Ansprachen und Interpretationen zum hundertjährigen Jubiläum des Ersten Weltkriegs – zweiter Teil
Die neueste wissenschaftliche Sicht auf einen Krieg, den keiner wollte

Der 100. Geburtstag des Ersten Weltkriegs ist für nicht wenige Geschichtswissenschaftler ein willkommener Anlass, neu über das Mega-Thema der öffentlichen Gedenkkultur (Spiegel 1/14) nachzudenken. Schon zu Beginn des Gedenkjahres bereichert eine Flut von über 150 Neuerscheinungen allein in Deutschland den Markt der Interpretationen. Um deren Beitrag zur zeitgemäßen Auffrischung des bundesrepublikanischen Geschichtsbewusstseins zu würdigen, genügt es freilich, sich auf die zwei Geistesgrößen – ein in Cambridge lehrender australischer Historiker  und ein historisierender Politologe der Humboldt-Universität  – zu beschränken, die es mit ihren meistenteils als ‚monumental‘ gerühmten Neuinterpretationen auf die Bestsellerlisten geschafft haben.

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Ansprachen und Interpretationen zum hundertjährigen Jubiläum des Ersten Weltkriegs – zweiter Teil [1]
Die neueste wissenschaftliche Sicht auf einen Krieg, den keiner wollte

Der 100. Geburtstag des Ersten Weltkriegs ist für nicht wenige Geschichtswissenschaftler ein willkommener Anlass, neu über das Mega-Thema der öffentlichen Gedenkkultur (Spiegel 1/14) nachzudenken. Schon zu Beginn des Gedenkjahres bereichert eine Flut von über 150 Neuerscheinungen allein in Deutschland den Markt der Interpretationen. Um deren Beitrag zur zeitgemäßen Auffrischung des bundesrepublikanischen Geschichtsbewusstseins zu würdigen, genügt es freilich, sich auf die zwei Geistesgrößen – ein in Cambridge lehrender australischer Historiker [2] und ein historisierender Politologe der Humboldt-Universität [3] – zu beschränken, die es mit ihren meistenteils als ‚monumental‘ gerühmten Neuinterpretationen auf die Bestsellerlisten geschafft haben.

Die Aktualität von 1914: Die historische Herleitung des Sinns des Politischen im Allgemeinen ...

Der australische Gelehrte macht seine Leserschaft gleich zu Beginn seines Werkes auf folgende Weise mit der Entdeckung vertraut, dass die politische Landschaft im Vorfeld des nun 100 Jahre zurückliegenden Geschehens sich nicht groß von der heutigen unterscheidet:

„Seit dem Ende des Kalten Krieges ist an die Stelle des Systems globaler, bipolarer Stabilität ein weit komplexeres und unberechenbareres Gefüge von Kräften getreten ... – Ein Zustand, der zum Vergleich mit der Situation in Europa anno 1914 geradezu einlädt.“ (C15)

Dass es den indirekt angesprochenen beiden Machtblöcken in ihrem Kalten Krieg eher nicht um „Stabilität“ auf dem Globus gegangen ist, vielmehr dem einen aus dem Westen vordringlich um die Destabilisierung und Erledigung des anderen im Osten, hat der gebildete Mann sicherlich nicht vergessen. Es spielt für ihn nur eben keine Rolle. Was Sache ist, wenn zwei Lager ihre Feindschaft bis zur Planung eines Weltkriegs eskalieren, ist ihm nicht wichtig, weil sein Augenmerk ganz der Leistung gewidmet ist, die sie mit der wechselseitigen Androhung ihrer gleich multiplen Vernichtung hingekriegt haben. Denn was immer sie mit ihren destruktiven Machenschaften im Einzelnen bezweckt haben mögen – bewirkt haben sie in seiner Sicht der Dinge etwas für die Staatenwelt äußerst Konstruktives, nämlich eine Ordnung, die er vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Haltbarkeit und Übersichtlichkeit für äußerst schätzenswert hält. Derart löst sich für ihn die Subsumtion der ganzen Welt unter den Gegensatz zweier verfeindeter Lager in Wohlgefallen auf, nämlich in ein System, das keinen anderen Inhalt, Sinn und Zweck hat, als sich selbst gleichzubleiben, und deshalb für den Wissenschaftler, der es entdeckt hat, nur ein System von Stabilität ist.

