöglichkeit bietet, ist nicht bemerkbar. Die Plünderer, die sich in den Kasernen mit Waffen versorgen, machen sich nicht daran, mit dem erbeuteten Gerät die Staatsgewalt zu beseitigen, um eine alternative Herrschaft an ihre Stelle zu setzen. Sie haben den Glauben verloren, von ihrer Obrigkeit sei eine Ordnung zu erwarten, unter der sie sich irgendwie einrichten und ihr Auskommen finden könnten, kündigen daher den Gehorsam und nehmen mit der Bewaffnung selber das Heft in die Hand, ohne zu wissen, wofür eigentlich. Der allgemeine Aufruhr ist hilf- und ziellos: Geschossen wird beim Plündern des wenigen, was es noch gibt – und ansonsten in die Luft. Wo das staatliche Gewaltmonopol entfallen ist, sind die Kalaschnikows ein Mittel privater Lebensversicherung und so ziemlich der einzige brauchbare Geschäftsartikel; wenigstens Gewehre lassen sich in Albanien zu Geld machen. Noch auf eine andere Weise kündigen die Albaner die Gefolgschaft: Ein Großteil der Bevölkerung fühlt sich in seiner Heimat heimatlos und sinnt auf Flucht ins Ausland, wo zumindest die vage Aussicht auf eine überlebenssichernde Arbeitsgelegenheit besteht.

Statt einer handlungsfähigen Obrigkeit regiert jetzt also mehr oder weniger die Privatgewalt einer bewaffneten Bevölkerung. Und die Massen, die sich überall an der Küste versammeln, um aus dem Land zu kommen, sorgen zusätzlich dafür, daß „Chaos“ herrscht. Einen Interessenkampf organisieren im jetzigen Albanien nur die Banden, die schon vorher in den zerstörten Verhältnissen ihre Geschäftsgelegenheit erkannt und genutzt hatten. Das jetzige Chaos stiftet neue Chancen für Flüchtlings- und Waffenschmuggel, die ergriffen und gegen Konkurrenten behauptet sein wollen. In einigen Orten Südalbaniens haben sich lokale Rettungskomitees gebildet, die für einen Restbestand von Ordnung und Volksversorgung eintreten; zumeist getragen von abgehalfterten Funktionären des alten Staates. Auf sie geht im Wesentlichen auch das einzige politische Alternativprogramm zurück, das im Land laut wird: die Forderung nach dem Rücktritt des bisherigen Präsidenten Berisha – des Präsidenten eines Staates, den es gar nicht mehr gibt.

Mit solchen Formen „bewaffneter, organisierter Kriminalität“ räumen Staaten gewöhnlich polizeilich auf, ohne gleich um die Existenz des staatlichen Gewaltmonopols fürchten zu müssen. In Albanien dagegen haben die Unruhen binnen kurzem und ohne Gegenwehr die vorhandene Staatlichkeit aufgelöst. Das ist kein Zufall: Ein Staat, dessen Ordnungsgebot das Leben seiner Massen gar nicht ergreift und bestimmt, schafft eben keine Staatsbürger. Genauso wenig erzeugt eine Wirtschaftsordnung, die keine Verwendung für ein Arbeitsvolk stiftet, nationale Wirtschaftssubjekte. Ohne eine Hoheit, die mit ihrem Zugriff die Lebensbedingungen ihrer Untertanen bestimmt, kommt die Figur des Staatsbürgers, der weiß, wo es langgeht im Staate, sich danach richtet sowie darin einrichtet und sich seinen staatstreuen nationalistischen Reim darauf macht, gar nicht ins Leben. Also auch nicht die verläßliche demokratische Führung, die sich auf den eingespielten Gang des nationalen Lebens, auf Wirtschaftsleistungen und staatsbürgerlichen Gehorsam sowie auf einen funktionierenden treuen Gewaltapparat verlassen und deshalb frei regieren kann.

Freilich, auch wenn die Macht fehlt: Die Politikerfiguren, die unbedingt Verantwortung tragen wollen, gibt es in Albanien gleichwohl. Sie bemühen sich jetzt darum, wieder eine Herrschaft hinzukriegen, und tun sich dafür zusammen. Zwischen der regierenden Demokratischen Partei, deren Antikommunismus sich in der Verfolgung und im Wahlbetrug gegenüber den gewandelten Sozialisten ausgetobt hat, und eben dieser Opposition kommt es zu einer gemeinsamen „Regierung der nationalen Rettung“, für die einige Führer der Opposition erst aus dem Gefängnis geholt werden müssen. Einem nicht mehr vorhandenem Staatsvolk soll mit einem Referendum zur Entscheidung vorgelegt werden, ob es sich künftig präsidial, parlamentarisch oder monarchisch regiert besser leben läßt. Als wäre nur die Legitimation der jetzigen Regierung strittig, sollen Neuwahlen im Juni neue Machtverhältnisse im Lande bringen. Die Politiker strengen sich gleichzeitig an, einen gewissen Ersatz für die nicht mehr vorhandenen öffentlichen Ordnungsinstanzen zu schaffen. Sie rekrutieren aus dem Umkreis der bewaffneten Bevölkerung Freiwillige für eine „Polizei“, die aber in Wahrheit den Charakter einer lokalen Macht und privaten Gefolgschaft der Politikerfiguren hat. Andere, die beim Plündern leer ausgegangen sind, bekommen Waffen gestellt und vermehren den bewaffneten Anhang eines der politischen Führer. Denn Berisha und Fino wissen und richten sich darauf ein, daß der Streit darum, wer die „nationale Rettung“ anführen darf, keine Frage einer friedlich-schiedlichen Konkurrenz ist. Entsprechend gehen sie miteinander um. Fino macht sich den von ihm erkannten Wunsch des Volkes zueigen, Berisha als den einzigen Anlaß für den Volksaufstand abzusetzen, und versucht Verhandlungen mit den Rettungskomitees als den einzigen „Ordnungskräften“ im Süden zu führen, um sie hinter sich zu scharen. Berisha entdeckt darin öffentlich den Beweis, daß sein Regierungschef selbst hinter dem Aufstand steckt; konsequenterweise hindern bewaffnete Banden, die sich als Anhänger Berishas zu erkennen geben, Fino daran, in den Norden des Landes zu reisen. Von einer „Einheit zur nationalen Rettung“ kann keine Rede sein.

