Merkels Land

V. Die politische Kultur

„Wir schaffen das!“ – das war im Sommer 2015. Mit Beschluss der Regierung wurden etliche der in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge vor allem aus Syrien – fast eine Million waren es am Ende – nach Deutschland hereingelassen: Die mussten nun nach den Regeln des Asylrechts sortiert und sicher und billig aufbewahrt werden. Die Aussage: „Wir schaffen das!“ war allerdings schon mehr als „diese Dinge“ – es war eine bleibende Ansage nach innen, ans nationale „Wir“ ...

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Merkels Land
V. Die politische Kultur

„Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
„Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“

Das war im Sommer 2015. Die Notsituation war die der in Ungarn festsitzenden Flüchtlingsmassen vor allem aus Syrien. Diese Dinge waren die Folgen des Beschlusses der Regierung, etliche dieser Massen – fast eine Million waren es am Ende – nach Deutschland hereinzulassen: Die mussten nun nach den Regeln des Asylrechts sortiert und sicher und billig aufbewahrt werden. Die Aussage: Wir schaffen das! war allerdings schon mehr als diese Dinge – und betraf auch etwas anderes als die Flüchtlingspolitik, mit der Deutschland seither seine Zuständigkeit für die Globalisierung, zu deren recht einseitigem Nutzen für die eigene Nation die Kanzlerin sich bei Gelegenheit nachdrücklich bekennt, sowie für die weltordnungspolitischen Konsequenzen der traurigen Art, vor denen eine ambitionierte Weltordnungsmacht sich nicht wegducken darf, demonstrativ wahrnimmt, und zwar für die ganze EU und mit großen Ansprüchen an deren Mitglieder. Es war eine bleibende Ansage nach innen, ans nationale Wir. Und zwar mit einem ausdrücklichen und einem impliziten Inhalt.

Explizit wird damit eine ziemlich historische, ebenso große wie moralisch großartige Aufgabe für die Nation beschworen; eine Herausforderung, die so ziemlich alles andere in den Schatten stellt, was die Deutschen sonst so bewegt. Und das ist unausdrücklich, aber unmissverständlich eine kühne Aussage über das eigene Land, nämlich dass das so prächtig dasteht, dass es im Grunde keine hauseigenen Probleme hat, sondern stattdessen die Macht und die Freiheit, sich um auswärts generierte Weltprobleme zu kümmern; damit indirekt, aber erst recht unmissverständlich, ein Kompliment an die eigene Regierungskunst, die die Nation – mit ihren Wachstumserfolgen nach überstandener Krise, mit ihrer Schwarzen Null, mit ihren vielen, vielen Arbeitsplätzen, mit ihrer Stärke im Vergleich zu allen Nachbarn – so prächtig dastehen lässt. Darin enthalten ist die Aufforderung, ja die moralische Verpflichtung des angesprochenen Wir zu ganz grundsätzlicher Zufriedenheit – mit sich, seiner Lage, seiner Regierung, der ganzen heimatlichen Welt. Kritik jeglicher Art, die Erinnerung an irgendwelche sozialen Nöte oder auch nur „Fragen“, so etwas ist als kleinlicher Vorbehalt gegen das eigentlich selbstverständliche, abrufbare Einverständnis des zu imperialer Größe berufenen Volkes mit seiner Regierung, die die damit verbundenen Aufgaben ungescheut in Angriff nimmt, voll ins Abseits gestellt.

Aber natürlich geht es keineswegs um einen Aufruf zu allgemeiner Zufriedenheit. Verlangt ist eine Sonderleistung der angesprochenen Volksmassen. Nicht eine von der Gattung „Blut, Schweiß & Tränen“; noch nicht einmal eine des Verzichts; überhaupt keine von richtig materieller Art. Was das Wir schaffen soll, ist eigentlich nur, dass es sich den Zuzug von Flüchtlingen gefallen lässt; und das nicht aus politischen Gründen – auch wenn die Kanzlerin mit ihren Hinweisen auf den Segen der Globalisierung und auf Deutschlands enorme weltordnungspolitische Wichtigkeit deutlich genug darauf anspielt –, sondern aus moralischen: aus Großzügigkeit gegenüber fremdem Elend, in einem Akt vorgestellter Selbstlosigkeit, einzig für den ideellen Lohn, von der eigenen Großartigkeit als Nation mal so richtig begeistert sein zu dürfen und voll eines Sinnes mit der Regierung, die ihre Macht an den Flüchtlingen als pure Verantwortlichkeit vorbuchstabiert.

Dass ein gutes Volk wie das deutsche seine Regierenden nicht am Inhalt ihrer Herrschaft misst, sondern als moralische Veranstaltung, nach den Maßstäben der amtlichen Heuchelei beurteilt, davon durfte Merkel getrost ausgehen. Dass dieses Volk aber ausgerechnet wegen eines humanitären Gesinnungseinsatzes für das Elend ungebeten zugewanderter Ausländer ohne jeden erkennbar gemachten Nutzen für die Wohlfahrt der Nation von sich und seiner Regierung begeistert sein würde: diese Rechnung ist noch nicht einmal zur Hälfte aufgegangen. Das ist als moralische Zumutung aufgenommen worden und hat Merkels Land zu Bekenntnissen und Offenbarungen seiner politischen Gesinnung und geistigen Verfassung veranlasst, die die Nation seither ziemlich gründlich spalten.

