150 Jahre ‚Das Kapital‘ und seine bürgerlichen Rezensenten
Der Marxismus – zu Tode interpretiert, vereinnahmt, bekämpft

Seit einiger Zeit ist in den Reihen deutscher Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Marx und die Lektüre seines Hauptwerks wieder en vogue. Gegen die Befassung mit Marx wäre nichts einzuwenden, wäre sie nicht etwas eigentümlich.

Die moderne Marx-Rezeption in ihren Spielarten steht ganz in der Tradition des bürgerlichen wissenschaftlichen Betriebs, der es sich von Anbeginn nicht hat nehmen lassen, Marx unter dem Gesichtspunkt seiner Brauchbarkeit für Theorie und Praxis des kapitalistischen Ladens in Augenschein zu nehmen. Deren Highlights dokumentieren wir im Folgenden.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Gliederung

150 Jahre ‚Das Kapital‘ und seine bürgerlichen Rezensenten

Seit einiger Zeit ist in den Reihen deutscher Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Marx und die Lektüre seines Hauptwerks wieder en vogue. Gegen die Befassung mit Marx wäre nichts einzuwenden, wäre sie nicht etwas eigentümlich. Hatte Marx doch recht?, fragt etwa ‚Die Zeit‘ zum 150sten Jahrestag der Publikation seiner Kritik des Kapitalismus, und darüber, womit er eventuell recht gehabt haben könnte, dürfen sich Vertreter von Wissenschaft und Zeitgeist dann verbreiten: Ob er angesichts der vielen heute grassierenden Übelstände – von der Gier der Banker über das Unrecht bei der Verteilung des Reichtums bis zur Digitalisierung, die die Arbeit abschafft – nicht doch den Nagel auf den Kopf getroffen hat mit den Schlechtigkeiten, die er dem System nachsagt, und mit den Prophezeiungen seiner verhängnisvollen Entwicklung, die im ‚Kapital‘ stehen?! Zu Wort melden sich da Leute, die sich in Anbetracht der vielen Probleme, die der Kapitalismus aufwirft, offensichtlich sehr konstruktive Sorgen in Bezug auf seinen weiteren Fortgang machen. Die einen wollen Marx eventuell Brauchbares zur Erledigung der unschönen Phänomene entnehmen, mit denen das System die Menschheit traktiert. Andere sind schon damit zufrieden, sich in ihrem modernen Problembewusstsein per Lektüre einschlägiger Kapitel des ‚Kapital‘ moralisch erbauen zu können, und so steht diese moderne Marx-Rezeption in ihren Spielarten ganz in der Tradition des bürgerlichen wissenschaftlichen Betriebs, der es sich von Anbeginn nicht hat nehmen lassen, Marx unter dem Gesichtspunkt seiner Brauchbarkeit für Theorie und Praxis des kapitalistischen Ladens in Augenschein zu nehmen. Deren Highlights dokumentieren wir im Folgenden, denn auch wenn sich für die freie Wissenschaft heute der militante Impetus, ad personam Marx die Gegnerschaft zum kommunistischen System durchzukämpfen, erledigt hat: Erstens sind die wissenschaftlichen Argumente, mit denen man seine Theorie aus dem Bereich dessen, was sich für verantwortungsvolles wissenschaftliches Denken ziemt, aussortiert hat, nach wie vor Standard des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Denkens, wie es an den Universitäten gelehrt wird. Und zweitens hat sich an dem interessierten Standpunkt, von dem aus man sich derart an Marx zu schaffen macht, schon gleich nichts geändert, wenn Wissenschaftler unserer Tage im ‚Kapital‘ zur Abwechslung einmal nach interessanten Wegen einer möglichen Verbesserung der kapitalistischen Welt suchen.

Der Marxismus – zu Tode interpretiert, vereinnahmt, bekämpft

Die Befassung der bürgerlichen Wissenschaft mit Marx ist ein Kapitel für sich. Da treten Forscher aus so gut wie allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zur Würdigung eines Mannes an, über den zumindest so viel klar ist: Seine ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ kritisiert die von ihnen wegen ihrer unerreichten Effizienz so überaus geschätzte Wirtschaftsweise des Kapitalismus als Klassengesellschaft und mündet in den Aufruf an die geschädigte Klasse, diese abzuschaffen. Das System der Lohnarbeit hat er für einen Skandal gehalten und den Proletariern aller Länder geraten, es mit vereinten Kräften zu beseitigen. Und auch den Philosophen, Ökonomen und Sozialwissenschaftlern, mit denen er seinerzeit konfrontiert war, wusste der Erfinder des wissenschaftlichen Sozialismus wenig Gutes nachzusagen. Die Nationalökonomie hat er in Grund und Boden kritisiert und ihr wegen ihres parteilichen Denkens das Attribut ‚bürgerlich‘ verliehen. Und an der aufkommenden Soziologie Comtes ist ihm vor allem ihr Interesse an Rezepten für die Garküche der Zukunft (I / S. 25) aufgefallen, also: viel Apologie und null Wissenschaft.

Schwerlich übersehen können die bürgerlichen Denker von heute, dass sie es hier mit einem Mann zu tun haben, der etwas anders tickt als sie; dass sie einen Gegner ihres Treibens vor sich haben. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass sie sich in irgendeiner Weise bemüßigt fühlen würden, dessen Theorie als Kritik auf sich zu beziehen. Auch dort, wo sich Marx alle argumentative Mühe gibt, Gedanken zu zerstören, die sie zum Traditionsbestand ihrer Disziplin rechnen und in Kurs halten, sehen sie sich nie veranlasst, sich mit Einwänden gegen ihre Wissenschaft auseinanderzusetzen. Sie tun Marx die zweifelhafte Ehre an, ihn als einen der ihren zu nehmen – erst einmal und im Prinzip jedenfalls. Ökonomen, Soziologen, Wissenschaftstheoretiker usf. lassen es sich nicht nehmen, auch und gerade den Kritiker des bürgerlichen Systems und seiner wissenschaftlichen Dolmetscher (I / passim) gewissermaßen als wissenschaftlichen Kollegen zu würdigen und seine Theorie sine ira et studio zu besichtigen: Sie messen Marx’ Kritik der politischen Ökonomie an ihren Maßstäben und ihrem Regelwerk für Wissenschaftlichkeit. Nach bestem Wissen und Gewissen und mit ganz viel philologischer Akribie wird sein Werk daraufhin untersucht, wie es da um den methodischen Ansatz, die empirische Basis, die Begrifflichkeit und anderes mehr bestellt ist – und so in konstruktivem Geist der Versuch unternommen, die Theorien von Marx als Beitrag zu ihrer Wissenschaft zu verstehen. Wo ihnen das nicht oder nur schlecht gelingt, ist für sie dann freilich schon das Urteil fällig: Hier ist ein falscher Fuffziger am Werk. Das von bürgerlichen Denkern praktizierte Verfahren, sich jede Theorie, mit der sie es zu tun kriegen, ihrer eigenen Wissenschaft gemäß zurechtzudenken, gerät hier endgültig zum absurden Theater; seine Anwendung artet aus in eine Spiegelfechterei im Umgang mit einem politisch missliebigen Theoretiker.