Für die auswärtigen Mächte gibt es also keine verläßliche Adresse mehr in Albanien. Allerdings genug Adressen, die auf das auswärtige Interesse an einer albanischen Staatsgewalt setzen und es für sich zu mobilisieren suchen. Albaniens Politiker verkünden ihre politische Ohnmacht im Land und fordern lautstark eine ausländische Intervention zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung.[2] Die Macht der Imperialisten soll das stiften, was albanische Politiker nicht zuwege bringen. Ihnen soll von außen Anerkennung und damit Macht verliehen werden. Dabei denken die konkurrierenden Freunde ausländischer Ordnungsmacht schon wieder vornehmlich jeweils an sich. Berisha und Fino wetteifern darum, sich den ausländischen Geburtshelfern einer wieder zu errichtenden albanischen Staatsgewalt als verläßliche Machtaspiranten anzubieten und den Kontrahenten in den Augen der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren.[3] Vertrauenswürdig werden sie dadurch für die auswärtigen Mächte beide nicht.

Eine Menge internationaler Handlungs- und Klärungsbedarf

Das Ersuchen um ausländische Intervention liegt vor, und die angesprochenen Mächte sehen ihre diesbezügliche Kompetenz herausgefordert. Der Verlust einer berechenbaren Staatsgewalt, deren Ende gar nicht von außen beantragt war, ist ihnen nicht gleichgültig, zumal er sich auf dem Balkan zuträgt, wo die internationale Staatenwelt gerade darum bemüht ist, aus dem von ihr überwachten Zerfall Ex-Jugoslawiens eine neue Staatenordnung hervorgehen zu lassen. Welche Reaktionen auf die „chaotischen Zustände in Albanien“ geboten sind, ist allerdings unter den befugten Ordnungsmächten umstritten.

Das liegt einerseits an der Unhandlichkeit der eingerissenen Verhältnisse in Albanien, auf die der äußere Befriedungswille stößt. Schließlich hat man es nicht mit einem Kampf um die Macht zwischen faßbaren Parteien und ihren Führern zu tun, sondern mit den ziellosen Umtrieben einer bewaffneten Bevölkerung und mit dem heillosen Streit von Politikern, die nur noch ganz bedingt eine Macht im Lande vertreten. War schon das ethnische Gemetzel in Jugoslawien ein schlecht handhabbarer und auch deshalb unter den Aufsichtsmächten umstrittener Ordnungsfall, so sind jetzt in Albanien noch nicht einmal feststehende nationale Kräfte greifbar, wie sie die äußeren Ordnungsmächte in Jugoslawien gegeneinander ausspielen und für ihre Ordnungsvorstellungen hatten benutzen können. In Albanien steht eigentlich erst einmal die Entwaffnung der Bevölkerung an – eine Aufgabe für ein Besatzungsregime, das die Aufsichtsmächte aber überhaupt nicht errichten wollen.

Die Uneinigkeit unter den Verantwortlichen für globale „Krisenbewältigung“ liegt andererseits daran, daß sie sich als Macher und Mitmacher der internationalen Ordnung unterschiedlich betroffen fühlen. Besonders gefordert sehen sich die europäischen Staaten, die sich die Betreuung des aufgelösten Ostblocks zu ihrer Aufgabe gemacht haben: Sie sind mit einem staatlichen Zerfall konfrontiert, der an die unseligen somalischen Verhältnisse gemahnt, jetzt aber in ihrer unmittelbaren europäischen Einflußsphäre. Und unter ihnen wiederum besonders herausgefordert sieht sich Italien. Von den angerufenen Interventionsmächten hat nur Italien seinen unbedingten Willen erklärt, Albanien zum Fall für ein neuerliches internationales Eingreifen zu machen, und diplomatische Schritte unternommen, die USA, die UNO und seine europäischen Partner von einer gemeinsamen Aktion zur Rettung Albaniens zu überzeugen. Und das nicht ohne Grund.