Aufruhr der Patrioten: Von „Rechtsbruch!“ bis „Widerstand!!“

Mit ihrem freundlichen Gesicht hat die Kanzlerin sich einen anschwellenden Protest eingefangen, der das wirkliche Gesicht der Republik zur Hälfte prägt: Protest gegen den bitterernst genommenen Moralismus, die behauptete Großzügigkeit ihrer Flüchtlingspolitik sowie gegen die „ungebetenen Gäste“, die hereinströmenden „Fremden“.

Schon vor dieser „Flüchtlingskrise“ hatte ein erheblicher Teil der politischen und politisierenden Elite der Nation an Merkels Politik der europäischen Krisenbewältigung in eindeutigem Sinn Anstoß genommen: Dass die Regierung sich bereitfand, Griechenland und andere Partnerstaaten trotz Überschuldung zu kreditieren – in oppositioneller Lesart: Europas Versagern mit viel Geld unter die Arme zu greifen, und das ausgerechnet, damit die „unseren“ Euro weiter mit benutzen können, den sie moralisch gesehen gar nicht verdienen! –, das hielten nicht bloß ein Hamburger Ökonomie-Professor, sondern eine komplette von ihm gegründete Partei sowie im Grunde das halbe Berliner Parlament für einen Ausverkauf wohlerworbener nationaler Besitzstände und äußerst berechtigter deutscher Interessen. Schon das war weit mehr als eine Meinungsverschiedenheit über eine währungspolitische Sachfrage – und sowieso ganz etwas anderes als eine Kritik an Deutschlands ökonomischem Europa-Imperialismus. Was da virulent wurde, war der Standpunkt einer politischen Moral, die felsenfest davon ausgeht, dass die Nation, also die durchorganisierte Vereinigung einer Landesbevölkerung zur Basis staatlicher Macht und zur Manövriermasse kapitalistischer Geschäftstätigkeit, ein unbezweifelbarer höchster Wert an sich sei – was erst einmal noch nichts Besonderes, sondern die allgemeingültige Lebenslüge dieses Zwangsverbands ist. Zur Absage an die Regierungslinie wurde und wird dieser Standpunkt, weil er die Politik des Hineinregierens in andere Länder als Dienst an den Konkurrenten deutet: eine Diagnose, die das Verhältnis von Aufwand und Ertrag für die eigene „nationale Sache“ in der internationalen Konkurrenz im Sinne eines brutal exklusiven vaterländischen Rechtsbewusstseins wahrnimmt, vom Standpunkt des „heiligen Egoismus“ der Nation, der von den – ohnehin und allemal nur sehr begrenzt strapazierbaren – frommen Tugenden der Konkurrenz: Rücksichtnahme und Solidarität, gar nichts wissen will, vielmehr Stärke und Durchsetzung gegen andere für die erste Staatspflicht hält, hinter der erst einmal ganz lange gar nichts kommt.

Dieser Standpunkt, wenn er erst einmal erregt ist und durch vernehmlichen Beifall „von oben“ Recht bekommt, regt sich nicht etwa wieder ab, wenn es, statt um fremde Staatsschulden, um leibhaftige Fremde in Existenznot geht; und auch nicht, wenn gemäß kanzleramtlicher Ansage eine Moral der allgemeinmenschlichen Mildtätigkeit zu der Obermoral der Volkseinheit, des quasi naturwüchsigen Zusammenhaltens des Staatsbürgerkollektivs gegen den Rest der Welt, hinzutreten soll. Ein derart angespitzter Nationalismus sieht in so einer Aufforderung die Zumutung, sein Höchstes zu relativieren; in den menschlichen Opfern aus fremden Ländern erkennt er die Personifizierung eines Willens, dem das eigene nationale Wertesystem nicht angeboren, also wesensfremd und folglich mit tiefem Misstrauen zu begegnen ist. Und dieser Patriotismus reagiert so gehässig und so militant, wie das nur eine gediegene Moral hinkriegt; das demonstrieren Pegida, AfD, CSU und Merkel-kritische Teile der Kanzlerpartei je auf ihre Weise, seit die Chefin in jenem Sommer 2015 gemeint hat, sie könnte mit der empfehlenden Deutung ihres weltordnungspolitischen Engagements als Politik des „freundlichen Gesichts“ für ihre und mit ihrer Nation Ehre einlegen. In unterschiedlichen Tonlagen, angesiedelt zwischen Galgen für Merkel und ihren Vize auf Demo-Plakaten und dem in staatsmännischem Bairisch vorgetragenen Vorwurf fortdauernder Rechtsverletzung durch die eigene Berliner Regierung, machen Merkels Kritiker die Kanzlerin zur Problem- bis Hassfigur ihres Patriotismus. Der findet sich durch die offizielle Flüchtlingsnotstandsbewältigungspolitik zutiefst beleidigt; nicht wegen irgendeiner real fassbaren Schädigung von Recht und Ordnung, sondern weil er in seiner Grundüberzeugung beleidigt ist, wonach dem national Eigenen absoluter Vorrang vor allem Fremden gebührt; Vorrang nicht nur im Sinne einer klaren Reihenfolge, sondern im Sinne eines ausschließenden Gegensatzes. Versuche der CSU, diesem Gegensatz und dem unrelativierbaren Vorrecht des Kollektivs der Eingeborenen mit der Konstruktion einer „Leitkultur“ einen greifbaren Inhalt zu geben, also eine positive Fassung der Ausgrenzung alles Außernationalen und seiner menschlichen Repräsentanten vorzulegen, fallen naturgemäß albern aus, sind aber vor allem völlig überflüssig: Die Empörung über eine Politik, die dem heimatlichen Menschenschlag die Anwesenheit von Fremden ohne angeborenes Daseinsrecht zumutet, reicht völlig aus, um eine starke patriotische Minderheit davon zu überzeugen, dass ihre angestammte Heimat von ein paar hunderttausend syrischen und anderen Kriegs- und Elendsflüchtlingen bis zur Unkenntlichkeit überfremdet zu werden droht; welche Vorstellungen einer mit seiner „Heimat“ verbindet, ist dafür egal – die Wirklichkeit der heimischen Verhältnisse, das wüste Ambiente des deutschen Kapitalismus, ist es ohnehin mit Sicherheit nicht! So kommt es zu einer gewissen Sensation: Aufgestachelt durch Pegida-Umzüge, zur wählbaren Alternative verarbeitet durch die AfD, von sehr weit oben ins Recht gesetzt durch die rechte Hälfte der christlichen Regierungspartei in Berlin und die bayerische Staatsregierung, traut sich der nationale Bürgersinn in beträchtlicher Masse und Deutlichkeit, der amtierenden Chefin ihr über mehr als ein Jahrzehnt bewährtes und wiederholt bestätigtes Abonnement auf seine volle Zustimmung zu kündigen.

