Neues von der ersten Front im „Krieg gegen den Terror“
Das Ende der Erfolgsgeschichte beim afghanischen ‚nation building‘ fordert und strapaziert die Solidarität der Nato-Befreiungskrieger

Nachdem die Befriedung, der Aufbau und die Demokratisierung fünf Jahre unaufhaltsam ihren fortschrittlichen Lauf genommen haben, herrscht laut gut unterrichteten Kreisen in Politik und Öffentlichkeit inzwischen hauptsächlich wieder Krieg in Afghanistan. Das Bild, das sie selber gezeichnet haben und das durch laufende Meldungen von Anschlägen, toten Talibankriegern und bombardierten Hochzeitsgesellschaften nicht zu erschüttern war, wird als Schönfärberei entlarvt. Es wird ersetzt durch die Warnung vor einem drohenden Scheitern des Gesamtprojekts und die Beschwörung, dass „wir das afghanische Volk“ jetzt erst recht „nicht (schon wieder) im Stich lassen dürfen“.

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Neues von der ersten Front im „Krieg gegen den Terror“
Das Ende der Erfolgsgeschichte beim afghanischen ‚Nation Building‘ fordert und strapaziert die Solidarität der NATO-Befreiungskrieger

Nachdem die Befriedung, der Aufbau und die Demokratisierung fünf Jahre unaufhaltsam ihren fortschrittlichen Lauf genommen haben, herrscht laut gut unterrichteten Kreisen in Politik und Öffentlichkeit inzwischen hauptsächlich wieder Krieg in Afghanistan. Das Bild, das sie selber gezeichnet haben und das durch laufende Meldungen von Anschlägen, toten Talibankriegern und bombardierten Hochzeitsgesellschaften nicht zu erschüttern war, wird als Schönfärberei entlarvt. Es wird ersetzt durch die Warnung vor einem drohenden Scheitern des Gesamtprojekts und die Beschwörung, dass „wir das afghanische Volk“ jetzt erst recht „nicht (schon wieder) im Stich lassen dürfen“. Ein Abzug der Soldaten, weder der amerikanischen noch unserer friedliebenden deutschen, darf und wird nicht sein. Vielmehr ist die Zahl der hochgerüsteten westlichen Kampf- und Besatzungstruppen auf 40.000 angewachsen und weitere dringliche Appelle des NATO-Generalsekretärs zielen auf mehr. Dies die vorläufige amtliche Bilanz eines ‚Nation-Building‘-Programms, für das sich nach dem Blitzkrieg der USA gegen die Heimstatt der 9/11-Terroristen immerhin die UNO, die NATO und 37 Staaten vor Ort stark gemacht haben.

I. In Afghanistan steht eine komplette Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse auf dem Programm. Der einzige Zweck der importierten Demokratie, welche als Ersatz für die Taliban-Diktatur verordnet wird: Sie soll den USA und ihren Verbündeten die totale strategische Kontrolle über Land und Leute verschaffen. Ein bisschen Fortsetzung des Krieges und ein paralleles internationales Betreuungswesen zum Billigtarif sollten dafür reichen. Tatsächlich entfalten die unvermeidlichen Widersprüche der praktizierten Befriedungsstrategie ihre destruktiven Wirkungen und sorgen so für eine neue imperialistische Auftragslage.

Wenn die westlichen Kriegsherren auf die „schwierige Lage“ am Hindukusch blicken, sind sie meist nicht verlegen, „Ursachen“ dingfest zu machen. Die fassen sich recht griffig darin zusammen, dass die bösen Widersacher des guten Aufbauwerks schuld daran sind, dass es in Krieg und Chaos zu versinken droht. Dass es „immer noch“ oder „wieder vermehrt“ Kämpfer und Anhänger der beseitigten Taliban-Herrschaft gibt, immer noch bzw. gar wachsenden Widerstand von Stammesführern und immer noch oder mehr denn je Opiumfelder als einzige echte Geldquelle, an der sich vor allem die Feinde der oktroyierten Demokratie bereichern – diese tiefschürfende Analyse bekräftigt auf jeden Fall den politischen Willen, alle Widerstände zu brechen, die sich dem beabsichtigten Aufbau in den Weg stellen. Sie gibt darüber hinaus Auskunft über die Kontinuität des zynischen Idealismus von Weltordnungsmächten, die aus der zweifelsfreien Überlegenheit ihrer Gewalt die universelle Güte ihrer Herrschaftsform und den Auftrag ableiten, der afghanischen Bevölkerung genau die neue Obrigkeit zu spendieren, die sie ihr gerade aufzwingen. Natürlich haben die Amerikaner – ganz im Sinne der demonstrativen Vollstreckung und Wiederherstellung ihres weltmächtigen Abschreckungsregimes nach den Terror-Attacken – nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass es ihnen um die Liquidierung eines Staatswesens geht, das antiamerikanischen Attentätern eine Heimstatt bot, sowie um die Einrichtung einer lokalen Vasallenherrschaft, mit deren Hilfe die strategische Kontrolle und Nutzbarmachung dieses zentralasiatischen Landes sichergestellt werden soll. Die Art und Weise der Durchsetzung dieses Zwecks, welcher die NATO ihren eigentümlichen zivil-militärischen Einsatzauftrag (und ihr UNO-ISAF-Mandat) verdankt, folgt dabei von Anfang an einer ziemlich abenteuerlichen Fall-Diagnose. Derzufolge ist mit dem erfolgreichen Bombenkrieg und der Vertreibung der Taliban die alte Ordnung, da sie ja auf purer Unterdrückung beruhte, so gut wie beseitigt, so dass sich die amerikanischen Elitetruppen um die Reste der Gotteskrieger kümmern können, während daneben und hauptseitig der Aufbau einer demokratisch-stabilen Ordnung mit eingebauter Loyalität gegenüber den Befreiern vonstatten gehen kann. Diese zuversichtliche Diagnose wird zum Leitfaden für eine komplette Staatsneugründung, sie wird praktisch umgesetzt in der bekannten Mixtur aus kriegerischer und zivil-entwicklungshelferischer Abteilung. Und zwar nicht nur von den bewaffneten Mannschaften des Präsidenten Bush, dem in europäischen Kulturkreisen des öfteren „missionarische Verblendung“ attestiert wird, sondern ebenso von den Aufbauhelfern in Uniform, die Deutschland und andere europäische Regierungen nach Afghanistan entsandt haben. Das Zwischenergebnis liegt jetzt vor und ist täglich den Zeitungen zu entnehmen. Zu konstatieren ist die Eskalation des Widerstands, der Gesetzlosigkeit, der Ruinierung der Lebensgrundlagen und der Verelendung der Bevölkerung. Was nicht vermeldet, aber auch kein Geheimnis ist: Diese Bilanz ist das Produkt der militanten Befreiungsstrategie, welche die USA und ihre NATO-Partner schön arbeitsteilig vorangebracht haben, und nicht von „Versäumnissen“ oder „Problemen“ bei ihrer Umsetzung.