Erstens ist Albanien längst italienische Einflußsphäre; das geben auch die albanischen Politiker kund, wenn sie sich in ihren Hilfeersuchen zuallererst an den Nachbarn jenseits der Adria wenden. Die erste albanische Fluchtwelle nach der politischen Wende des Landes 1991 hatte die italienische Regierung dazu benutzt, sich zum Mitgaranten der neuen politischen Ordnung zu machen, allein schon um die albanischen Habenichtse, die im nahen Italien die erste Anlaufadresse für ein besseres Leben sehen, vom Massenexodus nach Italien abzuhalten. Für diese Aufgabe rüstete der italienische Staat das albanische Militär und die Polizei aus. Damals genügte ein unbewaffneter Einsatz des italienischen Militärs, die Unruhen der Wende beenden zu helfen. Von der Bevölkerung wurden die Angehörigen der „Aktion Pelikan“ als Befreier begrüßt. Wirtschaftlich wurde Albanien zum Billiglohnreservoir für italienische Textil- und Schuh-Kleinunternehmer und zu einem freilich begrenzten Absatzmarkt italienischen Handels. Weniger offiziell gewürdigt, aber keineswegs verschwiegen wird, daß auch die Veranstalter der Pyramidenspekulation und die albanische Mafia eng mit italienischen Unternehmungen gleichen Namens zusammenarbeiteten. Zur Zeit erfährt Italien wieder die Kehrseite dieser Zuständigkeit: Es ist betroffen von der Flüchtlingsmasse, die nach Italien drängt. Allerdings sind die Probleme, die die Verwaltung eines solchen Flüchtlingsstroms mit sich bringt, eine Sache. Eine ganz andere ist, was das Land aus dieser Betroffenheit macht: die regierungsamtlich angeleitete Inszenierung eines nationalistischen Aufruhrs. Italiens Regierung verweist auf die untragbaren Zustände an seiner Ostküste und ruft angesichts von 10000 albanischer Flüchtlinge, die jetzt wieder ins Land drängen, den Notstand aus. Nach offizieller Verlautbarung der Regierung bedroht die Flut albanischer Kriminalität die Existenz der italienischen Gesellschaft in ihren Grundfesten. Entsprechend rigoros geht sie dagegen vor. Asyl wird grundsätzlich verweigert, es gilt ein dreimonatiges Aufenthaltsrecht ohne Bewegungsfreiheit für die, die nicht gleich wieder abgeschoben werden; ein Teil der Flüchtlinge wird postwendend als Verbrecher zurückverfrachtet. Auch wenn konzediert wird, daß viele nur den unerträglichen Verhältnissen ihrer Heimat entfliehen wollen, darf selbstverständlich nicht übersehen werden, daß auch sie Material krimineller Machenschaften sind, weil sie durch illegale Schleppergruppen ins Land geschleust werden. Diese politisch vorgegebene Stimmung findet genügend Nachahmer im Land. Ohne albanierfreie Strände ist das italienische Tourismusgeschäft ruiniert, klagen die Badeorte an der Adria. Bürgermeister in allen Landesteilen weigern sich unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, Flüchtlingskontingente in ihrem Zuständigkeitsbereich aufzunehmen. Die sezessionistische Bewegung der Lega erklärt Oberitalien zum albanerfreien Territorium, und eine ehemalige Parlamentspräsidentin hält die Forderung, Albaner zurück ins Meer zu werfen, für das politische Gebot der Stunde. Das öffentliche Fernsehen verbreitet den nationalen Konsens auf allen Kanälen: So lange im Süden Jugendliche zuhauf arbeitslos sind, haben diese ein Recht darauf, wenigstens durch das Abschieben aller Albaner als Italiener gewürdigt zu werden. Und die Regierung beklagt sich bei ihrem Volk, wie sehr Italien mit seinen Schwierigkeiten von den europäischen Partnern allein gelassen wird, statt daß endlich in Albanien durchgegriffen wird… Von der Beschwörung einer Notlage zur Anmeldung des ordnungspolitischen Anspruchs ist es nur ein Schritt.

Zweitens will die italienische Regierung, die darunter leidet, von ihren entscheidenden europäischen Partner als zweitrangig behandelt zu werden, nämlich mit einer Befriedungsaktion in Albanien mehr erreichen als bloß das Stillstellen des Unruheherds. Mit einer solchen Aktion soll der Beweis einer europäischen Ordnungsrolle Italiens erbracht werden. Dabei bezieht sich Rom berechnend auf die von den Partnern genauso beschworene Notwendigkeit, daß ihre europäische Gemeinschaft endlich eine handlungsfähige politische Macht wird und das Recht auf eine ausschließlich europäisch gesicherte Einflußsphäre wahrnimmt. Mit dem Faustpfand des nationalen Einflusses auf Albanien und mit Verweis auf die untragbaren Zustände vor seiner, also Europas Haustür dringt Italien auf eine Intervention, um sich selbst mehr Gewicht in Europa und mehr Mitbestimmungsrechte über den Fortgang des Projekts einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik zu verschaffen. Mit der Unterschrift unter eine gemeinsame Friedensmission sollen die europäischen Partner diesen nationalen Anspruch gleich mitunterzeichnen. Albanien wird als Gelegenheit ergriffen, Italien Anspruch auf Zugehörigkeit zum Kreis der Hauptmächte Europas geltend zu machen, aus dem es als politisch ungefestigtes EU- und NATO-Mitglied und als potentieller Problemfall für die Währungsunion aussortiert zu werden droht.