Mit dem Wegfall dieser Hemmschwelle bricht sich sogar im extrem sozialfriedlichen Deutschland allerhand soziale Unzufriedenheit Bahn. Enttäuschter bürgerlich-proletarischer Materialismus, bis dato stets mit dem schlagenden Verweis auf den gesamtnationalen Erfolg in Sachen Geschäft und Macht ins Abseits bugsiert, findet sich durch den anerkannten Vorwurf der nationalen Pflichtvergessenheit an die Regierenden nationalmoralisch ins Recht und dadurch freigesetzt. Gründe für solche Unzufriedenheit gibt es ohnehin reichlich; und die kommen mit einem Mal zur Sprache, vorwurfsvoll wie lange nicht. Auf ihren Inhalt kommt es dafür allerdings gar nicht weiter an. Den erregten Patrioten, auch aus der wohlsituierten „Mitte der Gesellschaft“, taugt das massenhafte soziale Elend im Land vor allem eben als Beleg für regierungsamtlichen Verrat am Volk und zur Bebilderung seiner nationalistischen Empörung. Die bemisst sich deswegen auch gar nicht an der Realität dieses Elends, geschweige denn an seinen Gründen. Und sie braucht auch nicht den sonst geforderten Übergang zu Rezepten zu machen, wie die inkriminierte Armut zu beheben wäre: Sie ist im Recht, weil sie auf ungebeten anwesende Ausländer verweisen kann, die die Regierung trotzdem nicht verrecken lässt. Dafür sind die Zitate aus der Welt der niederen Etagen der deutschen Klassengesellschaft gut.

Noch besser, noch drastischer und deswegen allseits noch beliebter ist die Anklage gegen die Regierung und ihre Flüchtlingspolitik per Zusammenschluss mit dem „Thema“ Sicherheit. Wo es um Sex & Crime, Mord und Totschlag geht, da wird der bürgerliche Glaube an die Staatsgewalt als Fürsorgeanstalt fürs Volk fundamental; von allen Rechtfertigungen herrschaftlicher Gewalt ist ihre Herleitung aus dem Schutzbedürfnis der beherrschten Untertanen noch immer die schlagendste. Um den Nachweis einer wirklichen Gefahrenlage braucht die sich nicht zu bemühen. Die Übersetzung von Unterwerfung in den Anspruch, behütet zu werden, von Gewaltmonopol in Schirmherrschaft steht ganz grundsätzlich mit all den Gegensätzen fest, die der bürgerliche Staat in seiner Gesellschaft verrechtet, im Umgang mit seinesgleichen stiftet und denen er seine Angehörigen aussetzt. Wenn er dabei mit seiner Rechtsgewalt die große Grenzlinie zieht zwischen den eigenen Bürgern, deren Rechte er garantiert, und den anderen, die eigentlich auswärtigen Hoheiten angehören und verpflichtet sind, dann gelten automatisch ein paar fundamentale Gleichungen: Wer nicht „von Haus aus“ Untertan der gleichen Herrschaft, also fremd ist, dem ist nicht zu trauen; wenn solche Fremden uneingeladen da sind, sind sie im Prinzip ein Risiko; wenn der Staat sie hereinlässt und duldet, dann geht das nur mit permanenter Kontrolle. Und wenn daran Zweifel bestehen, dann hat erstens die Herrschaft ganz elementar versagt. Und dann geht zweitens die Kette der Gleichungen weiter. Da braucht es nur ein bisschen Nachhilfe der Volksfreunde von Pegida bis Seehofer, und ihren Schützlingen ist klar: Nicht alle Flüchtlinge sind Terroristen, aber alle Terroristen, vor denen ein Deutscher sich fürchten muss, sind Migranten; da muss nichts ermittelt werden, da herrscht eine gewissermaßen begriffliche Übereinstimmung. Auch harmlose Missetaten von Asylbewerbern bestätigen das Urteil, das aus der rechten patriotischen Gesinnung folgt und das sich in der Empörung über Merkels „Willkommenskultur“ laut zu Wort meldet; „Köln“ und Attentate ausländischer Terroristen sind dann die hochwillkommene glanzvolle Bestätigung. Dass solchen Untaten ein Vielfaches an auch tödlichen Übergriffen empörter Patrioten auf Asylbewerber und deren Unterkünfte gegenübersteht, rechtfertigt in der richtigen patriotischen Wahrnehmung solche Übergriffe, macht sie zumindest verständlich im Sinne von gut nachvollziehbar. Was nottut, damit dergleichen unterbleibt und das aufgehetzte Volk sich eventuell wieder abregt, ist staatliches Durchgreifen im Namen der Sicherheit bei Abwehr und Kontrolle der Fremden; und zwar mit demonstrativer Rücksichtslosigkeit, die dem patriotischen Gemüt hinreichend bestätigt, wie sehr es im Recht ist mit seiner Ausländer-„Angst“.