Ein Bild von Staaten, die sich wie Eisenspäne im magnetischen Kraftfeld zwischen zwei Polen ausrichten – das in etwa ist der Begriff, den dieser Denker sich vom Kalten Krieg macht, und damit hat er auch schon so gut wie alles fertig im Sack, was es an der Epoche danach zu begreifen gibt: Die Abwesenheit der einst festgefügten Ordnung ist natürlich zu verzeichnen, wenn es die zwei Pole nicht mehr gibt, die für sie gesorgt haben, so dass die Ordnung nach dem Kalten Krieg die interessante positive Bestimmung erfährt, so etwas wie eine Nicht-Ordnung zu sein – ein Gefüge von Kräften, von dem nur zu erfahren ist, dass sich Näheres darüber nicht sagen lässt, schon gleich nicht im Voraus. Solcherart ist für ihn der Zustand beschaffen, der ihn zum Vergleich mit den Zuständen vor 100 Jahren geradezu einlädt – und mit diesem Satz ist der Vergleich, dessen Durchführung erst mal nur angekündigt wird, auch schon gelaufen. Der Historiker nimmt ein Jahrhundert politischer Zeitgeschichte in den Blick, aber von vorneherein so, dass die Subjekte dieser Geschichte, die Staaten mit ihrer Politik, gar nicht vorkommen. Er nimmt Bezug auf die Beziehungen und Verhältnisse, die sie untereinander eingehen, hat also die Politik zum Gegenstand, die sie in ihrem Verkehr treiben – dies aber wiederum so, dass die Sache, die Staaten da umtreibt, gar nicht Gegenstand ist. Er abstrahiert derart gründlich von beidem, von den Subjekten der Politik wie von allem, was deren Inhalt und Zweck ist, dass vom Wirken der Staaten einfach nur noch der Formalismus von Ordnung übrigbleibt, die sie zwischen sich einrichten. Diesen Formalismus – näher: die Haltbarkeit des Ordnungszustands, die er Stabilität nennt – erhebt der Historiker zur Hauptsache, zum eigentlichen Sinn der Politik der Staaten untereinander. Dabei erspart er sich jeden gedanklichen Aufwand, irgendwie für seine Überzeugung zu argumentieren, die politischen Machenschaften dieser Subjekte wären am Maßstab der Haltbarkeit ihrer Verkehrsformen zu messen. Der Mann hält seine alberne leere Idee vom Machterhalt als Selbstzweck der Mächte offenbar für eine sich von selbst verstehende Tatsache und geht von daher zur wissenschaftlichen Würdigung der Bemühungen und Leistungen über, mit denen die Staatssubjekte der historischen Aufgabe gerecht zu werden versuchen, möglichst lang am Leben zu bleiben. Dass sich da die Einrichtung einfacher, gut kalkulierbarer, also souverän beherrschbarer Verhältnisse eher empfiehlt als das Gegenteil, liegt auf der Hand. Dieser durch nichts in der Sache, allein in seinem Interesse an Stabilität begründete Blick auf eine 100jährige Zeitspanne der Weltpolitik ist das gemeinsame Dritte, das einen Kalten Krieg so problemlos mit dem Zustand von heute und den wiederum genauso problemlos mit der Lage von vor hundert Jahren vergleichen lässt. Ohne dass man überhaupt irgendetwas über die Politik zu wissen bräuchte, die heute unterwegs ist und im letzten Jahrhundert unterwegs war, weiß man so jedenfalls schon Bescheid über das überhaupt nicht historische, sondern immer gleiche Problem, um das sich alle Politik dreht. Die Stabilität, die es mal gab, gibt es heute so, wie es sie mal gab, nicht mehr, und das war auch schon im Kaiserreich der Fall, woraus sich ganz von selbst der Auftrag für heute ergibt: Es gilt, den Erfordernissen der Zeit zu gehorchen und die stabilen Verhältnisse hinzubekommen, die die Staaten für ihre Politik brauchen.

… und der Politik der deutschen Nation im Besonderen

In Sachen Abstraktionskunst steht der deutsche Vertreter der Disziplin seinem Kollegen in nichts nach: Zur Ermittlung des gemeinsamen Dritten, das zum epochenübergreifenden Vergleichen animiert, braucht er nur ein Wort: „strukturell“ –

„Deutschland nimmt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder eine Position ein, die sich strukturell nicht wesentlich von der unterscheidet, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts innehatte.“ (M787)

Auch er ist über jede Bemühung erhaben, an der Politik des deutschen Kaisers oder der heutigen deutschen Kanzlerin zu zeigen, inwiefern beide überhaupt demselben Anforderungsprofil zu gehorchen haben. Das geht für ihn zweifelsfrei schon allein aus dem Umstand hervor, dass das Deutschland von heute in Europa schon wieder so eine Zentralmacht ist, wie sie das Kaiserreich seinerzeit war:

„Seit den 1990er Jahren nimmt Deutschland wieder die Position eines starken Akteurs in der Mitte Europas ein und ist wieder zur Zentralmacht Europas geworden. Das ist eine schwierige Position; mit einer vergleichbar anspruchsvollen Rolle sind die Deutschen in den zwei Jahrzehnten vor 1914 nicht zurechtgekommen.“ (M768)