I. Die „Wertlehre“: Ein total unbrauchbarer Ansatz fürs richtige wissenschaftliche Verständnis des Kapitalismus!

Der Ökonom Joseph A. Schumpeter gibt ein schönes Beispiel dafür ab, wie die moderne Wirtschaftswissenschaft diese Auseinandersetzung führt. Zu Beginn seiner Abhandlung über den Wirtschaftstheoretiker Marx versichert er, dass ihm durchaus daran gelegen ist, den Argumenten von Marx Gerechtigkeit widerfahren zu lassen:

„Hier mag nun in verzweifelter Kürze ein Abriß des Marxschen Arguments folgen.“ (V / S. 45)

Wenn es ihm darum zu tun ist, stellt sich allerdings die Frage, warum er dann nicht die Theorie und die Argumente nimmt, die Marx dargelegt hat. In seiner Darstellung bekommt man den Eindruck, dass von einem Argument in der von ihm referierten Theorie weit und breit nichts zu sehen ist. Wie es für Kritiker der Marxschen ‚Arbeitswertlehre‘ aus dem Umkreis der modernen Volkswirtschaftslehre durchaus üblich ist, hebt sein Referat an:

„Sowohl Ricardo wie Marx sagen, dass der Wert einer jeden Ware (bei vollkommenem Gleichgewicht und bei vollkommener Konkurrenz) proportional zu der in der Ware enthaltenen Arbeit ist, vorausgesetzt dass diese Arbeit übereinstimmt mit dem jeweiligen Leistungsstandard der Produktion (die ‚gesellschaftlich notwendige Arbeitsmenge‘). Beide messen diese Menge in Arbeitsstunden und benutzen die gleiche Methode, um verschiedene Arbeitsqualitäten auf ein einheitliches Maß zu reduzieren.“ (V / S. 46 f)

Die Theorie wird von vornherein so präsentiert, als wären Marx und Ricardo moderne Methodologen gewesen, die sich zu einer Betrachtungsweise entschlossen haben und von einer bestimmten Grundannahme ausgegangen sind – dass Marx die Theorie von Ricardo kritisiert hat, ist da auch schon egal! Damit entfällt die Befassung mit der Frage, ob das, was die beiden über den Warenwert behaupten, überhaupt stimmt, und eine Prüfung der Gründe, die sie für ihre Behauptung anführen. Aber nicht nur das: Das Verfahren, die Aussagen der Werttheoretiker wie ein methodologisches Vorurteil zu behandeln, steht quer zu einem auch nur halbwegs ehrlichen Referat ihrer Theorie. Kaum kommt Schumpeter auf den Warenwert zu sprechen, rückt er in Klammern ganz locker die Prämissen ein, mit denen die moderne VWL ihre Gleichgewichts- und gesamtwirtschaftlichen Kreislauftheorien zu bestreiten pflegt – ganz unbekümmert darum, dass Ricardo und Marx nie Gleichgewichtstheoretiker gewesen sind, sich in ihren ökonomischen Theorien deswegen auch nicht die Frage nach der Proportionalität irgendwelcher ‚Größen‘ vorgelegt und daher auch nicht die kühne Hypothese in Umlauf gebracht haben, dass sich der Wert jeder Ware als abhängige Variable der in den Waren enthaltenen Arbeitsmenge darstellen lässt. Auf derlei Einfälle können überhaupt nur Leute kommen, die im Funktionalismus moderner Modellbildnerei perfekt eingehaust sind; Leute, für die der Wert – wie alle anderen ökonomischen Erscheinungen aus der Welt des Kapitals auch – eine Größe ist, bei der sich die Frage stellt, welche anderen ökonomischen Größen sie bestimmen und wie man die in Frage kommenden Bestimmungsfaktoren messen kann. Schumpeter geht einfach darüber hinweg, dass er eine Theorie anderer Machart vor sich hat, die sich zur Qualität dieser ökonomischen ‚Größe‘ äußern will, von der seine Wissenschaft durch ihre pseudomathematische Behandlung des Stoffs so überaus professionell abstrahiert. Den alten Ökonomen unterstellt er deswegen ein Vorgehen, wie er es aus seiner Wissenschaft kennt: Ihres theoretischen Ansatzes wegen sollen sie es darauf abgesehen haben, „verschiedene Arbeitsqualitäten auf ein einheitliches Maß zu reduzieren“ und sich dafür eine „Methode“ ausgedacht haben. So übersetzt sich der moderne Ökonom den Gedanken von Marx, dass diese ‚Reduktion‘ im Warentausch praktisch vollzogen wird – dass es im Tausch von Ware gegen Ware und Ware gegen Geld unabhängig von der besonderen Nützlichkeit des jeweiligen Produkts und gleichgültig gegen die Besonderheit der Arbeit, die es geschaffen hat, immer nur um das eine geht, nämlich darum, wie viel der produzierte Schrott wert ist: Das ist das ökonomische Faktum, um dessen Erklärung sich seine Werttheorie bemüht. Sie will die Frage klären, was es heißt, wenn sich in einer Ökonomie alles um den Wert dreht.

Weil sich Schumpeter die Marxsche Theorie in der Weise verständlich macht, dass er sie sich gemäß den ihm von seiner Wissenschaft her vertrauten Überlegungen und Vorgehensweisen verdolmetscht, kriegt er gar nicht mit, dass er sich auf einer anderen Baustelle befindet. Und so weiß er sich auch in seiner Beurteilung der Marxschen Theorie voll auf der Höhe des Marxschen Arguments, obwohl er sie nur an den Ansprüchen misst, die man in seiner Wissenschaft an eine Theorie zu stellen pflegt:

„Jedermann weiß, dass diese Werttheorie unbefriedigend ist... Der wesentliche Punkt ist nicht der, ob die Arbeit die wahre ‚Quelle‘ oder ‚Ursache‘ des wirtschaftlichen Werts ist. Diese Frage mag von vordringlichem Interesse für Sozialphilosophen sein, die daraus ethische Ansprüche auf das Produkt ableiten wollen, und Marx selbst war selbstverständlich dieser Seite des Problems gegenüber nicht gleichgültig. Für die Wirtschaftstheorie als eine positive Wissenschaft jedoch, die tatsächliche Vorgänge zu beschreiben oder zu erklären hat, ist es viel wichtiger zu fragen, wie die Arbeitswertlehre als analytisches Werkzeug funktioniert; und der wirkliche Kummer ist, dass sie dies sehr schlecht tut.“ (V / S. 47)

Die Frage, ob das, was er als Grundbehauptung dieser Werttheorie identifiziert hat, zutrifft, hält der moderne Ökonom für nicht so entscheidend. Diese Frage ist für ihn eine, die nur von moralisch-ideologischem Interesse ist. Er ist sich da ganz sicher: Auf der Gültigkeit der ‚Grundannahme‘ von der Arbeit als der wahren Quelle allen Werts besteht nur einer, der damit auf eine andere Verteilung des Arbeitsprodukts hinauswill; und selbstverständlich war Marx so einer: Ein Gutmensch, erpicht auf eine neue, gerechtere Verteilung der ‚Güter‘. Dieser ihm nur allzu verständliche Stumpfsinn bleibt bei Schumpeter von Marx übrig. Umgekehrt ist ihm ebenso klar, dass es Kollegen von ihm, die die ‚Arbeitswertlehre‘ partout widerlegen wollen, auch nur darum geht, derlei eben gar nicht sachlich wissenschaftlich, sondern allenfalls sozialphilosophisch begründbare Ansprüche zurückzuweisen. Auch ihr Eifer ist ihm suspekt und er belehrt sie, dass es auch unrichtig ist, die Arbeitswerttheorie ‚falsch‘ zu nennen. (V / S. 49) Die positive Wissenschaft nämlich, für die er steht, hält sich aus diesem Streit weise heraus. In der Frage: ‚Welche Grundannahme wollen wir denn nehmen?‘, ist er als Mann der Wissenschaft gewissermaßen leidenschaftslos und fordert seine Kollegen auf, es ihm nachzutun. Wahr und falsch sind da keine Kriterien. Deswegen hat er grundsätzlich auch nichts gegen eine Theorie einzuwenden, die sich anschickt, den Warenwert als abhängige Variable der Arbeitszeit darzustellen – es kommt nur darauf an, dass sie funktioniert.