Der Übergang zur auf Facebook mitgeteilten und geteilten Freude über ertrunkene Migranten ist diesem Standpunkt nicht fremd. In Merkels Republik weiter verbreitet ist die höfliche Fassung, wonach Todesfälle auf dem Weg der Kriegs- und Elendsflüchtlinge nach Europa oder auch zurück nach allfälliger Abschiebung zwar unschön, tunlichst auch zu vermeiden sind, das aber bestimmt nicht dadurch, dass man legale Zuwanderungswege eröffnet oder Geflüchtete einfach bleiben lässt: Leichen sind kein Argument gegen die nötige Strenge bei der Vollstreckung der Rechtslage, die zwar gerade in diesem Bereich dauernd geändert wird, aber völlig unveränderlich feststeht und auch nicht locker gehandhabt werden darf, wenn ein Ausländer davon einen Vorteil hätte. Das ist die zivile Variante, die für „bürgerliche Wähler“ akzeptable, in der ein heimatliebendes Volk von seiner Obrigkeit erwarten darf, dass die für die Sicherheit der Ihren, nämlich für deren gefühltes Recht auf Fernhaltung von Fremden, über Leichen geht – wirklich, nicht bloß rhetorisch. Dabei gilt für ganz viele deutsche Christen und bayrische Katholiken noch nicht einmal mehr die Klausel, dass man für Menschlichkeit und fromme Nachrufe auf – womöglich ja doch – „unschuldige Opfer“ den lieben Gott und dessen christlich-abendländische Kirchen hat: Wenn Papst und Pfarrer ihrem gemäßigt bis hasserfüllt fremdenfeindlichen Volk allzu energisch ins Gewissen reden, verzeiht man ihnen das nicht mehr als berufsbedingt mangelnden Realismus, sondern muss sich über das Fehlen einer leitkulturgemäßen Gesinnung und eines zeitgemäßen Problembewusstseins wundern.

In diesem Geist macht sich eine neue rechtsradikale Intellektuellenszene auch an ein paar heiligen Kühen der etablierten demokratischen Politkultur zu schaffen. Die Tugend der Toleranz, die ihnen, schon ziemlich defensiv, als allgemeingültige Norm entgegengehalten wird, wenn sie gegen fremde Religionen, Sitten und Leute hetzen, lassen die sprachbegabten alternativen Patrioten für die Anwesenheit Andersartiger in ihrer Heimat nicht gelten und machen mit der Parole: Heute tolerant, morgen fremd im eigenen Land! schon sehr eindeutig klar, dass sie Toleranz insgesamt nicht für eine gute Sache halten, die bloß den Zugereisten nicht zusteht, sondern für eine Schwäche; für den Beginn der Selbstaufgabe des Volkes, das als Kollektiv doch von einer Identität lebt, deren Inhalt auf alle Fälle darin besteht, dass er vor jeder vernünftigen Überlegung und Entscheidung feststeht, quasi von Natur; und für eine Todsünde der dafür zuständigen Staatsgewalt. Das hindert diese „Identitären“ und ihren Anhang natürlich überhaupt nicht daran, ihren eigenen Standpunkt, gerade in seinen gemeinsten Fassungen, mit dem Plädoyer: Man wird doch wohl noch sagen dürfen ... methodisch gegen jede Zurückweisung oder auch nur Infragestellung zu immunisieren. Tatsächlich meinen sie damit ja auch nicht bloß die demokratische Lizenz, folgenlos Blödsinn äußern zu dürfen, sondern bestehen darauf, öffentlich Recht zu bekommen. Dass das für ihren Geschmack viel zu wenig der Fall ist, drücken die Wortführer rechtsradikaler Empörung mit dem Vorwurf Lügenpresse! aus, der auf alles andere als die Entlarvung von Falschmeldungen zielt, geschweige denn angewiesen ist. Dass die gemeinte demokratische Öffentlichkeit ihnen tatsächlich enorm viel Aufmerksamkeit widmet, nutzen sie für „gezielte Provokationen“, mit denen sie gerne den traditionellen bundesdeutschen Antifaschismus mit seinen Sprachverboten und Sprachdenkmälern aufweichen würden. Dem mangelnden Erfolg in diesem Punkt steht immerhin der Effekt gegenüber, dass die sonstige Stimmungsmache gegen die Sichtbarkeit von Migranten im deutschen Städtebild, die unzweideutig auf deren Entfernung aus dem deutschen Heimatland zielt, Einfälle wie die Forderung nach einem Burka-Verbot! oder die triumphierende Todesmeldung über Multikulti als gemäßigt gelten.

An der Art Heimatgefühl wärmt sich in Merkels Land die halbe Nation.