Mit der Charakterisierung Deutschlands als starker Akteur stellt der Wissenschaftler diese Nation mitsamt ihren politischen Handlungsbevollmächtigten gedanklich mitten hinein in das von seinem Kollegen systemtheoretisch konstruierte unberechenbare Gefüge von Kräften, um daraus die Rolle der deutschen Nation im europäischen Mächtekonzert damals wie heute abzuleiten, und die liegt ziemlich auf der Hand. Zu dem Begriff Zentralmacht assoziiert sich ganz von allein die Vorstellung hinzu, wofür dieser Akteur seine Stärke zu verwenden hat: ungefähr für das, was im Kalten Krieg die zwei Pole so perfekt hingekriegt haben. Als ein dicker Pol allein auf sich gestellt, hat Deutschland für stabile Verhältnisse in Europa zu sorgen, was in dem Fall bedeutet, die Peripherie um sich herum dauerhaft auf sich als Zentrum zu beziehen. Das nennt der Historiker die Last der geographischen Mitte (M767) oder auch, wie im Zitat oben, eine schwierige Position oder anspruchsvolle Rolle. An diesen schon sehr einfühlsamen Urteilen über die deutsche Politik seinerzeit und heute wird kenntlich, wozu die historische Sinngebung der Politik in all ihren nichtssagenden Formalismen immerhin taugt. Wenn schon nicht zu irgendetwas, das den Namen einer Erkenntnis verdient, so doch dazu, sich und seinen Lesern den deutschen Imperialismus des Kaiserreichs genauso wie das machtvolle Wirken der europäischen Führungsmacht von heute als einen mit bestem Willen unternommenen Versuch verständlich zu machen, einem höheren Auftrag gerecht zu werden, der einer Macht, einer großen zumal, in den Augen eines Historikers selbstverständlich zukommt. Der rührt aus einer jenseits aller machtpolitischen Berechnungen angesiedelten Sphäre her, besteht in der historischen Mission, die Europa heißt, und die ist derart naturwüchsig mit Deutschland verbunden, dass der Historiker sie allein schon aus der geographischen Lage des Landes herauslesen kann: Aus der sollen dem Vernehmen nach ja die überzeitlichen Ansprüche resultieren, an denen deutsche Staatsführer ihre Regierungskunst zu beweisen haben. Was sie in dem Zuge auf den Weg bringen, hat also alles seinen guten Grund. Deutsche Politik ist ihrem Wesen nach Dienst, deutscher Imperialismus ist das Bemühen um die Einlösung der Verpflichtungen, die die Historie für die Nation im Gepäck hat: Wilhelm Zwo konnte sich genauso wenig aus Konflikten heraushalten und für neutral erklären (M769), wie die Kanzlerin sich heute aus den inneren Angelegenheiten ihrer zahlreichen Partner heraushalten kann; Reich wie Republik mussten bzw. müssen sich im wohlverstandenen Eigeninteresse darum kümmern, dass sich um sie herum nichts Instabiles zusammenbraut. Und auch wenn die von vielen Kräften umzingelten deutschen Staatsführer damals wie heute selbstverständlich auch noch manch andere Interessen ihrer Nation im Blick hatten und haben: Stets erfüllen sie bei deren Verfolgung verantwortungsvolle Aufgaben für das friedlich-schiedliche Funktionieren des europäischen Ganzen um sie herum. Ohne auch nur irgendein Wort über deutsche Politik seinerzeit wie heute zu verlieren, implantiert der Historiker mit seiner Entdeckung der Konstante, die 1914 für heute so aktuell macht, der deutschen Politik eine ideelle Zwecksetzung, die in ihrer erhabenen Unschuld eines garantiert leistet: Parteinahme für den Erfolg der guten Sache.

Die Aufbereitung des Weltkriegs zur wichtigen Lehre für heute: Erfolgreiche Pazifizierung der Peripherie sichert Europas Zentrum den Frieden

Steht erstens fest, dass der Kaiser damals dem Auftrag nicht so recht gewachsen war, Europa zu der Stabilität zu verhelfen, die ein Fortkommen als Zentralmacht braucht, und gilt zweitens als gesichert, dass nach dem Ende des globalen Stabilitätssystems des Kalten Krieges von Deutschland derselbe Auftrag von neuem, diesmal freilich wieder allein, zu schultern ist, so liegt drittens für den Historiker auf der Hand, dass die heute Regierenden die Erledigung ihrer Pflicht schon möglichst besser hinkriegen sollten als ihre Vorgänger. Dazu soll ihnen der historische Blick zurück verhelfen: Der Krieg von 1914 bis 1918 ist als Feld politischen Lernens wieder interessant geworden. (M10) So sollte man zum Beispiel wissen, dass instabile Lagen leicht zu Krisen und Kriegen eskalieren und daher eine behutsame und vorausschauende Politik erheischen – genau das haben die verantwortlichen Politiker seinerzeit offensichtlich nicht vermocht und ein ganzes Kaiserreich in den Sand gesetzt. Mit der Wiederkehr der strukturellen Instabilität droht nun ein ähnlich katastrophaler Geschichtsverlauf, zumindest in den Denkmöglichkeiten historischer Vorstellungswelten, weshalb die Wissenschaftler die Frage aufwerfen, ob heutigen Politikern die unerbittliche Kausalität dieses historischen Verlaufsschemas hinlänglich bewusst ist und sie ihre Politik auch an diesen historischen Erfahrungen orientieren. Hierzu können sie als Fachleute für lehrreiche Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden und die sie herausgefunden haben, jede Menge beisteuern und verarbeiten einen vierjährigen Weltkrieg mitsamt seiner Vorgeschichte zu einem Kompendium für das, was alles falsch gemacht werden kann (M776). Denn sie wissen schließlich, wohin die Geschichte geführt hat, können also gleichsam mit Blick zurück in die Zukunft schauen: Die Geschichte zeigt, welche Politik Zukunft hatte, nämlich immer die, die sich im Verlauf der Zeit als erfolgreich ausgewiesen hat, und sie zeigt auch, welche Politik sich als aussichtsloses Unterfangen erweisen sollte, was sich ähnlich treffsicher im Wege der Feststellung ihres Scheiterns ermitteln lässt. Mit den gerade für Deutschland so bewährten Segnungen der heutigen europäischen Zustände im Kopf, die mit Friedensordnung schon hinlänglich auf den Begriff gebracht sind, ist diesen Denkern daher sonnenklar, dass das deutsche Wohl auch damals nur mit den Mitteln hätte befördert werden können, die heute ihre friedensdienlichen Wirkungen entfalten:

„Deutschland war im Frieden immer stärker und mächtiger geworden, und es gab gute Gründe für die Annahme, das angebrochene 20. Jahrhundert könne ein ‚deutsches Jahrhundert‘ werden.“ (M781)

Das mit dem Frieden als einzig senkrechter Erfolgsweg ist allerdings so eine Sache. Dem Kenner der Materie sind die drei Staatsgründungskriege der deutschen Nation nämlich gewiss nicht entgangen, aber vom Standpunkt der Idee aus, die er favorisiert, und erst recht im Vergleich zum alsbald ausbrechenden Großen Krieg sind sie einfach nur untergeordnete Momente eines Friedenszustands, in dem Deutschland immer stärker und mächtiger wurde. Für ihn liegt der Grundstein der Macht dieser Nation nicht in den Schlachten, mit denen sie sich erfolgreich als Machtsubjekt konstituiert und dem schönen Projekt, immer stärker und mächtiger zu werden, seine materielle Grundlage verschafft hat: Der liegt in der Friedensperiode zwischen diesen kleinen Schlachten und der großen Schlacht 1914 ff. Im Lichte der Prinzipien des heutigen deutschen Erfolgswegs avanciert so der Frieden zum einzig erfolgversprechenden Instrument der deutschen Politik auch schon im Kaiserreich. An diesem aus der Lage von heute extrahierten Ideal einer ‚vernünftigen‘, i.e. einer erfolgreich Deutschlands Stärke und Macht mehrenden Politik misst der Historiker die wilhelminische Politik – und das Resultat der Messung fällt entsprechend vernichtend aus: In der Abweichung der historischen Realität vom heutigen Ideal hat der Historiker den Begriff der Geschehnisse von damals erfasst, nämlich das Versagen Deutschlands – freilich: auch anderer, dazu später mehr – in Bezug auf die ihm zugedachte Aufgabe, im Gegeneinander der Staaten stets auf friedlichen und friedensbewahrenden Wegen um die Mehrung des eigenen Vorteils und die Stärkung der eigenen Macht besorgt zu sein. So betrachtet ist das Deutsche Reich nur vordergründig an der Übermacht seiner Gegner, in Wahrheit vielmehr an der Bewältigung seiner eigentlichen Aufgabe gescheitert.

Während derart die Gegenwart als Maßstab zur Interpretation damaliger Vorgänge fungiert, sollen die dergestalt ins Werk gesetzten Sinngebungen des Vergangenen ihrerseits Maßstäbe für die Beurteilung und Beratung der heutigen Politik liefern – und das ist der Zirkel, mit dem aus der Geschichte von damals Lehren für heute werden: Um Vergangenes für heutige Zeitgenossen interessant und wichtig zu machen, wird es im Lichte gegenwärtiger Maßstäbe interpretiert, und diese gegenwartsinspirierte Interpretation des Vergangenen trägt man dann der gegenwärtigen Politik als Lehrstück für erfolgreiches Regieren an. Auch da ist der Mann der Wissenschaft ganz erhaben über eine offen erklärte Parteinahme für Deutschland und die politischen Wege, auf denen die Nation um ihren Erfolg konkurriert. Die Geschichte bzw. das, was er in ihr findet, ist sein Argument, und in diesem Argument steckt seine Parteilichkeit für die Nation gleich doppelt: Die Rückprojektion von deren heute geltenden Erfolgsprinzipien ergibt einen Begriff ihrer Vergangenheit, der diese je nachdem als praktische Bestätigung dieser Prinzipien oder Abweichung von ihnen qualifiziert – ihnen also so oder so den Status einer unhinterfragbaren, weil die Zeiten übergreifenden und sich deswegen von selbst verstehenden Gegebenheit verleiht. Und die zweite Apologie des politischen Status Quo der Nation besteht allein schon in dem Antrag an die Adresse der verantwortlichen Leiter und Lenker ihrer Geschicke, sie hätten sich aus der Geschichte Lehren für den vernünftigen Gebrauch ihrer Macht abzuholen: Die bestehen ja nur in dem Wunsch, ihnen möge das gelingen, woran ihre Vorgänger gescheitert sind.