  • Das Leitmotiv der Aufbaustrategie, die Jagd nach den „Restposten“ des alten Talibanregimes beseitige vollends die Quellen der antiwestlichen Gewalt, behandelt den Rückhalt, den dieses Regime in der Bevölkerung großer Landesteile hatte, militärisch gesehen als irrelevant. Das rächt sich zwangsläufig, da die Gotteskrieger den Rückhalt zu nutzen wissen, um sich zu reorganisieren. Und wenn der Tatsache der „paschtunischen Basis“ der Taliban dann politisch Rechnung getragen wird, indem ein passender Paschtunenhäuptling als neuer Präsident ausgesucht wird, so gilt der schnell als Marionette der Eroberer – in deren Interesse er schließlich agiert!
  • Von Kabul aus soll ein neues staatliches Gewaltmonopol etabliert werden. Es soll die gewünschten Ordnungsdienste leisten, um keinen Raum mehr zu lassen für fundamentalistische Krieger. Eine regelrechte Besatzung zur Ausübung flächendeckender militärischer Kontrolle ist nicht vorgesehen. Solch einen Aufwand halten die Staatsmänner in Washington und Europa weder für nötig noch für lohnend. Die Stammesführer, welche die Macht über die verschiedenen Landstriche haben und behalten wollen, deswegen jetzt Warlords heißen, sollen nicht gewaltsam entmachtet, sondern eingebunden werden. Per demokratischer List sollen sie sich in Geburtshelfer einer zentralisierten Herrschaft verwandeln und sich dergestalt selbst entmachten. Die Rechnung geht nicht auf. Wie auch, wenn sich ihre Interessen und die der Kabuler Zentrale ausschließen. Zwar lassen sich die rivalisierenden Stammesführer durchaus zur Teilhabe bestechen – sie nehmen das Angebot wahr, im Parlament oder sogar in der Regierung ihre „Volksgruppen“ zu vertreten. Den geforderten Dienst aber, die eigenen Machtambitionen zugunsten der Anerkennung des von Karsais Auftraggebern definierten Staatswillens aufzugeben, bleiben sie schuldig. Stattdessen nutzen sie alle politischen Gelegenheiten, Einfluss und Mittel zu gewinnen, um ihre lokale Herrschaft zu stärken. Und wenn ihnen deswegen ökonomische Aufbaugelder der ‚Internationalen Gemeinschaft‘ vorenthalten werden, da sie bei den einbestellten NGOs besser aufgehoben erscheinen, stützen sie sich weiterhin und erst recht auf ihre stammeseigene bzw. ethnische Hausmacht – und schrecken auch vor Bündnissen mit traditionellen Rivalen nicht zurück, wenn die NATO/ ISAF-Teams sie auf ihrem Terrain nicht mehr in Frieden lassen.
  • Eine nationale Armee und Polizei sollen aufgebaut werden, deren wesentlicher Auftrag lautet, die Widersacher einer US-/NATO-Ordnung künftig autonom zu vernichten. Als Instrumente kommen Panzer und Kalaschnikows aus sowjetischen Beständen zu neuen Ehren sowie ein Budget, welches regelmäßigen Sold für die aus dem Elendsheer der Bauern Rekrutierten nicht hergibt. Das fördert nicht gerade die Kampfmoral, wohl aber die Bereitschaft, im Zweifel der tradierten Loyalität zu den Stammesführern den Vorrang zu geben und so die Position der Warlords zu stärken, gegen welche sie eigentlich antreten sollen. Zumal wenn diese besser zahlen, da die Einnahmen aus dem Drogengeschäft florieren.[1]
  • Dem Land wird parallel zur „Demokratisierung“ eine Marktwirtschaft verordnet, von der die Leute und die neue staatliche Gewalt, der sie dienen sollen, wenn nicht jetzt, so doch in Zukunft leben können sollen. Importierte Berater geben Nachhilfeunterricht und empfehlen dem darbenden Bauernvolk den Anbau von Nüssen statt Opium. Tatsächlich blüht die einzige Reichtumsquelle, die der afghanische Boden dem Weltmarkt zu bieten hat: der Mohn, der einige Leute reich und viele Arme glücklich macht. Die Ware ist als gesundheitsschädlich verboten und ihre Vermarktung stört Bush & Co. um so mehr, als sich die Warlords mit ihrem lukrativen Schmuggel die Pfründe sichern und ihre kriegerische Macht vergrößern. Schon wieder ein echtes Dilemma für die Anwälte einer stabilen Nach-Taliban-Ordnung. Das einzig real existierende Bereicherungsmittel – Afghanistan bedient inzwischen 90% dieses schwarzen Weltmarkts – zu dulden, um den brüchigen Frieden mit den Stammesclans nicht zu gefährden, baut die Feinde der Kabuler Zentralgewalt geradezu auf. Eine Vernichtung der Opiumfelder wiederum, deren programmatische Dringlichkeit parallel zu ihrer Ausdehnung beteuert wird, macht aus jenen Kriegsherren, die bislang nicht selten die Camps der Provincial Recovery Teams (PRT) der NATO und die NGOs beschützen, entschiedene Feinde und damit potenzielle Bündnispartner für die Taliban, die sich inzwischen die Einnahmen aus dem Drogenschmuggel friedlich mit den Clanchefs teilen. Und sie macht aus dem Elend der abhängigen Kleinbauern eine Nachschubbasis für den Dschihad.
  • Die Taliban haben ein Rückzugsgebiet und ihnen wohlgesonnene Stämme jenseits der östlichen Grenze, auf dem Boden Pakistans. Ihre Bekämpfung dort soll die pakistanische Regierung leisten, schließlich ist Präsident Musharraf für den Präsidenten Bush „ein Freund“. Zu einem solchen geworden ist er nach eigenem Bekunden, da die US-Regierung ihn 2001 dazu erpresst hat, die Seite zu wechseln, andernfalls sein Land „in die Steinzeit zurückgebombt“ werde. Seitdem tut der General, früher Militärdiktator genannt, was er kann, ohne einen regelrechten Eroberungskrieg im eigenen Land führen zu müssen und damit einen allgemeinen Aufstand der muslimischen Massen herbeizuführen. Das reicht jedoch nicht, um den Taliban samt al-Kaida-Kriegern ihre Exil-Herberge zu nehmen, allerdings schon dafür, dass diese einige Zehntausend Kämpfer aus den Provinzen Waziristans gegen den gottlosen US-Imperialismus und seine Lakaien, also auch für die Rückeroberung Afghanistans gewinnen. Die Taliban-Kämpfer sickern folglich immer zahlreicher über die Ostgrenze ein – und sie finden immer mehr traditionelle Machthaber und Leute vor, die bereit sind, ihnen Schutz und Unterstützung gegen die Besatzer zu gewähren, deren Aufbauwerk immer mehr auf seinen kriegerisch-destruktiven Kern zurückkommt.