Damit benennt er die Anforderung, die er an ein Modell stellt. Ein solches Modell soll die tatsächlichen Vorgänge beschreiben, aber wenn schon nicht die Erklärung der tatsächlichen Vorgänge, sondern deren modellhafte Beschreibung Erkenntnis liefern soll, fragt sich doch, warum da nicht auch das Marxsche ‚Modell‘ namens ‚Arbeitswertlehre‘ funktionieren können soll. Aber Schumpeter klärt uns auf:

„Erstens funktioniert sie überhaupt nicht außerhalb des Falls der vollkommenen Konkurrenz. Zweitens funktioniert sie selbst bei vollkommener Konkurrenz nie reibungslos, außer wenn die Arbeit der einzige Produktionsfaktor ist, wenn überdies alle Arbeit von der gleichen Art ist. Wenn eine dieser zwei Bedingungen nicht erfüllt ist, müssen zusätzliche Annahmen eingeführt werden, und die analytischen Schwierigkeiten nehmen in einem Ausmaß zu, das bald nicht mehr zu bewältigen ist.“ (V / S. 47 f)

In der Welt der volkswirtschaftlichen Modellbildnerei zuhause wie der Fisch im Wasser, hat Schumpeter das Marxsche Arbeitszeitmodell gewissenhaft daraufhin geprüft, unter welchen Bedingungen es funktionieren würde, und er plaudert bei der Gelegenheit schon wieder nur aus, was ihm aus der Welt seiner Wissenschaft alles geläufig ist: Er findet es nicht nur völlig normal, dass in einer Wissenschaft Gesetzmäßigkeiten aufgestellt werden, die keine objektive Gültigkeit besitzen. Er hält es auch für beste Wissenschaft, dass man sich auf dieser Grundlage – also kontrafaktisch! – Gedanken darüber macht, wie die Welt beschaffen sein müsste, damit eine solche Gesetzesannahme dennoch als adäquate Beschreibung der tatsächlichen Vorgänge durchgehen könnte. Bezeichnenderweise würde es nach Auffassung dieses ausgefuchsten Modellbildners noch nicht einmal unbedingt gegen die Marxsche Theorie sprechen, wenn die nur unter Bedingungen funktionieren würde, wie sie weder im Kapitalismus noch sonst irgendwo anzutreffen sind: Wenn unter solchen – irrealen – Bedingungen dann wenigstens in der Theorie schon mal alles funktionieren würde, dann wäre das ja auch schon was! Und wenn das, was in der Theorie funktioniert, in der Realität dann immer noch nicht so recht funktioniert, dann pflegt man sich in seiner Wissenschaft offenbar mit zusätzlichen Annahmen zu behelfen, die den Gegensatz heilen sollen, in dem die Theorie zur Realität steht. Im Falle von Marx jedoch, erfährt man, sollen die Schwierigkeiten überhandnehmen.

Die Schwierigkeiten, von denen Schumpeter anschließend berichtet, sind solche, die er auf einen Theoretiker zukommen sieht, der sich der These von der Arbeit als Quelle allen Werts verschreibt. Er stellt diese Schwierigkeiten jedoch so vor, als wären es die, an denen die alten Werttheoretiker laboriert hätten. Schumpeter liest tatsächlich das ganze ‚Kapital‘ so, Kapitel für Kapitel – als großangelegten Versuch der Bewältigung all der Probleme, in die man seiner Auffassung nach unweigerlich hineingerät, wenn man den Wert jeder Ware, so wie er das Projekt von Marx versteht, auf die in den Waren enthaltene Arbeitsmenge zurückführen will:

„Obwohl anscheinend weder Ricardo noch Marx aller Schwächen der Stellung gewahr waren, in die sie sich selbst durch die Wahl ihres Ausgangspunktes versetzt hatten, erkannten sie einige von ihnen durchaus klar. Namentlich rangen sie mit dem Problem, das Element der Dienste natürlicher Kräfte zu eliminieren, die selbstverständlich durch eine Werttheorie, die allein auf der Arbeitsmenge beruht, ihres angemessenen Platzes beraubt werden.“ (V / S. 49)

Wenn den beiden Werttheoretikern die Schwächen ihrer Theorie auch nicht so klar vor Augen gestanden haben wie ihm, so sollen sie doch selber welche gesehen haben – namentlich die, dass sie sich durch die Wahl ihres Ausgangspunktes den Weg verbaut haben, den Boden als Produktionsfaktor angemessen zu würdigen. Ihre Theorie muss somit als der Versuch angesehen werden, diese Schwäche ihres Ansatzes auszubügeln:

„Die bekannte Ricardianische Theorie der Bodenrente ist im wesentlichen ein Versuch, diese Eliminierung zu vollziehen, und die Marxsche Theorie ist ein anderer.“ (Ebd.)

Hätten sich Marx und Ricardo den Umstand, dass im Kapitalismus das pure Eigentum an Grund und Boden, also gerade nicht die produktive Nutzung eines Landstrichs, sondern die ausschließende Verfügung über Gelände, das andere brauchen, als Einkommensquelle fungiert, so wie es der versammelte bürgerliche Sachverstand tut, mit den Diensten natürlicher Kräfte erklärt, die dem Boden innewohnen, wären sie ihre Probleme los gewesen! Aber dieser Möglichkeit haben sie sich durch die unglückliche Wahl ihres Ausgangspunktes ja leider begeben! So empfiehlt Schumpeter Marx ausgerechnet als Lösung seiner Probleme, was der als Inbegriff der irrationalen Vorstellungen kritisiert hat, mit denen sich der bürgerliche Verstand überhaupt und die bürgerlichen Ökonomen im Besonderen das kapitalistische Produktionsverhältnis als gerechte Sache einleuchten lassen. Immerhin hat Marx einige Mühe darauf verwendet, die theoretischen Verbrechen einer Wissenschaft aufzuzeigen, die den tautologischen Rückschluss von den Einkommen, die Grundrentner, Kapitalist und Lohnarbeiter erzielen, auf einen entsprechenden Beitrag, den sie jeweils zur Schaffung des geldwerten Reichtums geleistet haben – den interessierten Fehlschluss, durch den aus diesen drei kapitalistischen Revenuequellen Produktionsfaktoren werden –, als Erklärung dieses Produktionsverhältnisses präsentiert und dessen gesellschaftliche Formbestimmungen in Naturnotwendigkeiten jeglichen Produzierens verfabelt. Dieser Marx muss sich von einem bürgerlichen Ökonomen aus dem 20. Jahrhundert dahingehend belehren lassen, dass sich das Phänomen, dass sich im Kapitalismus eine Klasse von Grundeigentümern einen nicht unerheblichen Teil des gesellschaftlichen Reichtums in Gestalt einer Bodenrente aneignen kann, nicht den gesellschaftlichen Verhältnissen verdankt, in denen das Privateigentum herrscht, sondern den dem Boden innewohnenden Kräften der Natur!

Auch mit dem ‚Produktionsfaktor Kapital‘ haben sich die Arbeitswerttheoretiker das Leben unnötig schwer gemacht. Da sehen wir uns der Schwierigkeit gegenüber, die aus der Existenz von Kapital entsteht – Kapital im Sinne eines Vorrats von produzierten Produktionsmitteln (ebd.).

Speziell für den Autor des ‚Kapital‘ soll es ein großes Problem gewesen sein, wie er die Existenz von Kapital in seiner Theorie überhaupt unterbringt – denn wo kommt der Nettoertrag des Kapitals her, wenn nicht daher, dass einem Vorrat von produzierten Produktionsmitteln natürlicherweise die Eigenschaft einer Geldsumme zukommt, die sich verzinst? Auch da hätte also ein Rückgriff auf die bewährte bürgerliche ‚Erklärung‘ viele Probleme gar nicht erst aufkommen lassen. Aber den hat sich Marx mit seinem Ausgangspunkt ja verbaut, weswegen er zur Erklärung des Nettoertrags des Kapitals zu seiner für den modernen Ökonomen doch sehr befremdlichen Ausbeutungstheorie Zuflucht suchen musste.