So kommt es, dass die gewichtigen Weisheiten, die Historiker aus der Geschichte schöpfen, in schöner Regelmäßigkeit eine Übereinstimmung mit amtlichen Verlautbarungen aufweisen, wie auch umgekehrt die politischen Amtsinhaber zur Beweihräucherung ihres Regierungswerks gerne die von Historikern produzierten Weisheiten zitieren. Dennoch: Die von Gauck, Merkel & Co. propagierten Einsichten, wie segensreich die heutigen europäischen Institutionen für den Frieden in Europa im Allgemeinen und für das Prosperieren der deutschen Zentralmacht im Besonderen sind, wie sehr man also gerade als deutscher Staatsmann auf deren Funktionstüchtigkeit zu achten, und die Stärke, die aus dieser Funktionstüchtigkeit entspringt, rechtzeitig zur Beseitigung störender Krisen und Konflikte einzusetzen hat – Arien dieser Art beten Historiker nie einfach nur nach. Sie tragen sie stets als Einsicht vor, die der wissenschaftliche Blick in die deutsche Historie ihnen eröffnet hat. Und dieses Hin und Her zwischen einer durch die Brille des heutigen Macht- und Kräfteverhältnisses betrachteten Vorgeschichte Europas und einem Europa, das seinem derart hinkonstruierten Weg hin zu sich selbst zu entnehmen hat, was aktuell auf seiner politischen Agenda steht, geht dann so:

„Europa bleibt solange pazifiziert, wie diese (deutsch-französische) Achse oder dieses (deutsch-französisch-polnische) Dreieck funktionieren und die Regierungen dieser Staaten permanent auf die Konflikte an der Peripherie, der inner- wie der außereuropäischen, achten und verhindern müssen, dass diese noch einmal ins europäische Zentrum vordringen.“ Schließlich haben – Sarajewo! – „die Probleme der Peripherie zur Zerstörung der Mitte geführt.“ (M 773, 770)

Hier wird deutlich, was in dem Formalismus der Rede von ‚Zentralmacht‘, ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ Europas alles an affirmativer politischer Sinngebung steckt. Eine Hierarchie der Mächte ist es, die es zu einem gesamteuropäischen Friedenszustand auszubalancieren gilt, und diese Balance besteht in dem Aufsichtsregime, das von den stärkeren Mächten über die Staaten minderen Ranges ausgeübt zu werden hat. Die Peripherie Europas, aber selbstverständlich auch die Anrainerstaaten um Europa herum der eigenen Kontrolle zu unterstellen, sich also in Europa wie im angrenzenden Raum als Hegemonialmacht zu behaupten – das ist die schwierige Position, die in den Augen des Historikers Deutschland allein schon wegen seiner Größe zufällt. Sich in der Staatenkonkurrenz als Führungsmacht durchzusetzen und auf Dauer zu etablieren – das ist der insgeheim mitgedachte, so aber nie ausgesprochene Inhalt der anspruchsvollen Rolle, die der deutschen Nation mit ihrem Gründungsakt zugefallen ist. Und um den aktuellen Ansprüchen der europäischen Zentralmacht auf Führung des Kontinents und auf Mitsprache bei den Aufgaben der globalen Ordnungsstiftung den Status einer historisch beglaubigten Mission zu verleihen, ist auch noch eine andere Parallele zwischen 1914 und 2014 als Lehre sehr hilfreich – der Laie weiß ja gar nicht, wie exakt das Bild vom Funken auf dem Balkan und dem Pulverfass, das dann auf der ganzen Welt explodiert, die aktuelle weltpolitische Lage auf den Punkt bringt:

„Alles fing mit einem Kommando von Selbstmordattentätern an. Hinter der Gräueltat von Sarajewo stand eine erklärte Terrororganisation, die einen Opfer-, Todes- und Rachekult pflegte; überdies war diese Terrororganisation extraterritorial. Sie war in Zellen über politische Grenzen hinweg verstreut.“ (C15)

Womöglich wäre der Welt die Katastrophe erspart geblieben, wenn man diesem Archetyp der Terrornetzwerke von heute rechtzeitig den Garaus gemacht hätte. Die Lehre, die aus dem Blick zurück auf 1914 für die Nation heute erwächst, liegt also auf der Hand und haucht auch einer noch viel älteren Lehre neues Leben ein – si vis pacem, para bellum, hieß ja schon bei den Römern die Leitlinie erfolgreicher Friedenssicherung. Außenpolitische Verantwortung auch mit dem Einsatz schlagkräftiger Truppen praktisch zu übernehmen, wann immer Konflikte anders nicht beizulegen sind: Das ist die Verpflichtung, die in den Augen des Historikers für Deutschland aus seiner schwierigen Rolle erwächst, nun einmal die europäische Zentralmacht zu sein, und die er als Botschaft für heute den Ereignissen von 1914 abgelauscht hat.