Das Anliegen einer politisch-militärischen Aufwertung Italiens in Europa ist unüberhörbar:

„Es ist eine internationale Pflicht, der wir aus Nächstenliebe und um der Gerechtigkeit willen entsprechen müssen. Aber auch, um die besondere Rolle unseres Landes in der Weltpolitik neu zu bekräftigen und ein neues Bild Italiens zu schaffen, das sich in der großen Familie der NATO verloren hatte, so lange die Welt noch in zwei Blöcke aufgeteilt war.“ (Der ehemalige Staatspräsident Cossiga, Repubblica 4.4.97)

Der italienische Regierungschef denkt darüberhinaus laut an einen Befreiungsschlag in Sachen Maastricht. Er beherrscht eben auch die jedem Staatspolitiker geläufige Verwechslung von Ökonomie und Politik und denkt daran, Italien für Europa politisch unverzichtbar zu machen, so daß die leidige Haushaltsbilanz nicht mehr gegen Italien ausschlägt:

„Andernfalls würde das Staatsdefizit das Land vernichten und alle unsere bisher erbrachten Opfer (zur Einhaltung der Maastricht-Kriterien) wären vergeblich gewesen. Der Erfolg der „albanischen Mission“ ist ein Teil der Einlaßkarte in den europäischen Club. Man kann die Fragen der Ökonomie und der Politik nicht trennen. Italien kann nicht würdevoll in Europa vertreten sein, wenn es nicht in der Lage ist, die Führerschaft bei der Neuregelung Albaniens zu übernehmen, einem Land, das uns eng benachbart ist, so daß wir aus historischen und geographischen Gründen die Verantwortung für dessen Geschick auf uns nehmen müssen.“ (Ministerpräsident Prodi, Corriere della Sera 6.4.97)[4]

So sehen sich die anderen Aufsichtsmächte nicht nur mit der unhandlichen Lage in Albanien, sondern auch mit einem italienischen Sonderinteresse konfrontiert: Mit einer Friedensmission für Albanien, deren Leitung Italien beansprucht, sollen sie auch gleich einer gewissen Korrektur der innereuropäischen Machtverhältnisse zugunsten Italiens zustimmen. Dieses Ansinnen mag sich keiner der Partner Italiens zu eigen machen; vielmehr sind alle bemüht, den Handlungsbedarf bezüglich des Krisenfalls Albanien und das daran geknüpfte weitreichende Begehren Italiens in Sachen Europa sorgfältig zu trennen. Und Auswirkungen gar auf die Frage der Währungsunion und der italienischen Zulassung ziehen sie schon gleich nicht in Erwägung.

Italien erobert sich eine Mission

Diese Auseinandersetzung gibt der internationalen Albaniendiplomatie eine eigentümliche Verlaufsform.

Die italienische Regierung wartet nicht auf einen Auftrag der europäischen oder Weltgemeinschaft, sondern bemüht sich von Anfang an selbsttätig um Beweise für die Dringlichkeit ihres Anliegens. Um den Flüchtlingsstrom zu unterbinden, überzieht sie die albanische Küste mit einer Seeblockade und läßt sich auch durch den Einspruch des UNO-Verwalters Annan nicht beeindrucken. Sie verfrachtet einige Anführer der südalbanischen Rettungskomitees auf ein italienisches Kriegsschiff, um mit ihnen ganz ohne Rücksprache mit der formell noch existenten albanischen Regierung zu verhandeln. Der italienische Geheimdienst ist zur selben Zeit in Albanien unterwegs, um Kontakte zu den wichtigsten Banden im Land zu knüpfen. Das italienische Fernsehen übernimmt die geistige Betreuung der albanischen Massen und bestellt sie zur besten Sendezeit auf den Skanderbeg-Platz in Tirana, auch wenn gerade ein Versammlungsverbot der albanischen Regierung besteht; abgefragt und landesweit zu Gehör gebracht wird das Verlangen der Bevölkerung nach einer Intervention Italiens in Albanien. Für diese einseitig begonnene Friedensstiftung fordert Italien dann die Billigung und weitergehende Unterstützung durch seine europäischen Partner ein: Schließlich hat es mit seinem Einfluß und seinem Eingreifen Vorleistungen für einen internationalen Friedenseinsatz erbracht, weswegen es sich als der geborene Anführer und Koordinator dieser fälligen Friedensmission anbietet.