Die „anti-rechte“ Generallinie: Das unbedingte Recht der deutschen Demokratie auf Bewahrung der herrschenden Machtverhältnisse

Die andere Hälfte gibt es auch noch. Die selbstgewisse Ansage der Kanzlerin: Wir schaffen das! ist durchaus nicht nur ungnädig aufgenommen worden; sie hat selbst politisch Karriere gemacht. Was ihre Gegner als vaterlandsvergessene Zumutung zurückweisen, was erstaunte Beobachter von auswärts teils als ehrenwerten, teils als übertriebenen bis durchgeknallten Moralismus verbuchen, das wirkt nach innen durchaus im Sinne der guten Meinung, die Merkel von sich, ihrer Politik, der Lage im Land und von ihrem Volk hat und geteilt haben will: Lauter nette Deutsche billigen, etliche sogar mit persönlichem Einsatz und nicht bloß per Meinung, die von oben vorgegebene Lagebestimmung, wonach Deutschland keine bedeutenden inneren Probleme hat und seinen ganzen Stolz in die Bewältigung der Herausforderung an Mitleid, Mildtätigkeit und Bürgersinn setzt, die in Form eines massiven Flüchtlingselends aus Griechenland bzw. vom Hauptbahnhof von Budapest und aus Österreich auf die Republik zugekommen ist. So moralisch als Weltmeister des Erfolgs angesprochen zu werden, der sich um den Rest der Welt kümmert und dafür nebenbei auswärtigen Regierungen Vorschriften machen muss, gefällt auch großen Teilen der christdemokratischen Führung und Gefolgschaft, die diese hohe Selbsteinschätzung bis dahin eigentlich mehr in anderer Form genossen haben, nämlich in der zwischen Besserwisserei und Verachtung angesiedelten Disqualifizierung von Partnerländern, die nicht so wie die BRD aus der Krise stärker hervor- als in sie hineingegangen sind. Skeptische Gemüter, linke vor allem, die zuvor an verschiedenen Stellen im nationalen Getriebe noch Verbesserungsbedarf entdeckt haben, lassen sich für den Standpunkt fürsorglicher Betreuung von Fremden einnehmen, der im Sinne der Parole vom freundlichen Gesicht Merkels ansonsten zutiefst sorgenfreies Land auszeichnet.

Regierungsamtlich zurückgenommen wird davon auch angesichts der an Härte und Breite zunehmenden patriotischen Protestwelle nichts. Doch je länger, desto weniger bezieht sich Merkels Wir schaffen das! auf die moralisch hochwertige Aufgabe, den nach Deutschland gelangten Promille-Satz von Opfern der Globalisierung bürokratisch zufriedenstellend zu verstauen und möglichst preiswert ehrenamtlich zu betreuen; desto mehr und desto eindeutiger richtet sich ihre Ansage de facto auf und gegen die Anfeindungen von rechts, denen Merkel und ihr nettes Deutschland sich immer mehr und immer eindeutiger ausgesetzt sehen. Dieser Opposition wird von den amtlich Verantwortlichen Bescheid erteilt, inwiefern sie – teilweise, im Wesentlichen oder ganz und gar – daneben liegt; die Szene der professionell oder privat fürs demokratisch korrekte Wir-Gefühl der Deutschen ideell Verantwortlichen liefert dafür Stichworte, hilft mit Interpretationen aus und betreut die Grundhaltung der Zustimmung zum politischen Geschehen und zu den regierenden Machern, die bei allem gepflegten Pluralismus und allen Meinungsverschiedenheiten als unerschütterliche Gewohnheit der Fügsamkeit intakt bleiben muss, damit der Laden demokratisch funktionieren kann.

Den entschiedensten Ablehnungsbescheid erteilen Obrigkeit und Volkserzieher dem radikalen Protest, dessen Vorkämpfer die nationale Führungsmannschaft gerne aufhängen würden und Hitlers KZs für eine Lösung ihrer Probleme halten. Die ideelle Kriminalisierung solcher und ähnlicher, vor allem die „sozialen Netzwerke“ belebender „Hass-Botschaften“ fällt leicht. Die wirkliche Strafverfolgung gestaltet sich schon schwieriger; sogar dann, wenn „der Mob“ zur Tat schreitet, Asylantenunterkünfte anzündet, Ausländer verprügelt und dergleichen – zu Merkels Republik gehören eben auch nicht wenige Staatsschützer und Polizisten, die einen tatendurstigen Ausländerhass gut genug verstehen, um eher die Ausländer als die Hasser für „Entgleisungen“ haftbar zu machen. Dass verbale und erst recht handfeste Übergriffe sich nicht gehören, ist aber Konsens im seriösen Meinungsspektrum. Solch rechtsradikaler Fanatismus wird ausgegrenzt, als ungehörige, jeden Anstand verletzende Übertreibung – und nicht, das darf hier schon mal angemerkt werden, als besonders konsequente patriotische Schlussfolgerung aus enttäuschten falschen Ansprüchen an die herrschende Staatsgewalt. Einen Fehler mögen die Vertreter der demokratischen Vernunft den fanatisierten Rechten überhaupt nicht vorwerfen, vielmehr die Hemmungslosigkeit, mit der sie Jagd auf „Sündenböcke“ machen, oft genug an der falschen Stelle und noch dazu „ohne Grund“, nämlich ohne nennenswerten Ausländeranteil in ihrem Kiez. So ist mit der Ausgrenzung der verkehrten Patrioten auch schon die positive Botschaft in der Welt: Die demokratische Vernunft verlangt – nichts weiter als – Mäßigung; auch radikale rechte Dummheit ist zulässig, wenn sie sich nur an der staatlichen Ordnung nicht vergreift; so viel Konformismus muss schon sein.