Letzteren die verpflichtenden Gebote zu entnehmen, die die Staatsführer der deutschen Nation heute unbedingt zu beherzigen hätten, ihnen ein Bild der eigenen Geschichte zu präsentieren, aus dem sie für den zukünftigen Erfolg der Nation lernen, was sie zu tun haben: Mit diesem Ethos ihrer Forschung ist es diesen Historikern dermaßen ernst, dass sie ihre affirmative Sinngebung der deutschen Außenpolitik von damals wie heute auch mal in der Weise fortsetzen, dass sie sich zur Kritik der Politik aufschwingen – dann nämlich, wenn sie der Auffassung sind, dass man zu wenig auf ihre gewichtigen Lehren hört. Wenn nach ihrem Geschmack von den dafür zuständigen Stellen nicht entschlossen genug ernstgemacht wird mit der Wahrnehmung der Verantwortung, die der Nation historisch auferlegt ist in Gestalt der Sicherung des Friedens in Europa und über Europas Grenzen hinaus, dann legen sie sich das so zurecht, dass die Führung des Landes einfach nicht erfasst hat, worin ihre wahre Verpflichtung liegt. Diesen Umstand erklären sie sich und allen anderen dann so:

„Es lässt sich heute kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen. ... Wir neigen außenpolitisch zu dem Gedanken: Weil wir historisch schuldig sind, müssen, ja dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen; also kaufen wir uns lieber frei, wenn es darum geht, Europa an den Krisenrändern zu stabilisieren.“ (Münkler, SZ, 4.1.14)

Ein falsches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit hindert deutsche Politiker demnach daran, die dem Gewicht ihrer Nation entsprechende Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Sie trauen sich nicht und sind außenpolitisch so skrupulös, weil sie in einem Geschichtsbild ihrer eigenen Nation befangen sind, wonach die in den Jahren 1914 ff. Schuld auf sich geladen hätte – und diese Befangenheit verstellt ihnen die Einsicht in die eigentliche Lehre, die aus dieser Zeitperiode zu ziehen ist. Und da nicht zuletzt Vertreter der eigenen Disziplin für die Verankerung dieses politisch so unproduktiven schlechten Gewissens im deutschen Nationalbewusstsein gesorgt haben, gehört zur Klarstellung der wahren Aktualität von 1914 auch ein kleines Intermezzo zur endgültigen Beerdigung unfruchtbarer Erkenntnisse aus der Werkstatt des historischen Geistes.

Zunftinterne Vergangenheitsbewältigung zur Erledigung der leidigen Schuldfrage

Die Stiftung eines von allen Schuldzuweisungen befreiten Geschichtsbildes ist das zentrale Anliegen der neuen Interpretationen. Zum Zweck der Erarbeitung einer in diesem Sinn zielführenden Deutung des Ersten Weltkriegs macht man sich an die Demontage der seit den 60er Jahren maßgeblichen geschichtswissenschaftlichen Darstellung der Kriegsgründe durch Fritz Fischer. Mit ihr hatte der Hamburger Ordinarius seinerzeit im Zuge der legendären ‚Fischer-Kontroverse‘ die bis dahin gängige ‚Schlitter-These‘, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einem versehentlichen ‚Hineinschlittern‘ der europäischen Mächte in ihn erklärte, ad acta gelegt. Die ja nun wirklich etwas alberne Vorstellung, wonach alle Beteiligten vier Jahre lang einen Krieg führen, den keiner von ihnen je führen wollte, mochte Prof. Fischer nicht länger in den Geschichtsbüchern lesen und hielt es als überzeugter Demokrat für angebracht, die damals in Bezug auf das „Dritte Reich“ angesagte Vergangenheitsbewältigung auf das autoritär-imperialistische Kaiserreich auszudehnen. Nach äußerst gründlichem Studium der politischen Strategie der wilhelminischen Führungsmannschaft vor und während des Krieges kam er zu dem Ergebnis: Die dummstolz-militaristische (Fehl-)Besetzung der nationalen Führungsetage hatte damals mit ihrem Krieg der Illusionen einen größenwahnsinnigen Griff nach der Weltmacht – so die Titel seiner Hauptwerke – inszeniert, statt das nationale Wohl im Rahmen der damaligen Ordnung und unter produktiv-friedlicher Wahrnehmung der eigenen Rolle in ihr zu befördern. Damit hat die Führung des Kaiserreichs das ‚vernünftige‘ Augenmaß einer verantwortungsbewussten Politik verloren – und zum empirischen Beweis des Skandals, dass da an sich ganz unschuldige Interessen der Nation in die Hände eines fahrlässigen Führungspersonals gelangt sind, steuerte Fischer kiloweise Archivalien bei, denen sich eines immerhin entnehmen lässt: dass die Reichseliten den Krieg, den sie mit der Aufrüstung aller Waffengattungen, Strategieplänen nach allen Richtungen und hierzu dienlichen Bündnisvereinbarungen vorbereitet und bis zur letzten Konsequenz geführt haben, auch führen wollten und dabei auch – Fischers Auffassung nach freilich: größenwahnsinnigeZiele verfolgten. Für diesen Historiker und auch für den Mainstream des wissenschaftlichen und öffentlichen Bewusstseins lag damit der entscheidende Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges in Deutschland.