    Denn der wachsende Widerstand und das Chaos, welches die Mixtur aus Krieg und ‚Nation Building‘ im Lande anrichtet, schaffen einen regelrechten Sachzwang zur gewaltsamen Offensive für die imperialistischen Zivilisationsbringer, welche den zentralasiatischen Staat längst als ihre strategische und logistische Bastion verbucht haben – also zu systematischen Kriegsaktionen gegen die sich reformierenden Koranschüler, renitente Warlords und deren zivile Bevölkerungs-Basis. Deren Terrorisierung ist schließlich unvermeidlich, da sie doch von den Gotteskriegern „als Schutzschild benutzt wird“, sprich: ausgerechnet dort haust, wo die Taliban oder andere Widersacher der US-/NATO-Ordnung sitzen.

II. Die amerikanische Weltmacht und ihre europäischen Konkurrenten beauftragen die NATO, den Erfolg der Mission in Afghanistan sicherzustellen. Mit dieser Ermächtigung übernimmt die transatlantische Kriegsallianz den ersten veritablen außereuropäischen Einsatz zur Friedensschaffung und folglich die erste Bewährungsprobe für ihren neuen Status als weltweit agierende Kampfmaschinerie gegen Störenfriede, die sich den Weltordnungsimperativen aus Washington und Brüssel nicht unterwerfen. Das Bündnis ist damit ab sofort haftbar für das Gelingen oder Scheitern des Gesamtprojekts. Auch darin besteht Konsens. Zugleich betrachtet – mit Ausnahme Amerikas – keine Nation, die den NATO-Einsatz in Afghanistan gutheißt, die Front am Hindukusch als ihren Krieg, dem sie sich vorbehaltlos verschreibt und alle nötigen Mittel opfert. Damit ist ein handfester Widerspruch etabliert, dessen Verlaufsformen am gemeinsamen Kriegsschauplatz zu beobachten sind, dessen praktische Auflösung aber noch aussteht. Weil all die NATO-Partner am Hindukusch ihre Freiheit – und damit auch und gerade ihre Weltordnungsrechte gegeneinander – verteidigen, eskaliert an und mit diesem Fall neuerlich die Machtfrage zwischen ihnen.