Das gilt fürs Volk; das gilt verschärft für alle, die dem Volk etwas zu sagen haben wollen. Denn wer das Volk aufhetzt, und das nicht methodisch berechnend auf eine Weise, die wieder zurückführt in den permanenten Wahlkampf der anerkannten Parteien, die die Staatsmacht dort lassen, wo sie hingehört, nämlich bei den gewohnten herrschaftstreuen Kräften: Der will nicht führen, wie ein Volk das braucht, sondern verführen; und das gehört sich gar nicht. Das Verdikt über die rechtsextremen Abweichler wäre damit fertig und die nationale Harmonie intakt, wenn Merkels große Echokammer sich nicht mit zwei widrigen Phänomenen auseinanderzusetzen hätte: Die alternativen Rechten finden Anhänger; so viele, dass sie Wahlkämpfe bestimmen und nach den Wahlen den etablierten Proporz zerstören. Und ein Partner der großen Regierungskoalition, die CSU, gibt den rechten Anklagen gegen die Regierung Recht, spaltet damit auf Dauer auch die große Schwesterpartei. Darauf braucht es eine Antwort.

Und die wird geliefert. Zuerst einmal in Form der richtigen Fragestellung. Also auf Grundlage der festen, als selbstverständliche Tatsache gehandelten Überzeugung, dass in Deutschland in sozialer Hinsicht eigentlich alles Wesentliche in Ordnung ist oder jedenfalls ganz gut im Griff der Politik – vielleicht abgesehen von der „Einkommensschere“, die nach den Maßstäben der sozialen Gerechtigkeit zu weit aufgeht, weil gierige Manager sich unverdient zu viele und zu hohe Boni zuschustern. Wie kann es sein – so fragt sich die Merkel-treue Öffentlichkeit, und bei der Frage zieht auch die bayrische Regierungspartei mit –, dass den „rechten Rattenfängern“ trotzdem die Mobilisierung von derart viel Unzufriedenheit und abweichenden Wählerstimmen gelingt? Dass die Alternativen von rechts in böser Absicht handeln, nur um die regierenden und konstruktiv mitregierenden anständigen Kräfte im Land grundlos schlechtzumachen, geht in die Fragestellung schon mit ein; also auch, dass an dem sozialen Elend im Land schon deswegen objektiv nichts dran sein kann, was einen berechtigten Grund zur Unzufriedenheit mit Wirtschaft und Sozialpolitik abgeben könnte, weil die Rechtsextremen es für sich als Propagandamittel benutzen. Eröffnet ist damit die Überlegung, was subjektiv da dran sein könnte; Thema wird der Sumpfboden für die Verführungskunst der Rechten, die Verführbarkeit größerer Volksteile. Auf die Art kommt auch in der Welt des freundlichen Gesichts die hauseigene deutsche Armut in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zur Sprache, sogar recht ausführlich – als eine Angelegenheit der politischen Psychologie der Massen. Armut ist als Problem anerkannt, nämlich als Problem der ideellen Betreuung: als womöglich schlechte Bedingung für die politische Zufriedenheit, die die Regierung beansprucht und sich von Radikalen und Extremisten nicht kaputtmachen lässt. Wenn das gutgläubige Einverständnis der Massen mit den Regierenden nicht das korrekte Maß erreicht und materielle Existenznöte dafür eine Rolle spielen, dann muss, das geben Regierung und das regierungstreue Gemeinwesen selbstkritisch zu, bei der mentalen Betreuung von Existenzängsten wohl etwas verschlampt worden sein. Man hat wohl nicht genügend bedacht – das „man“ meint alle, die als Regierende oder verantwortliche Meinungsbildner fürs Einverständnis des Volkes mit seiner Lebenslage zuständig sind –, dass die völlig außer Frage stehenden Segnungen der Globalisierung bei etlichen Abgehängten nicht richtig angekommen sind und dass manche noch ganz gut situierte Angestellte auf angekündigte massenhafte „Arbeitsplatzverluste“ mit Verunsicherung und menschlich verständlichen Abstiegs-, Zukunfts- oder anderen diffusen Ängsten statt mit Vorfreude auf „die Digitalisierung“ reagieren. Es ist also eigentlich das Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Führung, wie es in einem ordentlichen Staat wie Deutschland der Normalfall zu sein hat, das zu wünschen übrig lässt, um dessen Pflege die Verantwortlichen sich folglich vermehrt zu kümmern haben. Irgendein noch so kleines Stück materielles Elend ist den Regierenden jedenfalls nicht anzulasten; Überlegungen der sozialdemokratischen Regierungspartei, die politmoralische Betreuung der Armut im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit mit ein paar zusätzlichen sozialpolitischen Hilfsmaßnahmen zu untermauern, fangen sich von der Chefin die Zurückweisung ein, in materieller Hinsicht sei doch längst alles getan; die Mitverantwortlichen sollten ihr unkritisierbares Werk einer rundum erfolgreichen, saturierten Nation nicht selber kleinmachen durch die wie gut auch immer gemeinte Konzession an Unzufriedene, es gäbe da und dort noch so etwas wie Not. Das Problem ist jedenfalls eine eigentlich grundlos schlechte Stimmung im Land. Für deren Besserung sind Regierung und konstruktive Kräfte gefordert. Und die tun das Nötige: Mit dem Eingeständnis möglicher Versäumnisse bei der Erklärung, wie gut es Deutschland geht, erobern sie auf alle Fälle schon mal das Recht der Herrschaft auf Zutraulichkeit der Beherrschten zurück.