Aus der Theorie von Marx wird so in den Augen des Marxinterpreten eine Hilfskonstruktion zur Lösung von lauter Problemen, in die sich der Arbeitswerttheoretiker überflüssigerweise hineinverfranst hat. Sie erübrigen sich, wenn man einen anderen Ausgangspunkt wählt:

„Die Theorie, die diese Argumentation ersetzte – in ihrer frühesten und nun überholten Form bekannt als die Grenznutzentheorie –, mag in mancher Beziehung Überlegenheit beanspruchen; aber das wirkliche Argument für sie ist, dass sie viel allgemeiner ist und ebenso gut einerseits für die Fälle des Monopols und der unvollkommenen Konkurrenz wie andererseits für das Vorhandensein von anderen Produktionsfaktoren und von Arbeit verschiedener Art und Qualität passt.“ (V / S. 48)

Daher sein Ratschlag: Am besten hält sich die Wissenschaft in dem, was sie behauptet, an die einfachen Tatsachen der wirtschaftlichen Wirklichkeit. Das tut seiner Ansicht nach in erfreulich übersichtlicher Weise die Grenznutzentheorie, die vom Vorhandensein von mindestens drei Produktionsfaktoren – Boden, Kapital und Arbeit – ausgeht und es als die nicht weiter zu erklärenden einfachen Tatsachen der wirtschaftlichen Wirklichkeit hinnimmt, dass dem Boden der Rechtsanspruch seines Eigentümers auf Tributzahlungen innewohnt, dass Arbeit die Form von Lohnarbeit annimmt, also von Arbeit, die in fremden Diensten und zur Vermehrung fremden Eigentums verrichtet wird, und dass diejenigen, die über einen Vorrat von produzierten Produktionsmitteln verfügen, damit gleich auch über Kapital verfügen, dem das Kommando über die gesellschaftliche Arbeit zufällt. Das ist die Lösung: Eine Wissenschaft, die sich geistig arrangiert mit den Formen, in denen der Kapitalismus in Erscheinung tritt; die einfach von dem theoretischen Bedarf, dem die alten Werttheoretiker nachgegangen sind, nichts mehr wissen will; kurz: eine Wissenschaft, die es mit dem Kapitalismus ungefähr so hält wie die Vulgärwissenschaft, die Marx in Grund und Boden kritisiert hat.[1]

II. Die „Klassengesellschaft“: Soziologisch betrachtet ein viel zu simples Schema, zudem empirisch gar nicht nachweisbar!

Desselben brutal subsumierenden Verfahrens, das wir soeben an einem modernen Ökonomen studieren konnten, befleißigen sich auch die modernen Gesellschaftswissenschaftler, die Soziologen, wenn sie sich mit der Marxschen ‚Klassentheorie‘ auseinandersetzen – womit sie die erste Verwandlung der Theorie, zu der sie Stellung nehmen wollen, freilich schon fast hinter sich gebracht haben: Den Einlassungen von Marx zur bürgerlichen Klassengesellschaft entnehmen sie, dass hier eine Theorie der Gesellschaft vorliegt, die in besonderer Weise mit dem Begriff der ‚Klasse‘ hantiert, so dass die Frage, was für ein Befund über die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Kennzeichnung als Klassengesellschaft ergeht und ob dieser Befund sachlich in Ordnung geht, gar nicht erst zur Debatte steht. Stattdessen steht für den methodologisch verbildeten wissenschaftlichen Verstand, der sich hier zu schaffen macht, eine ganz andere Frage zur Diskussion: die nämlich, ob sich der Begriff der ‚Klasse‘ als Instrument der Erstellung einer Gesellschaftstheorie überhaupt eignet oder anbietet. Seit Max Weber ist es unter Soziologen Usus, Marx’ Theorie zum Anlass zu nehmen, erst einmal unabhängig von ihr und von der gesellschaftlichen Realität, von der sie handelt, darzulegen, was wir unter einer ‚Klasse‘ verstehen wollen. In dem Zuge lässt sich dann festhalten, dass mit diesem Begriff darauf abgehoben wird, dass Besitz und Besitzlosigkeit für die Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaft (VI / S. 631) zweifellos von herausragender Bedeutung sind:

„Es ist die allerelementarste ökonomische Tatsache, dass die Art, wie die Verfügung über sachlichen Besitz innerhalb einer sich auf dem Markt zum Zwecke des Tauschs begegnenden und konkurrierenden Menschenvielfalt verteilt ist, schon für sich allein spezifische Lebenschancen schafft.“ (VI / S. 632)

Und soweit Marx mit seiner Klassentheorie nichts anderes zum Ausdruck bringen wollte, stimmt man ihm gerne zu. Man gibt ihm Recht auf der Ebene eines allgemeinen, noch nicht einmal speziell auf die existente bürgerliche Gesellschaft bezogenen Räsonierens darüber, dass sich die Lebenschancen unter Leuten, welche in unterschiedlichem Maße mit materiellen Reichtümern gesegnet sind, doch recht unterschiedlich verteilen. Einem modernen Gesellschaftswissenschaftler stellt sich da nur die Frage, ob sich (allein) auf diese ‚Tatsache‘ gleich eine ganze Gesellschaftstheorie gründen lässt. Unter dem Gesichtspunkt, unter dem er die Gesellschaft betrachtet – was stiftet Gesellschaft, was hält sie zusammen? – ist so eine „Klassenlage“ nämlich vor allem eines: nicht sehr ergiebig:

„Eine universelle Erscheinung ist das Herauswachsen einer Vergesellschaftung oder selbst eines Gemeinschaftshandelns aus der gemeinsamen Klassenlage keineswegs. Vielmehr kann sich ihre Wirkung auf die Erzeugung eines im wesentlichen gleichartigen Reagierens ... beschränken oder nicht einmal dies zur Folge haben.“ (VI / S. 633)

Am Zusammenhalt der Gesellschaft und der integrierenden Wirkung gesellschaftlicher Kollektive so sehr interessiert, dass für ihn Kollektive in gar nichts anderem bestehen als darin, dass sich die Leute ihnen zurechnen, kann der Soziologe an Klassen allenfalls eine beschränkte Wirkung ausfindig machen, die von soziologischer Relevanz sein könnte. Als hätte Marx die Begeisterung moderner Soziologen für alles, was gemeinschaftsbildend wirkt und zur Vergesellschaftung des Individuums beiträgt, geteilt und die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft dafür gepriesen, dass ihre Angehörigen immer an einem Strang ziehen, hält ihm der Kritiker seine eigenen sozialwissenschaftlich fundierten Erfahrungen entgegen:

„Bei gleicher Klassenlage und auch sonst gleichen Umständen kann nämlich die Richtung, in welcher etwa der einzelne Arbeiter seine Interessen mit Wahrscheinlichkeit verfolgen wird, höchst verschieden sein...“ (ebd.)

und bezweifelt mit diesem ‚Argument‘, dass es sich bei dem Begriff ‚Klasseninteresse‘ überhaupt um einen empirischen Begriff (ebd.) handelt, wie er ihn aus seiner Wissenschaft kennt. Besser wäre es wahrscheinlich gewesen, Marx hätte in einer empirischen Untersuchung, mittels Umfrage und Statistik, ermittelt, in welche Richtung – Familie, Sport, Lesen ... – die Interessen der Arbeiter denn so gehen!