Italiens Partner sehen das allerdings anders und stufen die ganze Albanienfrage erst einmal demonstrativ zurück. Zu mehr als dem gemeinsamen Beschluß, die Unruhen auf Albanien zu beschränken und Italien und Griechenland bei der Abriegelung der Staatsgrenzen von außen zu unterstützen, wollen sich die Partner Italiens anfangs nicht bereitfinden. Das Mandat der in Mazedonien stationierten US-Soldaten wird verlängert, und die noch vor kurzem als antiserbisches Aufstandspotential gewürdigten Kosovo-Albaner geraten in den Ruch gefährlicher Unzuverlässigkeit. Zusätzlich beruft Europa den österreichischen Ex-Kanzler zum OSZE-Beauftragten für Verhandlungen in Albanien mit den dort vorhandenen politischen „Kräften“. Damit sich Vranitzky am Verhandlungsort überhaupt frei bewegen kann, wird die OSZE-Kommission mit einer kleinen Schutztruppe ausgestattet – in der Sprachregelung des deutschen Außenministeriums sollte es sich dabei um „gehobene body-guards“ handeln. Ansonsten weisen die USA den albanischen Ordnungsfall bis heute an die europäischen Mächte zurück und entziehen lediglich ihrem bisherigen Schützling Berisha ihre weitere diplomatische Unterstützung. Die NATO weigert sich, ein Mandat für Albanien überhaupt in Erwägung zu ziehen. Die europäische Führungsmacht Deutschland „sieht keine deutschen Truppen in Albanien“ (Rühe); und Kohl weist jede deutsche Beteiligung an einer Friedensmission weit von sich, bei der nicht geklärt sei, was die Bundeswehr dort zu erledigen hätte. Statt dessen organisiert die Republik einen begrenzten ersten militärischen Einsatz der Bundeswehr im Ausland in eigenem nationalen Auftrag und fliegt Deutsche aus Tirana aus.

Italien kann darin unschwer eine Zurückweisung seiner Europa-Initiative erkennen und verstärkt seine Anstrengungen. Ein mit der Seeblockade beauftragtes italienisches Kriegsschiff rammt ein albanisches Flüchtlingsboot und versenkt dieses samt 80 Passagieren in der Adria. Prompt ruft die italienische Regierung das Scheitern ihrer bisherigen Friedensbemühungen aus, verschärft die Blockade und klagt erneut die internationale Verantwortung ein: „Eine internationale Eingreiftruppe, so schnell wie möglich“ (Prodi).

Angesichts solcher demonstrativer italienischer Alleingänge werden UNO und Europa dann doch tätig. Der Sicherheitsrat stimmt einer internationalen Albanientruppe zu und überträgt das Mandat der OSZE, die aus ihren Mitgliedsnationen ein Kontingent von 6000 Mann zusammenstellt. Dem Wunsch nach einem von Italien angeführten und koordinierten gesamteuropäischen Friedenseinsatz wird dabei freilich nur bedingt entsprochen. Von der ersten europäischen Garde nimmt allein Frankreich teil, erklärtermaßen mit eigenen Perspektiven: Es versteht seinen Beitrag als Eintreten für eine Erweiterung europäischer Zuständigkeit auf die Mittelmeeranrainer gegen das deutsch bestimmte Osterweiterungsprogramm. Unterstützung erfährt es dabei durch das ebenfalls beteiligte Spanien. Und auch die anderen Teilnehmer verbinden mit ihren Truppenkontingenten lauter gesonderte nationale Rechnungen, die auf mehr weltpolitische Anerkennung zielen: Griechenland und Türkei rivalisieren mit Verweis auf „Landsleute“ bzw. „Glaubensbrüder“ in Albanien mal wieder darum, wem auf dem Balkan Einfluß zusteht; Rumänien drängt es wegen der angestrebten Mitgliedschaft in der NATO zur Teilnahme an der Albanienmission.

Nationaler Schulterschluß und Regierungskrise in Italien

Was darüber zustandekommt, ist zwar nicht das geschlossene europäische Mandat, auf das Italien aus war. Immerhin aber hat Italien einen Erfolg seiner Außenpolitik errungen. Daß er zwiespältig ausgefallen ist, macht es der italienischen Regierung nur umso dringlicher, die ausgerufene neue Ära italienischen Ansehens in der Welt zu verteidigen und innenpolitisch vor ihrer Bevölkerung ins rechte Licht zu rücken. Das Letztere wenigstens ist leicht zu haben. Auch Italien ist zu allererst von bekennenden Nationalisten bevölkert. Mag die italienische Regierung ihr Volk im Namen Europas auch noch so verarmen und mag ein Teil der Bevölkerung auch enttäuscht über ihre nationale Heimat eine Partei wie die Lega wählen, die den bisherigen Staatszusammenhang Italiens aufkündigen will – das Wort der Regierung: „Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wird Italien von der Welt damit beauftragt, eigenverantwortlich weltpolitische Ordnungsaufgaben zu übernehmen“, läßt niemanden unbeeindruckt. Das ist für italienische tifosi, genauso wie für Liebhaber Deutschlands, denen diese Verheißung bisher noch nicht einmal zuteil geworden ist, allemal mehr als ein Sieg der Nationalmannschaft. Entsprechend fällt die nationale Aufbruchsstimmung im Land aus, zumal sie von Politik und Öffentlichkeit liebevoll betreut wird.