Mit einer etwas anders gearteten Gegenoffensive begegnet Merkels Regierungs- und Meinungsmehrheit dem Vorwurf der Vaterlandsvergessenheit – in der radikalen Variante: des Volksverrats – wegen verkehrter Flüchtlings- und Ausländerpolitik. Der eine Teil der Doppelstrategie, mit der sie diesen Vorwurf ins Unrecht setzt, besteht erstens in der fortgesetzten Klarstellung, dass bei allem Menschlichkeitsmoralismus die Scheidung zwischen Deutschen und Fremden nicht zu kurz kommt, zweitens in einer Präsentation dieser Politik des Fernhaltens und Abschiebens, die demonstriert, dass die Fanatiker der Ausgrenzung mit ihrer Kritik im Recht wären, es tatsächlich aber überhaupt nicht sind. Weswegen auch, Doppelstrategie zweiter Teil, Merkel ihrem freundlichen Gesicht überhaupt nicht abzuschwören braucht, weil in ihrer Person und in ihrer Politik patriotischer Grenzschutz gegen arme Leute und Weltoffenheit schon immer zusammengefallen sind.

In diesem Sinn macht in Merkels Land die wunderbare deutsche Willkommenskultur Karriere. Mit dem Fortschritt von Aylan – das ist das ertrunkene syrische Kind, dessen Bild im Herbst 2015 die Nation kurzfristig zu Tränen gerührt, den offiziellen Moralismus der am Flüchtlingsstrom aus Syrien exekutierten deutsch-europäischen Weltordnungspolitik so richtig schön persönlich fühlbar gemacht, sogar als Einwand gegen die praktizierte „Abschottungspolitik“ gedient hat – zu Amri – das ist der Tunesier, der Ende 2016, nach langjährigem Aufenthalt im Abschiebestatus in Deutschland, auf einem Berliner Weihnachtsmarkt ein Massaker angerichtet und so in seiner Person den Kurzschluss von „fremd“ auf „feindlich“, die Gleichung zwischen „Flüchtling“ und „Terrorist“ in Szene gesetzt hat –, mit der Kölner Silvesternacht 2015/16 dazwischen, führt Deutschlands freundliches Gesicht den Beweis, dass ihm der Generalverdacht gegen ungebetene Migranten zwar unangenehm, aber durchaus nicht fremd ist: Gerade eine Idealismus-gefährdete Humanität braucht Härte am rechten Fleck als Korrektiv. So wie mit dem ausgiebig zitierten Flüchtlingselend auf gefühlte Zuständigkeit für den Edelmut der Nation, so wird das Volk mit kleinen Inszenierungen der alltäglichen Abschiebepraxis auf Einsicht in die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Brutalität eingeschworen. Und umgekehrt: Die Härte gegen Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive, die Merkels Regierungsapparat demonstrativ an den Tag legt, ändert gar nichts daran, dass die Chefin eine Entschuldigung für ihr als Einladung missdeutetes Wir schaffen das! konsequent verweigert – ein schöner Hohn auf ihre innerparteilichen Gegner beim CDU-Parteitag das Eingeständnis des Fehlers, die weltpolitische Ordnungsaufgabe der Regulierung des weltweiten Davonlaufens nicht viel früher von Berlin aus angepackt zu haben. Ausgrenzen und Abschieben geht in Merkels Land human, um nicht zu sagen humanitär: Für diese Lesart ihrer Politik, als Beweis ihrer moralischen Prinzipientreue, nutzt die Kanzlerin die Sturheit, mit der ihr CSU-Kollege auf einer bezifferten Obergrenze fürs Hereinlassen von Flüchtlingen besteht, indem sie sonst nichts, aber diese Grenze ebenso stur ablehnt. Moral funktioniert mit Vernunft, politische Vernunft funktioniert mit Moral: Im Namen dieser Gleichung soll das Volk sich gefälligst weiterhin in gewohntem Konservatismus seinen Machthabern anvertrauen und so effektiv und geräuschlos funktionieren, wie die Regierung ihre Herrschaft über Land und Leute ausübt. Auch diese Propaganda aus der und für die Mitte kommt an. Fügsamkeit und Heuchelei halten dem unzufriedenen Nationalismus die Waage – was für ein Glücksfall demokratischer Kultur.