Wo der Soziologe Marx gewürdigt wird, stellt sich des Weiteren regelmäßig das Bedenken ein, ob sich die ökonomische Tatsache ungleicher Besitzverteilung, die ja nun wirklich niemand leugnen will, ausgerechnet mit dem Begriff der ‚Klasse‘ adäquat beschreiben lässt. Denn mit dem verbindet man in Kreisen bürgerlicher Gesellschaftswissenschaft gewohnheitsmäßig die Vorstellung von einem vorbürgerlichen Stände- oder Kastenwesen, und das passt so gar nicht auf das Bild, das man sich von der modernen Gesellschaft gemacht hat:

„Die wasserdichte Scheidung zwischen Menschen, die (zusammen mit ihren Nachkommen) ein für alle Mal als Kapitalisten gelten, und anderen, die (zusammen mit ihren Nachkommen) ein für alle Mal als Proletarier gelten, ist nicht nur, wie schon oft gezeigt wurde, äußerst wirklichkeitsfremd, sondern sie übersieht den springenden Punkt in Bezug auf die Klassen – den unaufhörlichen Aufstieg und Niedergang von einzelnen Familien in die obere Schicht hinein und aus ihr heraus.“ (V / S. 39)

Was Marx über die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft vermeldet hat, tut dabei gar nichts zur Sache. Er wird genommen als einer, der, aus welchen (unlauteren?) Gründen auch immer, krampfhaft das Dogma ‚Einmal Lohnarbeiter, immer Lohnarbeiter!‘ verkünden wollte, und dieses Dogma, das man sich den eigenen Vorstellungen gemäß zurechtphantasiert, wird anschließend daran blamiert, dass es ja sowas von wirklichkeitsfremd ist. Was sich in der Wirklichkeit ‚beobachten‘ lässt, ist nämlich ein Aufstieg und Niedergang von Proletariern ins Lager der Kapitalisten und umgekehrt, den einzelne Familien den Beobachtungen des wissenschaftlichen Empirikers zufolge sogar unaufhörlich machen sollen. Ja, Sachen gibt’s in der Empirie! Und das ist der springende Punkt in Sachen Wirklichkeitsnähe. Wo der sprichwörtliche Tellerwäscher zum Millionär werden kann, hält man sich besser nicht bei dem Gedanken auf, dass dergleichen Aufstiege eine Klassengesellschaft unterstellen, sondern freut sich lieber mit der Wissenschaft über eine gelungene Widerlegung der Klassentheorie und spricht fortan besser wie die heutige Soziologie von Schichten, weil die vor allem eines sind: permeabel.

Ähnlich niveauvoll geht es zu, wenn sich moderne Gesellschaftswissenschaftler über Marx als Klassiker ... der Theorie der sozialen Ungleichheit (VII / S. 52) hermachen; einer Theorie, die es mittlerweile zur stolzen These von der Mehrdimensionalität vertikaler Ungleichheit (VII / S. 53) gebracht hat. Als dieser ‚Klassiker‘ wird er nun schon zum dritten Mal dafür auf den Schild gehoben, dass er mit seiner Theorie die Tatsache ungleicher Reichtumsverteilung in Erinnerung gebracht und deren Bedeutung hervorgehoben hat. Nur dass ihm diesmal der Vorwurf zuteil wird, andere Dimensionen sozialer Ungleichheit darüber vernachlässigt zu haben. Im Folgenden berichtet ein moderner Vertreter dieser ‚Mehrdimensionalitätsthese‘, was er sieht, wenn er durch die Brille seiner Wissenschaft Marx besichtigt:

„Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Marx’sche Klassentheorie lässt erkennen, dass die Mehrdimensionalitätsthese in ihr keine tragende Rolle spielt.“ (Ebd.)

Bei genauerem Hinsehen erkennt er zwar durchaus noch mehr:

„Den Grundbesitzer- und Kapitaleigentümern steht in der kapitalistischen Gesellschaft die große Klasse der Lohnabhängigen gegenüber. Die daraus resultierenden Klassengegensätze sind objektiv gegeben, unabhängig davon, ob die Betroffenen selbst sich dessen bewusst sind oder nicht.“ (VII / S. 54)

Doch fällt ihm überhaupt nicht ein, sich die Frage zu stellen, ob das Interesse von Unternehmern, für möglichst wenig Geld die Verfügung über möglichst viel Arbeitsleistung zu erlangen, nicht wirklich im Gegensatz steht zum Interesse derjenigen, die die verlangte Arbeitsleistung zu erbringen, vom Preis ihrer Arbeit zu leben und aus ihm dann u.a. auch noch in Gestalt einer Miete Grundeigentümern ihre Rente zu bezahlen haben. Und er fragt sich auch nicht, ob das nicht tatsächlich Fakten sind, die unabhängig davon, was für ein Bewusstsein die Betroffenen von ihnen haben, praktische Geltung besitzen. Er hat ja seine Brille auf und fährt deswegen fort:

„Übersetzt in die Sprache der heutigen Schichtungssoziologie heißt das, dass die Marx’sche Theorie lediglich auf einer – nämlich der ökonomischen – Dimension sozialer Ungleichheit beruht. Wäre das nicht so und würde Marx noch andere Dimensionen – etwa Bildung oder Sozialprestige – als gleichberechtigt neben der ökonomischen Dimension anerkennen, dann wäre eine eindeutige Bestimmung von Klassenfronten für ihn nicht möglich.“ (Ebd.)

Mit einer Klassentheorie, wie sie Marx erdacht hat, verbaut man sich also nur den Weg zu einer elaborierteren Theorie der sozialen Ungleichheit, die neben der unterschiedlichen Verteilung des Eigentums ebenso begriffslos noch andere Momente dieser gesellschaftlichen ‚Erscheinung‘ aufführt. Wenn dabei das Stichwort ‚gleichberechtigt‘ fällt, so zeigt dies nebenbei, wie selbstverständlich es einem modernen Gesellschaftswissenschaftler ist, dass die Frage der Anerkennung von Fakten in seiner empirischen Wissenschaft eine Frage des Interesses ist, das mit dem Bild von der Gesellschaft, das man zeichnet, bedient sein will.

Wo Schumpeter für die Ökonomen am Ende mit Genugtuung feststellen kann, dass die Arbeitswertlehre auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet ist: Jedenfalls ist sie tot und begraben (V / S. 49), da kann ihm der zuletzt zitierte Theoretiker der sozialen Ungleichheit nur beipflichten. Für seine Disziplin hält er fest, dass mit Marx’ Klassentheorie kein Blumentopf mehr zu gewinnen (VII / S. 141) sei – und ist sich sehr sicher, dass damit über diese Theorie endgültig alles gesagt ist. Doch macht es die Sache nicht besser, wenn bürgerliche Wissenschaftler zu dem Schluss kommen, dass sich an Marx anknüpfen lässt und es durchaus Einsichten und Befunde des alten Klassentheoretikers gibt, die es zu bewahren gilt. Sie erarbeiten sich ihr Verständnis der Marxschen Theorie nämlich mittels desselben Subsumtionsverfahrens und gehen in Sachen Zerstörung der Erkenntnisse, die von Marx zu haben wären, deswegen nicht minder gründlich zu Werk als jene, die seiner Erklärung des Kapitalismus den TÜV verweigern und zu einer Wegwerfaktion raten.

III. Das „notwendig falsche Bewusstsein“: Weder notwendig noch falsch, weil einfach nur funktional für die Gesellschaft!

Ein prominentes Beispiel dafür, dass bürgerliche Theoretiker mit Marx schon auch etwas anzufangen wissen, gibt die Wissenssoziologie ab. Die Entdeckung von Marx, dass die Mitglieder der bürgerlichen Klassengesellschaft in ihrer praktischen Befangenheit gegenüber ihren Lebensverhältnissen ihr ökonomisches und sonstiges Treiben mit einem notwendig falschen Bewusstsein vollziehen,[2] finden die Vertreter dieser soziologischen Spezialdisziplin höchst interessant. Sie erkennen darin zielsicher eine eigentümliche denksoziologische Aufgabe, für die sie sich zuständig wissen:

„Es besteht also zunächst die Frage und die Aufgabe nachzuweisen, ob denn zwischen den immanent herausgearbeiteten Denkstandorten und den sozialen Strömungen (sozialen Standorten) eine Korrelation, eine Entsprechung besteht. Bei dieser In-Beziehung-Setzung der geistig-systematischen Standorte zu den sozialen Standorten entsteht erst die eigentümliche denksoziologische Aufgabe... Aber gerade hier gilt es, jeden Naturalismus und all jene Momente, die aus einer ursprünglichen Kampfstellung der soziologischen Erkenntnis herrühren, auszuschalten, und so sehr diese Fragestellung in der Linie der marxistischen Geschichtsphilosophie erwachsen ist, muss man sich an jene Auslegung dieser Theorie halten, die einerseits die Reste einer materialistischen Metaphysik austilgt und andererseits die bloß propagandistischen Motive streicht bzw. auf den in ihnen enthaltenen richtigen Kern reduziert.“ (IX / S. 376)