Innerhalb der politischen Führung hat die außenpolitische Neuorientierung, die als das Ende der bisherigen weltpolitischen Enthaltsamkeit Nachkriegs-Italiens verkündet wird, allerdings erst einmal eine Regierungskrise hervorgerufen. Das ist nicht verwunderlich; schließlich hat es auch in Deutschland seine Zeit und Debatten gebraucht, bis der Wille zur „Normalität“ einer weltpolitischen Verantwortung, die mit dem Zustand einer Verlierernation demonstrativ Schluß macht, zum unumstößlichen politischen Gemeingut geworden ist. Die Rolle des nationalen Bedenkenträgers, die in Deutschland den Grünen und Teilen der SPD zugefallen war, übernimmt in Italien die Rifondazione comunista, eine linke Abspaltung der geläuterten Ex-Kommunisten-Partei PDS. Sie verweigert dem Albanienauftrag ihre Zustimmung und warnt vor einem neuerlichen imperialistischen Abenteuer Italiens: Wenn die Regierung Soldaten nach Albanien schickt, dann stellt sie sich in die kolonialistische Tradition des faschistischen Italiens, das schon einmal einen Überfall auf Albanien veranstaltet – und dann im Weltkrieg verloren hat;[5] dann mache sie sich zum Helfer eines „Europa des (verbrecherischen Finanz-)Kapitals“, das zu den Verhältnissen in Albanien geführt habe;[6] dann unterstütze sie einen Feind des albanischen Volkes wie Berisha; dann erzeuge sie mit ihrer Härte gegenüber albanischen Flüchtlingen eine anti-italienische Stimmung in Albanien und setze damit das Leben der Soldaten, die dorthin gehen sollen, aufs Spiel.

Die Einwände der Rifondazione richten sich nicht gegen das imperialistische Eingreifen an und für sich, sondern gelten der nach ihrem Geschmack mangelhaften Konzeption der italienischen Ordnungsaktion. Leute, die in ihrer Vergangenheit schon einmal vom internationalen Wirken der imperialistischen Staaten haben läuten hören und die eine abgrundtief schlechte Meinung über das „Europa des Geldes“ haben, können sich sehr wohl ein friedliches Wirken dieser Staatenwelt und ein menschenfreundliches Handeln dieses Europas vorstellen – den Segen einer „friedlichen Intervention Europas“ wissen sie durchaus zu schätzen.[7] Sie messen den Auftrag, den Italien sich erteilen will, ausgerechnet an den gar nicht bescheidenen Titeln einer anerkannten weltpolitischen Friedensmission Italiens im Auftrag der Weltgemeinschaft, mit denen die Regierung ihren Anspruch auf imperialistische Mitaufsicht über auswärtige Staatenverhältnisse vorträgt, und müssen feststellen: Weder handelt es sich bei der Mission um einen von der ganzen Staatenwelt ordentlich gedeckten Auftrag unter UNO-Ägide und mit Blauhelmen, die in den Augen der linken Internationalisten für wirkliche „Hilfe“ bürgen; noch stehen alle europäischen Nationen hinter Italiens Entscheidung und machen sie damit in den Augen der Kommunismus-Erneuerer unwidersprechlich. Wären die Voraussetzungen einer internationalen, garantiert erfolgreichen Intervention unter italienischer Führung verwirklicht, könnten sie daran glatt keinen Imperialismus mehr erkennen. So löst sich die linke Kritik in nationale Verantwortung auf: Ein Eingreifen Italiens ohne nationale Opfer, weil die ganze entscheidende Welt es mitträgt und das albanische Volk sich geschlossen italienische Aufsicht ersehnt – das würde diese harten Kritiker vom Sinn des Unternehmens überzeugen.

So aber verweigert die Rifondazione, die zwar nicht in der Regierungskoalition mitvertreten ist, sich selbst aber als freiwillige und zuverlässige Unterstützungspartei dieser Regierung versteht – sie schätzt sie als „linke“ im Unterschied zu einer „rechten“ Regierung, ganz unabhängig vom Regierungsprogramm, das sie nicht teilt –, ihre Zustimmung. Sie stürzt damit die Regierung Prodi in eine Krise, da diese ohne die Rifondazione im Parlament keine Mehrheit mehr besitzt. Gegen diese parteipolitische Obstruktion beschwört Prodi die Verantwortung zur Einheit in nationaler Sache:

„Nicht nur die Regierung, sondern auch das Land, die betroffenen Soldaten und alle Bürger haben Anspruch auf eine klare und starke Weisung des Parlaments. Auch die Augen der Welt sind auf Italien gerichtet. Das Land muß die Aufgabe übernehmen, die seine Rolle und seine geopolitische Position ihm auferlegen.“

Unterstützt wird er vom Staatspräsidenten Scalfaro, der wissen läßt, „daß dies weder die Stunde der Regierung noch die der Opposition sein kann“. Der Appell trifft auf offene Ohren; die Opposition um Berlusconi verhilft Prodi zu der überzeugenden Mehrheit, die es erlaubt, italienische Soldaten zum ersten eigenständigen Auslandseinsatz zu schicken. Hinterher beteuert die Rifondazione ihren Willen, die Regierung auch weiterhin zu unterstützen, mit dem bestechenden Argument:

„Unser Nein zur Mission ist kein Nein zur Regierung. Das Thema ist viel zu ernst, als es zur Angelegenheit eines Parteienstreits zu machen.“ (Corriere della Sera 3.4.97)

Die Aktion „Morgenröte“

Jetzt sind die internationalen Truppen unter italienischer Führung in Albanien stationiert und an den Hauptverbindungsstraßen und in den größeren Orten im Einsatz. Der Streit um die regionale Aufstellung der nationalen Kontingente ist erledigt.[8] Der Auftrag steht fest: Die internationalen Truppen sollen durch die militärische Überwachung von Hungerhilfe und Nahrungsmittellieferungen, die ins Land kommen, und durch die Organisierung baldiger Neuwahlen so etwas wie eine albanische Staatlichkeit wieder erstellen helfen. Dieser Auftrag ist ziemlich absurd: Seine Initiatoren gehen zwar selber davon aus, daß es in Albanien die staatliche Ordnung, der sie zu einem neu gewählten Führungspersonal verhelfen wollen, gar nicht gibt, genau so wenig wie ein Bedürfnis nach ihr; ein Programm für die Förderung Albaniens, eine staatstragende materielle „Aufbauhilfe“ oder auch nur ein Angebot zur Beilegung des politischen Streits – also handfeste Maßnahmen für die Schaffung von Staatsgrundlagen haben sie aber nicht im Gepäck. Statt dessen einen ziemlich rücksichtslosen Anspruch: Die Präsenz ihrer Ordnungskräfte und die Drohungen ihrer Vermittler sollen die Streitparteien und die aus dem Ruder gelaufenen Bevölkerungsteile auch ohne irgendeine Perspektive für ein besseres Albanien, die Nationalisten überzeugen könnte, zur Räson bringen. Gleichzeitig ist ihr Interesse an einer Wiederherstellung staatlicher Ordnung in Albanien mittels der eigenen Gewalt aber nicht so dringlich, daß sie seine entschiedene Durchsetzung beschlossen hätten. Daß Gewalt nötig ist, ist unbestritten; wie weit sie aber gehen soll, das ist im Beschluß, der die Truppen in Marsch gesetzt hat, überhaupt nicht festgelegt. Die Einlösung dieses Widerspruchs ist den Truppen vor Ort überlassen. Prompt gibt es den Streit der Kommandanten und Koordinatoren, ob auch das Einsammeln der Waffen zum Auftrag gehört und wie weit das Recht zur Selbstverteidigung ihrer Soldaten reicht.

Dabei gibt es nicht wenig zu tun im Land, wie die Begutachter kritisch bemerken – kritisch nicht gegen das auswärtige Ansinnen, den Insassen des Armenhauses Albanien Gewaltverzicht und ein gesittetes politisches Getriebe zu verordnen, sondern gegen die Unvernunft dieses zurückgebliebenen Balkanvolkes, das es seinen internationalen Betreuern nicht leicht macht. Die bewaffnete Bevölkerung muß zur Ordnung gerufen, die ziellose private Gewalt bis hin zur Bandenkriminalität beendet werden. Neben denen, die nur darauf sinnen, an der Blockade vorbei nach Italien zu kommen, gibt es die anderen, die in ihrer Hoffnung auf Italien enttäuscht sind und Rache nehmen wollen. Die albanischen Politikerfiguren streiten hemmungslos um die Modalitäten und den Termin der Wahl. Italien hat bereits angedroht, seine Truppen zurückzuziehen, falls Berisha und Fino sich darüber nicht einigen können. Angesichts der Tatsache, daß deren Stand ganz an der auswärtigen Anerkennung hängt, mag diese Drohung erst einmal verfangen. Berechenbar werden die Figuren dadurch nicht, und ein dauerhafter staatstragender politischer Konsens ist schon gleich gar nicht absehbar. Die Fiktion eines Wahlakts werden die Aufsichtsmächte wohl bewerkstelligen können. Aber daß sich die Bevölkerung nach vollbrachter Stimmauszählung in lauter gehorsame Staatsbürger verwandelt, die als erstes willig ihre Waffen abliefern, davon geht niemand ernsthaft aus.