Für die freie Volkserzieherszene ist die Sache damit freilich noch nicht gegessen. Die hat noch mit dem Vorwurf Lügenpresse abzurechnen, von dem sich nicht bloß der professionelle gehobene Journalismus beleidigt findet. Dem grölenden Volk Ahnungslosigkeit, dem Facebook-Mob Unsachlichkeit nachzuweisen, ist dabei die leichtere Übung, langt aber natürlich überhaupt nicht. Der Anspruch ist ein höherer als das Recht-Behalten in irgendwelchen Sachfragen: Die etablierte Öffentlichkeit kämpft für ihr Monopol auf wirksame politische Meinungsbildung. Dafür geht sie so methodisch ans Werk wie schon im besonderen Fall der von rechtsaußen mobilisierten sozialen Unzufriedenheit: Sie geht ganz einfach aus von der Unhaltbarkeit aller Angriffe auf die von ihr in ihrer Bandbreite vorgegebene und bediente politische Vernunft und fragt mit größter Selbstsicherheit nach den wahren und eigentlichen Urhebern der so grundverkehrten wie verwerflichen Gegenöffentlichkeit sowie nach den Ursachen dafür, dass die beim Publikum tatsächlich Anklang findet, obwohl sich das doch gar nicht gehört. Die Antwort auf beide Teile der Frage lautet Populismus: Die einen verführen das Volk mit dem Appell an seine niederen Instinkte; die anderen lassen sich dadurch verführen, dass man ihnen nach dem Mund redet. Was die Letzteren betrifft, so mischen sich in der Diagnose elitäre Verachtung der Massen, die ohne Sinn und Verstand „Rattenfängern“ nachlaufen, und Eifersucht auf den Erfolg, den rechte Demagogen ganz zu Unrecht einkassieren: eine Kombination, die nichts anderes ausdrückt als den exklusiven Rechtsanspruch der Vertreter der gewohnten, zur politischen Vernunft geadelten Machtverhältnisse auf „geistig-moralische Führung“. Untermauert wird das Selbstverständnis dieses Anspruchs, nämlich seine Selbstverständlichkeit, durch eine Verallgemeinerung der Selbstkritik, mit der im Besonderen jede laut gewordene materielle Unzufriedenheit abserviert wird: Mit allzu viel allzu penetranter „political correctness“ hätte man – gemeint: die berufenen Sachwalter der politischen Gesinnung im Land – den „einfachen Leuten“ wohl doch zu viel zugemutet. Linksliberale Kulturträger, engagierte Moralisten der von Merkel ausgerufenen „Willkommenskultur“, erheben gegen sich den Verdacht der Bevormundung des braven Volkes; ihre konservativeren Kollegen, längst etablierte Verächter von „Multikulti“ und ähnlichem Gedöns, nutzen die Gunst der Stunde, um den Zeitgeist der Republik ein bisschen weiter ins Reaktionäre zu verschieben. So oder so kommt man der „populistischen“ Konkurrenz entgegen, um ihr das Wasser abzugraben. Gerne kopiert man bei Gelegenheit auch den Stil der Gehässigkeit, den man für einen guten Teil des Erfolgsgeheimnisses der Rechtsradikalen hält: Auf üble Nachrede verstehen sich Vertreter der politischen Vernunft allemal so gut wie die Wortführer des nationalistischen Protests. Und auf deren Ausgrenzungspolemik auch: Die „selbsternannten“ Populisten, die sich in unlauterer Absicht ans eigentlich herzensgute deutsche Volk heranmachen, werden – „mutmaßlich“: man bleibt ja objektiv! – aus Russland bezahlt, vom Kreml gesteuert, sind Teil einer Verschwörung gegen Merkels Europa, die von Moskau neuerdings bis Washington reicht... So kommen im linientreuen Geistesleben der Republik auch Russenhass, Antiamerikanismus und vorgestelltes Heldentum im Einsatz gegen die Feinde der wahren nationalen Sache nicht zu kurz.

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So steht es also um den geistig-moralischen Überbau der Merkel-Republik: Protest und Absagen, eine merkliche Fundamentalopposition gegen dieses kapitalistisch-imperialistische Gesamtkunstwerk und eine Regierung, die, mit sich zufrieden, allgemeine Zustimmung als ihr Recht einfordert, die gibt es nicht zu knapp – von rechts und ganz rechts außen, als Vorwurf des fortgesetzten Rechtsbruchs der Kanzlerin bis hin zur demagogischen Anklage wegen Landesverrats; und das ausgerechnet wegen einer Politik des innereuropäischen Imperialismus, der Ausnutzung der Staatenwelt und der Platzanweisung an fremde Herrschaften, speziell der begrenzten Zulassung von Bürgerkriegsflüchtlingen und Elendsmigranten im Zuge einer weit ausgreifenden Weltordnungspolitik. Oder genauer: wegen des Scheins höchster moralischer Beweggründe, mit dem die Regierung ihre Politik umkleidet. Dieser Protest aus dem Geist patriotischer Gehässigkeit weckt nicht bloß jede Menge Nationalismus im Land; er saugt jede noch so begründete Unzufriedenheit mit noch so miesen Lebensverhältnissen komplett auf, verwandelt sie in Wut auf unwillkommen Zugewanderte, als wären die für irgendetwas an diesen Verhältnissen der Grund, und in alberne Empörung über die Regierung, die die Fremden eingeladen hätte; so ergänzen die Rechten die soziale Verelendung durch eine weitere geistige Verelendung des ohnehin herrschenden falschen Bewusstseins unzufriedener Leute. Die Generallinie der nationalen Politkultur, an der dieser Protest sich abarbeitet, zieht sich je länger, umso entschlossener und offensiver auf den Standpunkt zusammen, dass Deutschland so, wie es ist, unbedingt mit sich zufrieden sein kann, seine Bevölkerung folglich allen Grund hat, mit seiner Welt zufrieden zu sein, und dass deswegen am besten alles so bleibt, wie es ist; eventuell mit einem gewissen Personalwechsel, mit neuen Gesichtern und einem Akzent auf „sozialer Gerechtigkeit“, damit sich an der gewohnten Politik sonst nichts ändern muss. Konservative Anpassungsbereitschaft ist da angesagt. Die darf sich dem Genuss einer „gemäßigten“, i.e. von oben erlaubten Vaterlandsliebe hingeben, dem selbstgefälligen Gefühl, in einer Welt voller Eigensucht, Lügen und „Mauerbauern“ einen Leuchtturm des Anstands zu bewohnen.

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Und links von alledem? Da existiert eine mittlerweile etablierte Protestpartei, die dem Alleinvertretungsrecht auf soziale Unzufriedenheit hinterherläuft, das ihr längst von rechtsaußen erfolgreich streitig gemacht worden ist. „Die Linke“ reklamiert das soziale Elend, die Armut im Land, für sich – als Objekt politischer Betreuung. Also nicht, um daraus so etwas wie eine Absage an ihre Ursachen zu verfertigen, sondern in der edlen Absicht, die Republik mit ihren partiell kritikablen Errungenschaften weiter zu verbessern. So leistet sie ihren zwar gar nicht erwünschten, aber politisch nur gut gemeinten Beitrag zur hygienischen Entsorgung möglicher Restbestände an linker Systemkritik: ein letzter Schnörkel am rechten Geist der Zeit.