Ersichtlich ist Karl Mannheim, der hier als Begründer der Wissenssoziologie zitiert wird, von der Frage angetan, ob womöglich eine Beziehung bestehen könnte zwischen dem gesellschaftlichen Sein und dem Bewusstsein. Das dezidierte Urteil, zu dem Marx diesbezüglich bei seinen Untersuchungen und Erklärungen des in der bürgerlichen Welt anzutreffenden wissenschaftlichen und sonstigen Denkens gelangt und das er in der abstrakten Formel vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, zusammenfasst, wäre damit schon mal in einen Forschungsauftrag an die eigene Disziplin verwandelt; in eine These, ein methodisches Vorurteil, auf das sich eine Untersuchung der gesellschaftlichen Wirklichkeit gründen lässt – mit dem Ziel, herauszufinden, ob es etwas hergibt für die Erfassung derselben. Anvisiert wird eine Betrachtung, die sich in der für dieses Fach typischen empirischen Manier folgenden Dreischritt vornimmt: Erstens soll sie die soziale Wirklichkeit daraufhin untersuchen, ob sich in ihr bestimmte Denkstandorte ausmachen lassen. Darunter darf man so etwas wie immer wiederkehrende, feststehende Deutungsmuster verstehen, Stereotypien, die in den in der Gesellschaft zirkulierenden Anschauungen zum Ausdruck kommen und die selber erst einmal über äußerliche Merkmale ihres Vorhandenseins definiert sein wollen. Aufgabe der Untersuchung ist es sodann, die festgelegten Merkmale daraufhin zu prüfen, ob sich anhand von ihnen Denkstandorte herausarbeiten lassen, damit sie gegebenenfalls geändert und durch brauchbarere Merkmale ersetzt werden können. Nach demselben Verfahren sollen zweitens soziale Standorte herausgearbeitet werden, für die ebenfalls ein Kriterienkatalog aufgestellt werden muss, dessen Brauchbarkeit für die empirische Forschung durch eben dieselbe dann ermittelt sein will. Drittens schließlich folgt als krönender Abschluss der Wissenschaft das In-Beziehung-Setzen der beiden Seiten. Ziel dabei ist es, herauszufinden, ob sich statistisch signifikante Übereinstimmungen im Zutreffen der Merkmale ergeben, durch die sich das Bestehen einer Korrelation zwischen den beiden Seiten verifizieren ließe und die sich womöglich sogar in der einen oder anderen Richtung als Indizien für das Vorhandensein eines ursächlichen Zusammenhangs interpretieren ließen.

So ohne Metaphysik und Propaganda ausgelegt zeigt sich der richtige Kern der Marxschen Theorie über Sein und Bewusstsein. Ansonsten muss natürlich gesagt werden, dass diese Theorie gemessen am ausdifferenzierten begrifflichen Instrumentarium und der mathematischen Genauigkeit, mit der die moderne Wissenschaft ihre Hypothesen untermauert, extrem unzureichend ist. Man braucht Marx mit seiner materialistischen Metaphysik ja nur zu lesen, und schon stößt man auf einen Naturalismus, demzufolge Gedanken prinzipiell durch das soziale Sein determiniert sind – wo doch wissenschaftlich gesehen klar ist, dass es so einfach nicht ist:

„Zunächst kann keine Rede davon sein (dies erweist auch ein nur flüchtiger Blick in die historischen Zusammenhänge), dass man irgendeinen Denkstandort ohne weiteres mit einer sozialen Schicht bzw. Klasse gleichzusetzen, in Deckung zu bringen imstande wäre.“ (Ebd.)

Das zeigt nicht nur ein flüchtiger Blick in die Historie, sondern auch der wissenssoziologisch erhärtete Befund, dass es ja viel mehr Denkstandorte als Klassen gibt:

„Die Differenzierungen innerhalb der geistigen Welt sind viel zu reichhaltig, als dass man einfach einer jeden Richtung, einem jeden Standorte eine entsprechende Klasse im oben definierten Sinne zuordnen könnte.“ (IX / S. 381 f)

Wie auch immer Marx die Geschichte mit dem gesellschaftlichen Sein, welches das Bewusstsein bestimmt, gemeint hat, was auch immer seine Gründe waren, von einem notwendig falschen Bewusstsein in der bürgerlichen Welt zu sprechen – in der theoretischen Veranstaltung, für die er als Stichwortgeber fungieren darf, kommt jedenfalls von all dem nichts mehr vor. In ihr ist weder von einer Notwendigkeit noch von Fehlern die Rede, auch die gesellschaftliche Praxis, auf die denkend Bezug genommen wird, und ein Bewusstsein, das sich die zu dieser Praxis passenden Gedanken macht, sind in ihr einfach nicht vorgesehen. Gänzlich vergessen gemacht ist, dass Marx mit seinem Befund eine Kritik ausgesprochen hat an einer unfreien, unterwürfigen Stellung zur Welt; wo er mit dem Hinweis auf die traurige anpasslerische Leistung des Bewusstseins, sich falsche Gründe fürs Mitmachen zuzulegen, einen Skandal namhaft zu machen glaubte, sehen moderne Wissenssoziologen einen funktionellen Zusammenhang, von dem sie überaus angetan sind. In ihrer Sorge, die dem Funktionieren von Gesellschaft gilt, wenden sie sich als spezielle Soziologen den funktionellen Leistungen zu, die einerseits die Gesellschaft erbringt, indem sie sich im Denken ihrer Mitglieder reproduziert, andererseits das Denken, indem es das ‚soziale Sein‘ reproduziert. Die Untersuchung der Funktionalitätsbeziehung von Ideen und Gedanken zum sozialen Sein (IX / S. 321) ist ihr wissenssoziologisches Spezialgebiet – und aus der Ideologiekritik von Marx ist ein Beitrag zur pauschalen Würdigung jedes Gedankens als nützlicher Beitrag zum Gelingen von Gesellschaft geworden.

IV. Der „Marxismus“: Eine Denkmethode zur absichtsvollen Untergrabung des Fortschritts der Wissenschaft und der Menschheit überhaupt!

Die zweifelhafte Ehre, die Marx angetan wird, wenn bürgerliche Wissenschaftler ihn auf ihre Art als Wissenschaftler ernst nehmen, widerfährt ihm auch von Seiten der Wissenschaftsmethodologen. Auch die beherrschen die Kunst, sich seine Theorie im Lichte ihrer Wissenschaft vorstellig zu machen. Sie besprechen sie vom Standpunkt ihrer Theorien aus als enorm defizitäre, eindimensionale und wirklichkeitsfremde Theorie; räsonieren über ihre offenkundig gewordenen Mängel (X / S. 8) und Schwierigkeiten und führen den Nachweis, dass Marx nur mit Hilfe einer schlechthin irrationalen Konstruktion (ebd.) an ihr festhalten konnte. Und auch bei ihnen ist dieser Umgang das Verfahren, Marx als abweichenden Denker zu entlarven, ihn als einen Mann zu denunzieren, der ein begabter Schriftsteller (VI / S. 634) gewesen sein mag, aber weniger aus wissenschaftlichen als vielmehr aus propagandistischen Motiven seine Theorien aufgestellt hat, um ihn als solchen dann aus der Wissenschaft zu exkommunizieren. Nirgendwo sonst freilich tritt das Spiegelfechterische in der Auseinandersetzung der bürgerlichen Wissenschaft mit Marx so deutlich in Erscheinung wie in den Veranstaltungen, in denen sich Wissenschaftstheoretiker mit dem Marxismus auseinandersetzen. Weil sie sich schon von ihrer Profession her für die Frage zuständig wissen, was als Wissenschaft anerkannt zu werden verdient und was nicht, sind es in besonderer Weise auch immer wieder Leute aus ihren Reihen, die sich zur Rettung der Wissenschaft aufgerufen sehen und die Bekämpfung des Marxismus ausdrücklich zu ihrem Anliegen machen.