1. Die NATO übernimmt die Aufsicht in und über Afghanistan

Die Antwort auf die prekäre ‚Lage‘, welche die Stabilisierungsbemühungen nach dem Regimewechsel in Afghanistan hervorgebracht haben, ist die Intensivierung und Ausweitung der Kampffronten und des Mitteleinsatzes der involvierten Ordnungsmächte. Die von der UNO mandatierte und von der NATO organisierte International Security Assistance Force (ISAF) wird auch im Süden und Osten des Landes und damit flächendeckend aktiv. Ein Teil der US-Truppen, die bislang unter dem Titel „Enduring Freedom“ die Taliban jagten, wird förmlich integriert und dem britischen Oberkommandierenden unterstellt. Die ursprünglich nur für die Friedenssicherung in der Hauptstadt und den Schutz unseres Präsidenten aufgebotene NATO ist inzwischen mit 32.000 Soldaten, davon 12.000 Amerikanern unterwegs. Ihr aktueller Auftrag: die Kontrolle des ganzen Landes und, darin eingeschlossen, die Veranstaltung aller nötigen Kriegsoffensiven, um den wachsenden Widerstand im Lande zu ersticken, der sämtliche ‚Nation-Building‘-Initiativen zunichte macht oder zu machen droht. Es soll Schluss gemacht werden mit – so die selbstkritische Diagnose – zu viel Zurückhaltung beim Kampf gegen die Taliban, die diese Zurückhaltung genutzt haben, um heimlich ganze Provinzen zurückzuerobern, und mit zu viel Toleranz gegenüber den unverbesserlichen Warlords. Die Lehre aus der 5 Jahre lang praktizierten Doppelstrategie von Umwälzung und berechnender Instrumentalisierung der existierenden Machtverhältnisse lautet ab sofort: Ohne die unanfechtbare Gültigkeit eines von den Besatzungsmächten ausgehenden Gewaltmonopols ist alles nichts; keine Schule ist sicher; keine Straßenverbindung ist haltbar; keine Wahlen sind nützlich im Sinne des Erfinders – wenn nicht die Gewaltfrage entschieden wird. Was damit praktisch angesagt ist, das ist ein verallgemeinerter Krieg gegen widerständige Regionen und alle sonstigen Bastionen und Zufluchtsorte von Taliban- und anderen Terroristen – und gegen die Bevölkerung, die unter strategischem Gesichtspunkt betrachtet „den Feind schützt“. Die „Kollateralschäden“ unter den Zivilisten nehmen also ihren unvermeidlichen Aufschwung.[2]

Was die Staatsmänner diesseits und jenseits des Atlantik wesentlich mehr beschäftigt, das sind die bündnis- und weltpolitischen Veränderungen, welche die – den Drangsalen vor Ort geschuldete – Ausweitung der NATO-Mission, gewollt oder ungewollt, mit sich bringt. Der neue Auftrag bedeutet ja immerhin, dass die NATO, deren Einsatz bis neulich vor allem als europäisch-friedensimperialistisch motivierte Stabilisierungs- und Aufbautruppe definiert war, nachdrücklich geschieden von den antiterroristisch aktiven Kriegskommandos der US-Armee, zu dem insgesamt zuständigen, auch für die militärische Durchsetzung gegen Taliban und al Kaida verantwortlichen Subjekt befördert wird. Die alte „Arbeitsteilung“ zwischen den USA und Briten einerseits, den Europäern andererseits ist aufgehoben. Die NATO ist damit – etwas verspätet, erstmals, zumindest für den Fall der Etappe Afghanistan – zum Instrument des Antiterrorkriegs geworden, eines Kriegs, den die Weltmacht USA für die Durchsetzung einer gleichgeschalteten Staatenwelt initiiert hat und nach ihren Vor- und Maßgaben (an)führt. Die „Verschmelzung“ von US-Mission und Bündniszweck ist institutionalisiert in Gestalt eines gemeinsamen NATO-Kommandos, dessen Chef ein Brite und dessen Stellvertreter ein Ami ist. Wenn der NATO-Generalsekretär diese „Integration“ stolz als Beweis für die „gewachsene Bedeutung und globale Verantwortung“ der Bündnisorganisation würdigt, dann stellt er zugleich den neuen Bewährungs-Maßstab klar: Das Kriegsbündnis muss seinem eigentlichen Anspruch als unwiderstehliche Militärmacht gerecht werden, die sich nicht von Gleich zu Gleich mit irgendwelchen Kriegsparteien misst, sondern über aller Gewalt-Konkurrenz stehend jederzeit fähig ist, diese zu entscheiden und aus Feindstaaten zuverlässige Vasallen zu machen. Das ist der engere militärische Gehalt der diplomatischen Formel, wonach ab sofort die „Glaubwürdigkeit“ der NATO auf dem Spiel steht und ein Scheitern in Afghanistan das Ende der NATO bedeuten könnte. Eine Feststellung, die als ernste Mahnung und Forderung an die Mitgliedstaaten dieses Bündnisses gemeint ist. Denn es ist – offenbar – gar nicht selbstverständlich, dass sich die Partner den gemeinsamen, jedenfalls gemeinsam erteilten Auftrag so zu Herzen nehmen, dass sie sich ihm ohne Vorbehalte verschreiben.