Dass diese einseitige Gewichtsverlagerung bei der Schuldfrage sich nicht gehört, das übermitteln die neuen Interpretationen, und mit welcher Art wissenschaftlicher Dialogführung man zu diesem Ergebnis gelangt ist, verrät einer der Protagonisten der Modernisierung des deutschen Geschichtsbewusstseins. Münkler hat von vorneherein nicht vor, sich in irgendeiner Weise sachlich mit Fischers Sicht der Dinge zu befassen, geschweige denn dem Autor der von ihm inkriminierten Schriften einen Denkfehler nachzuweisen und so zu begründen, weshalb man die getrost beiseite legen kann. Eine derartige Befassung mit Theorien scheint in dieser Disziplin nicht üblich zu sein. Worauf man sich in ihr sehr gut versteht, ist die Würdigung von Argumenten unter dem funktionalistischen Gesichtspunkt, wie sie als Vehikel zur Ideologiebildung taugen. Da mag Fischers Geschichtsbild vielleicht in den 60er Jahren zum moralischen Appeasement von Vertriebenen und Revanchisten gut gewesen sein –

„waren die Deutschen am Ersten Weltkrieg schuld, so trugen sie auch die Verantwortung für alles, was daraus folgte (gemeint ist der 2. Weltkrieg), und dann war der Verlust der Ostgebiete nicht nur ein Ergebnis des Krieges, sondern auch eine gerechte Strafe. ... Fischers Thesen waren für die Deutschen eine Hilfestellung für die Akzeptanz des politisch Unveränderbaren.“ (SZ, 20.6.14)

Heute jedenfalls brauchen die Deutschen derartige ‚Thesen‘ nicht mehr, allein schon deswegen nicht, weil die Geschichte ja gerade in ihrem Fall gezeigt hat, was für ein Fehler es von vorneherein war, den Verlust von Ostgebieten als politisch unveränderbar zu akzeptieren.

Fischer ist damit als Fossil abserviert, das in einer modernen Geschichtsbild-bildenden Wissenschaft nichts zu suchen hat, mit der Entsorgung seiner Behauptungen hat man freilich noch zu tun. In seiner Rede von den Kriegszielen, die die deutsche Führung seinerzeit verfolgt habe, kommt immerhin noch so etwas wie ein Anklang an den politischen Willen einer Nation vor, an die Berechnungen, die sie in ihrer Konkurrenz gegen andere verfolgt und deretwegen sie den Krieg als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen und Rechte erst plant und ihren imperialistischen Konkurrenten dann auch erklärt. Also ist man sich noch einen kleinen Beweis schuldig, und den liefert man mit der Interpretation, die einen von Volk und Führung einhellig und enthusiastisch befürworteten Waffengang ein für allemal von dem Ruch befreit, politischer Wille hätte auch nur irgendetwas mit der Katastrophe zu tun, als die er sich am Ende herausstellen sollte. Dazu blickt man in einem ersten Anlauf zur Desavouierung der These von den ‚deutschen Kriegszielen‘ vom Ergebnis des vierjährigen Gemetzels zurück auf seine Anfänge, übersetzt das auf den Schlachtfeldern praktisch offenbar gewordene Scheitern der Vorhaben aller beteiligten Mächte in die Offenbarung einer von Anfang an feststehenden objektiven Sinnlosigkeit, die dem Willen zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer Anliegen zu attestieren ist – und greift sich dann demonstrativ ans Hirn: Ein derart sinnloses Ergebnis kann doch keiner als ‚Kriegsziel‘ verfolgt haben – kein einziges Anliegen, für das die Politiker von 1914 stritten, war die darauffolgende Katastrophe wert. (C717) Und da man von Anfang an ohnehin weiß, dass Politik – auch und gerade in einem sogenannten Zeitalter des Imperialismus – dazu da ist, ihre Macht zur Vermeidung derartiger Katastrophen zu gebrauchen, erhärtet dieses Herausfallen des Krieges aus allen Kategorien der Vorteils-Nachteils-Berechnungen, wie sie bei Nationen üblich sind und wie man sie gut verstehen kann, nur noch den feststehenden Befund: Den Krieg konnte keiner gewollt haben!

Zur Durchführung des sich selbst erteilten Auftrags, ihrem Publikum den Ersten Weltkrieg als ein einziges riesiges Verhängnis verständlich zu machen, und zur Bewältigung des nicht eben kleinen Widerspruchs, einsichtsvolle Gründe für ein Phänomen zu liefern, das sich im Grunde jeder verständigen Einsichtnahme entzieht, haben die Gelehrten im Inventar ihrer modernen Wissenschaft alles parat: Sie haben herausgefunden, wie ein willkürlich-unwillkürliches Hineinschlittern in einen Weltkrieg geht!