Wenn sich Leute wie Popper und sein Schüler Werner Becker, die sich hierin in besonderer Weise hervorgetan haben, ans Werk machen, steht eines von vornherein gar nicht erst zur Diskussion: der Inhalt irgendeiner Theorie. Den eigenen Aussagen zufolge hauptsächlich an Methodenfragen interessiert (XII / S. 100) geht man nämlich von dem Dogma aus (das Popper prompt schon wieder den Marxisten als deren Auffassung unterschiebt), dass der Marxismus primär nicht so sehr eine Lehre als eine Methode sei (XII / S. 99), und schon steht fest, wie mit ihm zu verfahren ist:

„In Wirklichkeit muss jeder, der den Marxismus zu beurteilen wünscht, ihn als eine Methode überprüfen und kritisieren, das heißt, er muss ihn mit methodologischen Maßstäben messen.“ (Ebd.)

Dazu freilich müssen die theoretischen Hinterlassenschaften von Marx auch erst zu einer Methodologie aufbereitet werden. Bedauerlicherweise hat Marx nämlich die Prinzipien seiner „historizistischen Denkmethode“ nicht in der Deutlichkeit dargelegt, in der sie seinem modernen Kritiker vor Augen stehen. Eines ist dem sonnenklar:

„Der Marxismus ist eine rein historizistische Theorie, eine Theorie, die sich die Aufgabe setzt, den zukünftigen Verlauf ökonomischer und machtpolitischer Entwicklungen und insbesondere den Ablauf von Revolutionen vorherzusagen.“ (XII / S. 98)

Gemäß dem von ihm tausendfach hergebeteten Dogma seiner Wissenschaftstheorie, demzufolge eine Theorie ein Instrument der Vorhersage ist, erkennt Popper in der Marxschen Theorie mit traumwandlerischer Sicherheit den Versuch, eine Prognose zu erstellen:

„Marxens historische Prophezeiung kann als ein streng geführtes Argument beschrieben werden.“ (XII / S. 161)

Die Schwierigkeit einer solchen ‚Beschreibung‘ besteht allerdings in Folgendem:

„Aber das Kapital entwickelt nur, was ich den ‚ersten Schritt‘ dieses Arguments nennen werde, nämlich die Analyse der grundlegenden ökonomischen Kräfte des Kapitalismus und ihren Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Klassen. Der ‚zweite Schritt‘, der zum Schluss führt, dass eine soziale Revolution unvermeidlich ist, und der ‚dritte Schritt‘, der mit der Voraussage des Auftretens einer klassenlosen, das heißt einer sozialistischen Gesellschaft endet, sind nur angedeutet.“ (Ebd.)

Ungerührt gibt der Meister des Kritischen Rationalismus zu Protokoll, dass er in den Schriften von Marx – obwohl er sie nach nichts anderem durchsucht hat! – kaum etwas gefunden hat, was für seine Deutung spricht. Die enthalten, wie er bereitwillig zugibt, im Wesentlichen eine Analyse der kapitalistischen Ökonomie, was den kritischen Rationalisten, der jeden anderen auf die Tugend der Skepsis beim Denken verpflichten will, nicht zu dem geringsten Zweifel an seiner eigenen Deutung veranlasst – und schon gleich nicht dazu, sie für falsifizierend zu erachten und wegzuwerfen. Für ihn ergibt sich daraus vielmehr das Urteil, dass Marx hier Lücken gelassen hat in seiner Argumentation, die er, Popper, nun schließen muss. Weil das, was im ‚Kapital‘ steht, wenig hergibt für sein Anliegen, Marx als „Propheten des Ablaufs der Geschichte“ (XII / S. 97) vorzuführen, nimmt sich Popper die Freiheit heraus, das, was ihn an Marx nicht interessiert, für das Unwichtige an Marx zu erklären:

„Ich halte die Werttheorie von Marx, die gewöhnlich bei den Marxisten sowie bei den Gegnern des Marxismus als ein Eckstein des marxistischen Gebäudes gilt, für einen ziemlich unwichtigen Bestandteil...“ (XII / S. 199) –,

aber nur, um den wirklich wichtigen, in der Marxschen Theorie nur nicht so recht greifbaren Bestandteil des marxistischen Gebäudes, den Historizismus, herauszuarbeiten:

„Um seine Theorie so überzeugend wie möglich darzustellen, habe ich sie etwas abgeändert...“ (XII / S. 209)

„Ich habe mich bemüht, den Historizismus als wohl durchdachte und differenzierte Philosophie darzustellen. Dabei habe ich nicht gezögert, Gedankengänge zur Stützung des Historizismus zu konstruieren, die meines Wissens von den Historizisten selbst nie vorgebracht wurden. Ich hoffe, dass es mir dadurch gelungen ist, einen Standpunkt zu konstruieren, den anzugreifen sich wirklich lohnt.“ (XIII / S. 3)

So aufbereitet ist die Theorie dann zum Abschuss freigegeben. Als erstes darf mit tiefer Genugtuung festgehalten werden, dass der Versuch von Marx, es dem Propheten Mohammed gleichzutun, als grandios gescheitert angesehen werden kann:

„Er war ein Prophet des Ablaufs der Geschichte und seine Prophezeiungen haben sich nicht bewahrheitet.“ (XII / S. 97)

Doch gibt sich Popper keineswegs damit zufrieden, den billigen Triumph, dass die von Marx dargelegten guten Gründe für eine Revolution beim Subjekt derselben nicht verfangen haben, auszukosten und dies stolz als Widerlegung der Marxschen Theorie zu präsentieren. Ein viel prinzipiellerer Einwand gegen diese Theorie ergibt sich, wenn man sie mit der Methodenfrage der Sozialwissenschaften konfrontiert, die da lautet:

„Ist eine Sozialwissenschaft überhaupt fähig, so anspruchsvolle historische Prophezeiungen zu machen?“ (XI / S. 23)

Hier weiß sich der kritische Rationalist endgültig kompetent wie kein anderer: Natürlich nicht, muss die Antwort lauten. Aufgabe der Wissenschaft ist es seiner Wissenschaftstheorie zufolge, Gesetze zu formulieren, die Prognosen ermöglichen, wobei sie sich jedoch stets der Grenzen dessen, was man beweisen kann (XI / S. 24), bewusst zu bleiben hat. Und eben dagegen soll Marx verstoßen haben. Sein Kritiker will bei ihm so etwas wie eine sehr kühne Vermutung über den Ablauf der Geschichte gefunden haben – vermisst aber die Bereitschaftserklärung zur fälligen Selbstbezweiflung, die nach seiner Wissenschaftslehre aus einer kühnen Vermutung erst Wissenschaft macht. Und die Nichtanerkennung dieser Forderung aus dem Hause Popper begründet Vorwürfe viel härterer Art als bloß den, Marx wäre mit seinen Prophezeiungen gescheitert. Weil sich Marx beim Aufstellen seiner Theorie nicht beständig die wissenschaftstheoretischen Prinzipien der Irrtumsmöglichkeit und der Falsifizierbarkeit jeder Theorie vor Augen gehalten hat, sieht Popper einen Mann am Werk, der sich den Spielregeln der Wissenschaft zu entziehen versucht hat. Zur Immunisierung seiner historizistischen Lehren vor Kritik und Falsifikation soll er sich von Hegel in Gestalt einer dialektischen Methode ein wahres Teufelswerkzeug angeeignet haben:

„Das ist eine Lehre, die jedes Argument und jeden Fortschritt zerstören muss. Denn wenn Widersprüche unvermeidlich und erwünscht sind, dann besteht kein Bedürfnis zu ihrer Beseitigung, und damit muss aller Fortschritt enden.“ (XII / S. 49)

Marx wäre damit schon mal erfolgreich als Feind der Wissenschaft entlarvt. Als solcher dingfest gemacht, ist völlig klar, dass die schädlichen Konsequenzen, die man seiner Methode nachsagt, auch schon den ganzen Inhalt und das Motiv seiner ‚Lehre‘ ausmachen – schon sein Lehrmeister soll von nichts anderem beseelt gewesen sein, als der Wissenschaft den Garaus zu machen:

„Der Grund, warum er [Hegel] Widersprüche zulassen will, ist sein Wunsch, die rationale Argumentation und damit den wissenschaftlichen und intellektuellen Fortschritt aufzuhalten.“ (Ebd.)