2. Die USA wollen die NATO als Teil ihres Kriegspotenzials kalkulieren und die Verbündeten haftbar machen für Erfolg und Misserfolg ihrer Kriege

Die Amerikaner haben ein Ziel erreicht, das sie bereits seit Jahren verfolgen: die Verschmelzung beider Abteilungen des imperialistischen Staatsgründungsprojekts Afghanistan und damit die definitive Einspannung der NATO in ihr Kriegsprogramm – dass es andersherum wäre, auf die Idee kommt bei der Allianzvormacht sowieso keiner! Was sie bis bislang bekommen hatten, das reichte ihnen nämlich überhaupt nicht: Zwar ist es ihnen nicht schwergefallen, die europäischen NATO-Partner zu – keineswegs selbstlosen – Beweisen ihrer politischen Solidarität nach dem 11.9. zu bewegen; immerhin sorgen sie seit der kriegerischen Entmachtung der Talibanregierung für die Beaufsichtigung des Nachkriegsfriedens in der Hauptstadt, den Personenschutz für die Vasallenregierung und eine gewisse Präsenz im talibanfreien Gelände. Dabei aber war die politische und räumliche Distanzierung dieser „friedlichen Aufbaudienste“ von der blutigen Abteilung, d.h. dem fortgesetzten Luft- und Bodenkrieg der Amerikaner, die bleibende Geschäftsbedingung. Damit ist nun Schluss. Die Übernahme der landesweiten Zuständigkeit in Sachen Friedenssicherung involviert jetzt, da sich der faktische Kriegszustand auf immer mehr Landesteile erstreckt, die NATO automatisch in direkte Kämpfe mit dem Feind. Die wachsenden Schwierigkeiten mit den Taliban und Warlords werden so zur Gelegenheit, die zaudernden Partner in die Rolle hineinzuzwingen, die der amerikanischen Lesart von Bündnistreue entspricht.

Sinn und Zweck der Aufwertung der NATO-Rolle sind für die Regierung in Washington keine Frage: Die USA wollen möglichst viele Lasten, die sich im Gefolge (nicht nur) dieser Etappe ihres Weltordnungskrieges ergeben, delegieren – an zuverlässige und potente Verbündete, welche ihnen die NATO gefälligst zu liefern hat. Sie wollen Lasten loswerden, nicht nur finanzielle und politische Entwicklungshilfen, sondern auch militärischen Aufwand fürs Abräumen der nicht aufgebenden Gegner, wofür Ex-Verteidigungsminister Rumsfeld mal locker ein Jahrzehnt veranschlagt. Zur Entlastung der eigenen Truppen, die schließlich für die Entscheidung der Machtfrage im Irak und die laufenden Programme zur Entmachtung anderer Schurken-Regimes zur Verfügung stehen müssen. Die Amerikaner ziehen also aus den destruktiven Wirkungen ihrer abschreckenden Gewalt den doppelten Schluss, dass dann eben mehr Kriegsgewalt nötig ist, um das Endziel zu erreichen; und sie machen aus den Rückschlägen bei der Durchsetzung einer garantiert US-loyalen Gewaltordnung einen Hebel zur verstärkten Inanspruchnahme der Verbündeten. Dafür unterstellen die Amerikaner erstmalig den Großteil ihrer vor Ort kämpfenden Truppen einem NATO-Oberbefehlshaber, der kein Ami ist. Für die Regierung der Weltmacht ist sonnenklar: Die NATO steht ab sofort für ihr Ziel ein und sie behält sich alle Freiheiten der Kriegführung und all die selbstverständlichen Sonderrechte und -kompetenzen vor. Das tut sie u.a., indem sie 8000 Mann unter ihrem exklusiven Befehl belässt und den Stützpunkt Bagram, die Gefängnisse und die Folterzentren unter ihrer ungeteilten Verfügungsgewalt hält. Auch die völkerrechtlich delikate Aufgabe des grenzüberschreitenden Kriegs, mit welchem der pakistanischen Regierung vorexerziert wird, was ihre souveräne Pflicht wäre, wollen die Amerikaner nicht von etwaigen Skrupeln oder Mitbestimmungsflausen profilierungssüchtiger Verbündeter abhängig machen.[3] Ein „war on committee“ wie im Balkankrieg, der das Entscheidungsmonopol der USA über die nötigen Kriegsziele und die Art, sie zu verfolgen, antastet, ist also nicht beabsichtigt; das amerikanische Kriegsmonopol soll vielmehr geltend gemacht und bekräftigt werden: durch eine neue Arbeitsteilung, die sich ganz nach den Interessen der USA richtet und die darauf zielt, dass die NATO alle gewünschten Hilfsdienste effizient abliefert.