Vor allem aber was die europäischen Perspektiven des Unternehmens angeht, ist Zufriedenheit nicht abzusehen. Die beschlossene Mission erledigt ja nicht den Gegensatz zwischen Italiens europäischen Ambitionen und dem Führungswillen insbesondere Deutschlands, sondern bringt diesen Gegensatz – neben allen anderen Streitpunkten um die innereuropäische Staatenhierarchie – jetzt eben auch noch am Fall Albanien neuerlich auf die Tagesordnung. Das ist unausbleiblich bei einem internationalen Friedenseinsatz unter italienischer Führung, dessen außeritalienische Mitverantworter sich hauptseitig in offener Distanz zu dem gemeinsamen Auftrag üben, um klarzustellen, daß hier für Italien nichts zu gewinnen ist. Deutschland, das zugestimmt und sich damit ja auch für den Erfolg der Albanienmission mit stark gemacht hat, straft den unter italienischer Führung stattfindenden europäischen Friedenseinsatz mit demonstrativer Nichtachtung, wie wenn er mit deutschen Interessen überhaupt nichts zu tun hätte. Die deutsche Öffentlichkeit weiß mal wieder gleich, wo eine Sache langgeht, bei der wir nicht führen wollen. Genüßlich vermeldet sie, daß ein an der Aktion beteiligtes Kriegsschiff – gleich zum „Flaggschiff der italienischen Marine“ ernannt – vor Valona auf Grund gelaufen ist; im übrigen wird das Rote Kreuz eigentlich mit der Lage ganz allein fertig – als stünde in Albanien tatsächlich nur Hungerhilfe an und nicht der Beweis europäischer Ordnungskompetenz. Italien macht sich lächerlich wichtig! Diese Botschaft faßt am schönsten das Presseorgan zusammen, das ansonsten nicht müde wird, die eigene Regierung an ihre Verantwortung für Europa und dessen politische Geltung in der Welt zu erinnern:

„Das italienische Kommando … ist sichtlich bemüht, den historischen Charakter dieses ersten Einsatzes einer rein europäischen Schutztruppe in einem europäischen Staat gebührend hervorzuheben… Alles dreht sich um die Italiener… Der Fernsehsender Raiuno produziert für die Zuschauer daheim stundenlange Livesendungen aus Tirana oder Vlora, wobei sich die geckenhaften Moderatoren nicht von dem Umstand irritieren lassen, daß es außer der Tatsache, daß die Soldaten jetzt angekommen sind, nichts zu berichten gibt.“ (FAZ 25.4.97)

Da sind die begeisterten Berichte über die Stimmung der deutschen Hubschraubermannschaft beim Ausfliegen von Deutschen aus Tirana doch etwas anderes. Uns steht das zu!

[1] Zur Vorgeschichte des Staatszusammenbruchs siehe GegenStandpunkt 1-97, S.98!

[2] Fino, nomineller Regierungschef: Unablässig versuche ich, Botschafter der Europäischen Union zu treffen und von ihnen zu fordern: Gebt uns die Mittel, um diese Angelegenheit zu lösen. In der augenblicklichen Lage wird Italien zur letzten Hoffnung… Meine Regierung hat eine internationale Eingreiftruppe unter europäischer Flagge gefordert. Und italienische Soldaten müssen an dieser Mission beteiligt sein. (Corriere della Sera 28.3.97)

[3] Das Ziel Berishas (des derzeitigen Präsidenten) ist es, Albanien in einen Bürgerkrieg zu stürzen und eventuelle ausländische Militärmissionen dazu zu benutzen, an der Macht zu bleiben. (Liberazione 1.4.97)

[4] Das trifft in der italienischen Öffentlichkeit auf volle Zustimmung und vorantreibende Unterstützung: Es handelt sich um eine grundsätzliche Entscheidung der Außenpolitik, die die strategischen Interessen Italiens, seine erfolgreiche Einbindung in Europa und seine internationale Rolle betrifft… Das alles findet am Vorabend des entscheidenden ökonomischen und sozialen Tests statt, von dem unsere endgültige Integration in Europa abhängt, d.h. der Möglichkeit, unseren natürlichen Partnern in Europa eng verbunden zu bleiben, um nicht fatalerweise in die Dritte Welt abzugleiten. (Repubblica 8.4.97)

[5] Wenn Italien nach Albanien zurückkehrt, sollte man sich erinnern: Das letzte Mal, als wir in Durazzo landeten, war 1939 und das Vorhaben endete katastrophal. (Liberazione 30.3.97)

[6] Was heute in Albanien passiert, ist nicht das Ergebnis einer zurückliegenden Vergangenheit, sondern eine Tragödie unserer Zeit, eine der vergifteten, wenn auch nicht zufälligen Früchte der Globalisierung und der kapitalistischen Modernisierung, nicht zuletzt des verbrecherischen Finanzkapitals. (Bertinotti, Chef der Rifondazione, Il Manifesto 3.4.97)

[7] Noch einmal Bertinotti: Es ist nötig und möglich, von Europa zu erwarten, daß es sich nicht nur um das Geld und die Fesseln von Maastricht kümmert, sondern auch um die staatsbürgerliche Krise, die auf unserem Kontinent herrscht. Sonst ist Europa nicht in der Lage, dem albanischen Volk Hilfe zu leisten, eine friedliche Intervention durchzuführen und eine konkrete Politik zu betreiben. (Il Manifesto 3.4.97)

[8] Der Konkurrenz um die jeweilige Rolle beim gemeinsamen Einsatz bediente sich des Verdachts, die jeweils anderen würden nationale Sonderinteressen verfolgen, statt die gebotene internationale Solidarität zu üben: Gewiß findet in Albanien kein ethnischer Bürgerkrieg statt, aber es könnten griechische (wegen der griechischen Volksminderheit im Land), ja selbst bosnische Sonderinteressen im Spiel sein. (Corriere della Sera 30.3.97) Diesen Verdacht erhebt die Nation, der wiederum alle anderen Beteiligten zutrauen, vorrangig nationale Ambitionen in Albanien zu verfolgen.