Das ist aber immer noch nicht der Hauptvorwurf (XII / S. 97), den Popper gegen Marx erhebt:

„Viel wichtiger ist, dass er zahllose intelligente Menschen dazu verführte, zu glauben, dass die wissenschaftliche Behandlung sozialer Probleme in der Aufstellung historischer Prophezeiungen besteht. Marx ist verantwortlich für den verheerenden Einfluss der historizistischen Denkmethode in den Reihen derer, die die Sache der offenen Gesellschaft zu fördern wünschen.“ (Ebd.)

Und diesen Vorwurf muss man schon einmal auf sich wirken lassen: Der Mann der Wissenschaft sieht sich hier plötzlich herausgefordert, aus sittlicher Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen zu sprechen, dem er den Ehrentitel ‚offene Gesellschaft‘ verleiht – womit er seine Hochachtung vor diesem Gemeinwesen ohne die geringsten wissenschaftlichen Skrupel zu dessen wesentlichem Merkmal erhebt! In seiner Eigenschaft als Wortführer einer Wissenschaft, die sich auf die rechte Art der Behandlung sozialer Probleme versteht, erklärt er sich auch gleich zum Wortführer des Freundeskreises ‚Offene Gesellschaft‘ und sagt einem Denker die Feindschaft an, der sich mit seiner auf historische Prophezeiungen abonnierten Unwissenschaft am gesellschaftlich nützlichen Auftrag versündigt haben soll, dem Popper die Wissenschaft verpflichtet weiß:

„Es scheint mir, dass wir damit den wichtigsten Punkt unserer Analyse erreicht haben. Erst jetzt können wir die Bedeutung des tiefen Gegensatzes zwischen dem Historizismus und der Sozialtechnik sowie seine Auswirkung auf die Politik der Freunde der offenen Gesellschaft voll ermessen.“ (XII / S. 146)

Munter geht er dazu über, unerwünschte praktische Konsequenzen als Gründe für die Ablehnung einer Theorie geltend zu machen:

„Wenn es ... historische Prophezeiungen geben soll, dann muss der Verlauf der Geschichte in groben Zügen vorherbestimmt sein, und weder der gute Wille noch die Vernunft haben dann die Macht, ihn zu ändern.“ (XII / S. 101)

Das unverzeihliche Verbrechen des Marxismus besteht für ihn darin, dass dieser als eitles Unterfangen denunziert, was Popper den Sozialwissenschaften als ihren höheren Auftrag vorbuchstabiert: dass sie mit ihren Erkenntnissen im Rahmen einer vernünftigen sozialen Planung lauter nützliche Dienste am Gemeinwesen leisten sollen. Marx soll nämlich den Standpunkt vertreten haben:

„Soziales Planen ist unmöglich und daher eine Sozialtechnologie nutzlos. Wir können unsere Interessen nicht dem Sozialsystem aufzwingen; statt dessen zwingt uns das System das auf, was wir für unsere Interessen halten... Es ist ... eine eitle Hoffnung, wenn wir glauben, dass die Zustände verbessert werden können, indem wir die Menschen verbessern.“ (XII / S. 133)

Zwar hat Popper bestimmt nicht begriffen, welche Notwendigkeiten objektiver Natur Marx in Privateigentum und kapitalistischer Produktionsweise, im Recht und der Herrschaft des bürgerlichen Staates ausgemacht hat – auf den Gehalt einer Theorie lässt er sich als Wissenschaftsmethodologe ja gar nicht erst ein. Dass da einer objektive, in diesen Instanzen und Einrichtungen beschlossene Notwendigkeiten erkannt haben will, die erst einmal ausgehebelt sein wollen, bevor an eine vernünftige Einrichtung der gesellschaftlichen Belange zu denken ist, hat er irgendwie aber schon mitbekommen. Frei nach dem Motto: ‚Wir lassen uns das Singen nicht verbieten!‘ besteht er darauf, dass doch möglich sein muss, was ‚wir‘ für wünschenswert erachten, und stellt damit nebenbei klar, auf wie viel Ignoranz seine Vorstellung bezüglich der nützlichen Funktion der Wissenschaft für die Gesellschaft beruht. Und Marx hält er umgekehrt vor, dass sich der nicht derselben programmatischen Ignoranz befleißigt:

„Statt zu fordern oder vorzuschlagen, welche Funktionen er vom Staat, von den gesetzlichen Institutionen oder von der Regierung ausgeübt sehen will, stellt er Fragen wie ‚Was ist der Staat?‘“ (XII / S. 139)

Was für eine Ungeheuerlichkeit, sich als Wissenschaftler nach dem Grund und Zweck der politischen Herrschaft zu erkundigen, statt ihr mit Anträgen zu kommen, wie sie alles besser machen könnte!

Literaturverzeichnis

  • (I) Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Marx Engels Werke Bd. 23, Berlin 1962
  • (II) Ders.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, Marx Engels Werke Bd. 25, Berlin 1964
  • (III) Ders.: Theorien über den Mehrwert. Dritter Teil, Marx Engels Werke Bd. 26.3, Berlin 1972
  • (IV) Ders.: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx Engels Werke Bd. 13
  • (V) Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950
  • (VI) Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Nachdruck der Erstausgabe von 1922, Tübingen 1972
  • (VII) Reinhard Kreckel: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a. M. 1997
  • (VIII) Peter Decker, Konrad Hecker: Das Proletariat, München 2002
  • (IX) Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens. In: Karl Mannheim: Wissenssoziologie, Berlin – Neuwied 1964
  • (X) Werner Becker: Kritik der Marxschen Wertlehre, Hamburg 1972
  • (XI) Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1, Tübingen 1980
  • (XII) Ders.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2, Tübingen 1992
  • (XIII) Ders.: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1969

[1] Im 3. Band des ‚Kapital‘, im siebten Abschnitt über ‚Die Revenuen und ihre Quellen‘ unter der Überschrift ‚Die trinitarische Formel‘ (II / S. 822 – 839) sowie noch ausführlicher in den ‚Theorien über den Mehrwert‘ unter der Überschrift ‚Die Vulgärökonomie‘ (III / S. 445 ff) widmet sich Marx dem Irrationalismus dieser Formen. Dort, im ‚Kapital‘, findet sich auch zusammenfassend die Kritik: Die Vulgärökonomie tut in der Tat nichts, als die Vorstellungen der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion doktrinär zu verdolmetschen, zu systematisieren und zu apologetisieren. Es darf uns also nicht wundernehmen, dass sie gerade in der entfremdeten Erscheinungsform der ökonomischen Verhältnisse, worin diese prima facie abgeschmackt und vollkommene Widersprüche sind ... wenn gerade hier die Vulgärökonomie sich vollkommen bei sich selbst fühlt. (II / S. 825)

 Den bürgerlichen Wirtschaftstheoretikern fällt es bis heute überhaupt nicht ein, sich mit den dort vorgetragenen Einwänden gegen die Grunddogmen ihrer Wissenschaft auseinanderzusetzen!

[2] Dies ist der rationelle Gehalt der berühmten Stelle aus dem Vorwort von ‚Zur Kritik der Politischen Ökonomie‘, mit der neben Mannheim auch sehr viele andere Marx-Exegeten sehr viel Verkehrtes anzufangen wussten: Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. (IV / S. 9) Zur Logik dieses Bewusstseins vgl. VIII / S. 272 ff.