In diesem Sinne stellt sich Amerika ganz hinter die NATO. Zugeständnisse der europäischen Verbündeten werden zum Argument, noch mehr Linientreue einzufordern. Das Motto: Wenn die NATO sich nun endlich den Auftrag der Befriedung Afghanistans zueigen gemacht hat, hat sie doch wohl ab jetzt die bedingungslose Unterstützung durch alle Mitglieder verdient! Diejenigen, die sich immer noch zieren, haben zu kapieren, dass sie auf entsprechende Anforderungen der NATO zusätzliche Truppen bereitzustellen haben, die „ihren Job machen“. Auch die Einsatzrestriktionen für ihre nationalen Kontingente müssen endlich fallen, da sie eindeutig die von Amerika geführte gemeinsame Mission gefährden. Und überhaupt wird die erfolgreiche Dienstverpflichtung der NATO im Fall Afghanistan von den Amerikanern als eine hervorragende Gelegenheit wahrgenommen. Sie starten eine neuerliche diplomatische Offensive, um die fallweise übernommene Funktion gleich in einen grundsätzlichen Status der NATO – als dauerhafte Koalition williger Helfershelfer für Amerikas Antiterrorkrieg – zu verwandeln und diesen zur gültigen NATO-Doktrin zu machen.[4] Dementsprechend und dafür wird auch der drohende Imperativ erneuert, dass die europäischen Verbündeten endlich den gemeinsamen Aufrüstungsbedarf ernst zu nehmen und ihren Verteidigungshaushalt aufzustocken haben. Sonst stehen sie in den kommenden Fällen, für die Amerika sie zu brauchen gedenkt, schon wegen ihrer inkompatiblen Kriegsführungsfähigkeiten im Abseits, aus dem sie doch herauszukommen trachten. Oder etwa nicht?

III. Wie Imperialisten der zweiten Garnitur in einen Krieg „hineinschlittern“: Die europäischen Verbündeten wollen mittels der NATO, deren Führungsmacht Amerika ist, autonome Beiträge zur Kriegsagenda der USA liefern, um nicht deren Opfer zu werden. Jetzt werden sie von Amerika in Haftung genommen, um eine Niederlage der NATO abzuwenden, die auch ihre eigene wäre.

Die europäischen Staaten sind seit langem als NATO mit ISAF-Mandat in Afghanistan präsent, z.T., wie Italien und Spanien, neuerlich dort verstärkt tätig – auch zwecks bündnispolitischer Kompensation ihres Abzugs aus dem Irak. Sie haben der Erweiterung des NATO-Einsatzauftrags und zuletzt auch der Verschmelzung mit den Krieg führenden US-Truppen zugestimmt, die einige von ihnen, allen voran die Deutschen und Franzosen, vorher hartnäckig abgelehnt haben. Das bedeutet aber keineswegs, dass sie damit ihre Vorbehalte dagegen fallen lassen, sich in den Krieg der Amerikaner „hineinziehen“ zu lassen. Es bedeutet vielmehr, dass die NATO-Staaten des „alten Europa“ jetzt ein großes Problem haben.

Denn der Grund, weshalb es die Hauptmächte der Europäischen Union, die auf mehr weltpolitische Eigenständigkeit aus sind, nach Afghanistan gezogen hat, war und ist ja nicht zu verwechseln mit einer Parteinahme für die Zielsetzung des amerikanischen Antiterrorkriegs und erst recht nicht mit dem Interesse, die eigenen Streitkräfte in die von Amerika für nötig befundenen Schlachten zu schicken. Sie sehen in der afghanischen Front vielmehr den Auftakt einer Aufmischung der Staatenwelt, mit der die einzige Weltmacht das von ihr beanspruchte Weltordnungsmonopol gegen alle Widerstände durchsetzen will – und damit eine Bedrohung ihrer eigenen Ansprüche. Ihr Solidaritäts-Angebot an die USA, sprich: der politische Wille, sich an der Zerstörung der alten und der Einrichtung einer neuen Herrschaftsordnung in Zentralasien zu beteiligen, verfolgt dementsprechend das sehr prinzipielle, pur weltherrschaftliche Interesse, sich in die von den USA in Angriff genommene Umwälzung der globalen Gewaltordnung – nicht als betroffene Opfer oder als amerikanische Hilfsassistenten, sondern als deren Mit-Subjekteinzuschalten. Der Kriegsschauplatz Afghanistan fungiert als Anlass und Gelegenheit, dieses Recht exemplarisch zu demonstrieren und auf diese Weise grundsätzlich einzufordern.

Die Widersprüche dieses berechnend-kooperativen Imperialismus der Einmischung – durch Beiträge, die keine Unterordnung sein sollen – haben zuerst zu dem Paradox geführt, dass Deutschland und andere US-Verbündete Soldaten nach Afghanistan schicken, aber nicht mit dem Auftrag, Feinde zu bekämpfen, sondern einen friedlichen Neuaufbau zu sichern, wenn nicht selbst die Rolle von Entwicklungshelfern zu spielen. Dass derweil der Feind noch sehr aktiv ist und traditionelle Clanfürsten ihre Besitzstände konsolidieren, soll nicht weiter stören. Weil es um die Untermauerung autonomer Machtansprüche geht, ist die Abgrenzung der eigenen Mission von der amerikanischen entscheidend. Daher rührt das Bestreben in Berlin, Rom und Madrid, die eigenen Beiträge einerseits so zu gestalten, dass an ihrer praktischen Relevanz kein Zweifel aufkommen kann, sie andererseits in möglichst risikominimierten Szenarien und in räumlicher wie diplomatischer Distanz zu den kontinuierlichen Vernichtungsaktionen der amerikanischen Truppen abzuwickeln. ‚Feigheit vor dem Feind‘ ist also nicht der Sachverhalt, sondern die Form, in der klargestellt wird, dass die Umtriebe der genuin-europäisch inspirierten NATO-ISAF-PRTs auf keinen Fall zu verwechseln sind mit einem Vasallendienst für den amerikanischen Kriegsherren, dessen Bombardements die materielle Grundlage für die großartigen Zivildienste der europäischen Mannschaften legen – und vollkommen gebilligt sind.[5] Die gleichzeitig unter US-Kommando Terroristen jagende deutsche Eliteeinheit namens KSK – welche die Amerikaner gebrauchen können und die Deutschen ihnen als Beweis ihrer unverbrüchlichen Bündnistreue zur Verfügung gestellt haben – verbleibt aus demselben Grund verständlicherweise im Bereich der „offiziellen Geheimhaltung“. Die Bekanntmachung, dass deutsche GIs selbstverständlich dasselbe machen wie amerikanische, also wirkliche oder vermeintliche Terroristen erschießen, im Camp Bagram Wache schieben und deutsche Terrorverdächtige drangsalieren, stört schließlich nicht nur das moralische Bild von unserer ehrenwerten Truppe; sie stört auch die diplomatisch-sicherheitspolitische Abgrenzung gegen den übermächtigen „Hegemon“, mit welcher Deutschland, Frankreich u.a. tatsächlich um globalen Einfluss und Machtzuwachs – beim Rest der Welt und auf Kosten der Bündnisvormacht – konkurrieren.

Inzwischen hat die ‚Lage‘, welche die Kombination aus amerikanischem Krieg, NATO- Stabilisierungsstrategie und gegnerischem Widerstand hervorgebracht hat, die Voraussetzungen der europäischen Kalkulation hinfällig gemacht. Die EU-Nationen, die wie Deutschland auf die Mobilisierung von mehr euro-imperialer Konkurrenzmacht setzen, können sich der US-Diagnose nicht verschließen, dass die Kontrolle über das Land, auch die schon erreichte und auch die über den „ruhigen Norden“, gefährdet ist. Und sie sehen sich prompt mit dem Imperativ Amerikas konfrontiert, jetzt endgültig Farbe zu bekennen und die Lasten des Krieges zu übernehmen – oder die Solidarität zu verweigern und damit das Bündnis zu ruinieren. Da Letzteres nicht sein darf – die Allianz soll Basis und Instrument der Durchsetzung eigener weltherrschaftlicher Ambitionen sein und bleiben –, stimmen sie zu. Genauer gesagt: Sie stimmen der Ausweitung der NATO-Mission in den Süden zu, wohl wissend, dass damit die Militarisierung des Einsatzes verbunden ist. Einerseits. Andererseits eröffnen sie gleich wieder eine neue Runde des Ringens um die Abgrenzung ihres „Auftrags“ gegen das Ansinnen, sich de facto, wenn auch unter NATO-ISAF-Flagge, in einen Teil der amerikanischen Antitaliban-Kriegskoalition zu verwandeln. Ihr Einverständnis erteilen sie nämlich unter der instrumentell-hintersinnigen Prämisse, dass die „arbeitsteilige“ Abwicklung, die sie bislang favorisiert haben, auch bei einer süderweiterten Zuständigkeit der NATO „im Prinzip“ aufrecht zu erhalten ist. Ihre Verteidigungsminister gehen davon aus, dass es weiterhin die Amerikaner und ihre special friends, die Kanadier und die eigens für den Südeinsatz aufgestockten Briten sind, welche die Schlacht mit dem Feind schlagen, während man selbst – zumindest mit „Priorität“ – die „von allen anerkannten Erfolge“ im Norden mutig zu verteidigen sucht. Und wenn der NATO-Oberkommandierende angesichts der Gegenoffensiven der Taliban dringend Verstärkung und „Flexibilität“ verlangt, erkennen die angesprochenen „Drückeberger“ abermals die Notwendigkeit einer Eskalation der Kriegführung und damit die Unhaltbarkeit ihres Standpunkts an, welchen sie gleichwohl immer noch zu retten suchen. Und zwar ausgerechnet dadurch, dass sie auf dem September-Gipfel der NATO der sofortigen Ausdehnung der NATO-Zuständigkeit auch auf Ostafghanistan (also auf die Grenzregion zu Pakistan) zustimmen und den Einbau amerikanischer Kampfeinheiten gutheißen. Nach ihrer Lesart des Beschlusses ist die Zuordnung von 12.000 amerikanischen Soldaten zur NATO die passende Bedienung der Nachfrage von NATO-Chef de Hoop Scheffer und damit ein gutes Argument, ihm das von ihnen Verlangte zu verweigern! Die Ami-Truppen stehen dem NATO-Kommando „flexibel“ zur Verfügung, allzeit bereit, in jedem Winkel des Landes zuzuschlagen, dann können die deutsch-italienisch-spanischen Truppen – dies die Vision ihrer Verteidigungsminister – sich ja weiter auf ihre Provinzen konzentrieren. Mit ihren hartnäckigen Rückzugsgefechten bestehen die Euro-Verbündeten nach wie vor demonstrativ auf der souveränen Entscheidung über den Einsatz(zweck) ihrer Soldaten, auch und gerade da, wo sie ein und denselben Feind bekämpfen. Wie der kaum diplomatisch verbrämte Vorwurf von Feigheit und Parasitentum – gerade an die deutsche Adresse – zeigt, sehen die Amerikaner, sekundiert von der echt fightenden EU-Fraktion aus Briten und Niederländern, die Sache genau andersherum. Sie pochen darauf, dass ihre europäischen Partner ab sofort auch für die blutige Durchsetzung des Programms einstehen, das sie mitverabschiedet haben.

***

So wird „Afghanistan“, die erste und einzige Etappe im Krieg gegen den Terror, die sich alle NATO-Mitgliedstaaten auf ihre Fahnen geschrieben haben, in dem Maße, wie der längst verbuchte Sieg nicht mehr sicher ist, zum Stoff einer existenziellen Bewährungsprobe für die Kriegsallianz selber. Die Amerikaner wollen – mittels der NATO – die Lasten ihrer Weltordnungskriege verteilen. Für NATO-Siege aber, die nur die einzige Weltmacht stärken, wollen die auf eigenständige Machtentfaltung sinnenden europäischen Partner ihre Soldaten nicht hergeben. Für drohende Niederlagen schon gleich gar nicht.

[1] Schön auch die daraus folgende aktuelle Drangsal: Um die Effizienz der afghanischen Hilfstruppen zu steigern, wollen die Amerikaner modernes Kriegsgerät liefern. Und schon vorweg existiert im Pentagon die berechtigte Sorge, dass im Falle einer weiter in der Truppe vorhandenen Illoyalität gegenüber der Karsai-Regierung die Gefahr besteht, dass mit den modernen Waffen am Ende die Gegner des neuen Afghanistan ausgerüstet werden. (M. Clasen, „Wie der Westen die neue Freiheit Afghanistans (nicht) verspielt“, Expertise für das afghanische Wirtschaftsministerium, 24. Juli 2006) Und wenn der Paschtune Karsai inzwischen Kriegsherren der ehemaligen „Nordallianz“, welche traditionelle Feinde der paschtunischen Stämme des Südens sind, mit den obersten Sicherheitsämtern in Kabul betraut, weil er „keine Hausmacht mehr“ hat, steht für Washington seine Absetzung wegen Unfähigkeit und Korruption an – wenn es denn einen passenden Nachfolger gäbe!

[2] Sie werden vom NATO-Chef pflichtschuldigst bedauert, aber auch für gerecht erklärt, indem die produzierten zivilen Opfer – wie üblich – dem Feind angelastet und als Mittel gewürdigt werden, die durch den guten Zweck – die Demokratie – geheiligt sind: ‚Die Mädchen sind nicht zur Schule gegangen, als die Taliban Afghanistan beherrschten. Jetzt gehen sie zur Schule … Jetzt gibt es eine Regierung. Zivile Opfer sind eine Tragödie, aber wir sind dort zum Wohle der Demokratie, und sie sind da, um unsere Werte zu zerstören,‘ sagte de Hoop Scheffer. (Veröffentlichung der US-Regierung, 27.10.06)

[3] Die amerikanische Solidaritäts-Doktrin, derzufolge zunehmende Schwierigkeiten bei der Feindbekämpfung die vermehrte Übernahme von Kriegslasten durch die Verbündeten erfordern, trifft auch den pakistanischen Freund. Pakistans „doppelzüngige Politik“ soll nicht mehr geduldet werden. Also bombt man Koranschulen bzw. terroristische Trainingscamps in den Provinzen Waziristans – auf die sich Pakistans Zentralgewalt nie erstreckt hat – schon mal selber zusammen; und wenn die Regierung Musharraf solch „eine Verletzung der Souveränität Pakistans“ nicht akzeptieren will, soll sie, wie jüngst geschehen, eben beteuern, dass es sich um eine Aktion der eigenen Streitkräfte handelte – bzw., noch besser, solche Aktionen in Zukunft eben gleich selber durchführen.

[4] Das ist die Botschaft des Glückwunsches, den Präsident Bush dem NATO-Generalsekretär wegen der gelungenen Transformation des Bündnisses ausspricht: Die NATO ist eine auf Werte gegründete Organisation geworden, die mit den Vereinigten Staaten auf drei Kontinenten arbeitet, um Radikale und Extremisten zu besiegen‘, sagte Präsident Bush dem NATO-Generalsekretär am 27. Oktober im Weißen Haus. ‚Sie haben die NATO zu einer werteorientierten Organisation gemacht, die fähig ist, die wahren Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. (US-Regierung, 27.10.06)

[5] Die berechnende Betonung des völkerfreundlich-zivilen Charakters der eigenen Besatzungsmotive und die so fingierte Differenz zu den kriegswütigen Amerikanern hat zwangsläufig ihre lächerliche Seite. Der hervorgekehrte Stolz auf die eigenen Aufbauleistungen im kriegszerstörten Armenhaus Afghanistan, der sogar noch die relative Ruhe, die deutsche PRTs den Warlords lässt, als Leistung der volksfreundlichen Methode deutscher Soldaten verbucht, behauptet allen Ernstes die Überlegenheit deutscher Ordnungsstiftung gegenüber der des Großen Bruders, ohne dessen Zuschlagen es sie gar nicht gäbe – wenn man sich nicht gar dazu versteigt, die Schwierigkeiten und Feindseligkeiten, die den deutschen Friedensbringern entgegentreten, den unsensibel-konfrontativen Methoden der Amerikaner anzulasten, welche die Bevölkerung unnötigerweise gegen die schwarz-rot-goldenen Entwicklungshelfer aufbringen!