Wie es zum Weltkrieg kommen „konnte“ und deswegen auch zwangsläufig „musste“: Die wissenschaftliche Erklärung eines unerklärlichen Versagens deutscher und anderer politischer Verantwortungsträger

Nach der Politologie, bei der sich der Historiker zur Herleitung des höheren Sinns von Politik – ‚Ordnung‘, ‚Stabilität‘ – bedient hat, greift er auf den Erkenntnisstand anderer Disziplinen zurück, die sich um rationelle Einblicke in die höchst fragwürdige Rationalität der Menschennatur verdient gemacht haben, um dann mit dem folgenden Irrealis im Fragemodus die Gedanken seiner Leser in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken:

„Wie hätten bei vollständiger Information rationale Entscheidungen ausgesehen, und welche Entscheidungen haben die unzureichend informierten und voreingenommenen Akteure tatsächlich getroffen?“ (M15)

Dieser Vergleich real getroffener Entscheidungen mit solchen, die in Anbetracht des von ihnen herbeigeführten Ergebnisses idealerweise doch viel vernünftiger hätten sein können, soll die Werke der Regierenden im Hinblick auf ihre Rationalität analysieren (M14), und die Analyse ist mit der Fragestellung schon gelaufen: Wenn die Kriegsherren ‚vollständig‘ im Bilde gewesen wären, hätten sie anders und besser, das heißt unter Beachtung ihrer verantwortlichen ‚Rolle‘ im europäischen Mächtesystem und also unter strikter Vermeidung eines in jeder Hinsicht sinnlosen Weltkriegs, Politik gemacht. Weil für diese Wissenschaftler der Krieg von vornherein ein Phänomen ist, das sich unter Zugrundelegung aller Maßstäbe, an denen entlang sie politischen Entscheidungen Vernunft zu attestieren pflegen, aller vernünftigen Erklärung entzieht, steht für sie fest, dass sich seinerzeit Irrationalität des Verstandes der Akteure bemächtigt haben muss. Wie es dazu kommen konnte, lautet entsprechend die sie allein interessierende Fragestellung, und die geht nun ganz ohne Zweifel auf eine höchst irrationale Entscheidung der Fragesteller zurück: Was die Politiker damals veranstaltet haben, soll mit Gründen erklärt werden, die dafür verantwortlich zeichnen sollen, dass sie das nicht zustande gebracht haben, was der Historiker mit Blick auf den fatalen Ausgang der Ereignisse für die bessere Wahl und die eigentlich fällige Politik gehalten haben würde, wäre er damals an der Macht gewesen. Die Abwesenheit des ‚Vernünftigen‘, in dessen Besitz sich der historisierende Weltgeist weiß, soll also positiv klären, wie der Erste Weltkrieg zustande kam (C13), und zur Bewältigung dieser Aporie nimmt der Historiker Zuflucht bei den Bedingungen, die möglich gemacht haben, was er für ein Ding der Unmöglichkeit hält – andere, nämlich die, die der Mann der Wissenschaft favorisiert, Entscheidungen wären den Akteuren ja schon auch möglich gewesen. Gemeinsam haben diese Entstehungsbedingungen des Weltkriegs, so unterschiedlich auch immer sie sein mögen, daher eines: Sie haben jede staatsmännische Vernunft vereitelt. So machen sich die neuen Interpretationen an den Nachweis, unter dem Einfluss welcher verhängnisvollen Umstände der damaligen Zustände die Politik von einem rationalen Vorgehen abkam, also unter Zugrundelegung aller heute approbierten Kriterien der Politikbeurteilung als „irrational“ zu würdigen ist.

Thema der Wissenschaft ist der mit jeder Menge Fehlurteilen und Führungsfehlern (M15) gepflasterte Weg in den Ersten Weltkrieg (M785), und da geraten naturgemäß als erstes

die politischen Entscheidungseliten ...

in den Blick. Um die historischen Gründe für deren missratene Entscheidungsprozesse (C13 und M13) zu erforschen, wenden sich die Forscher freilich nicht den Inhalten der jeweiligen Entscheidungen zu. Sie wollen von denen gar nicht erst wissen, welchen Zwecken sie dienen und welcher herrschaftlichen Räson sie sich verdanken, weil sie von denen gar nichts zu wissen brauchen: Irrational waren sie, das steht längst fest. Von umso größerem Interesse ist für sie die Genealogie dieser Entscheidungsprozesse, und um die ans Licht zu bringen, laden sie ihr Publikum zur Einfühlung ins Innenleben der damaligen Machthaber ein – wenn man die Subjekte versteht, die einen Weltkrieg führen, hat man auch begriffen, was ein Weltkrieg ist:

„Eine zentrale These dieses Buches lautet, dass man die Ereignisse von Juli 1914 nur dann verstehen kann, wenn man die Wege, welche die Hauptentscheidungsträger beschritten, beleuchtet und ihre Sicht der Ereignisse schildert. ... Wir müssen uns vor Augen führen, wie jene Ereignisse empfunden und in Narrative eingewoben wurden, welche die Wahrnehmungen prägten und Verhalten motivierten.“ (C19)

Mit dem Begriff Narrativ, den der australische Vertreter der Disziplin sich diesmal von den kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen ausleiht, übersetzt der Historiker politische Ideologien in einen zeittypischen Erzählmodus geschichtlicher Erfahrungen‚ die mit ihren immanenten Sinnzusammenhängen die Wahrnehmung politischer Vorgänge steuern und verzerren. Wovon die Mitglieder der regierenden Entscheidungselite überzeugt waren und wo überhaupt die Trennungslinie verläuft zwischen solchen Überzeugungen, die einfach nur das Recht der politischen Sache ausdrücken, in deren Namen sie unterwegs sind, und solchen, die dieses Recht auch noch zum Ausdruck höherer ideeller Prinzipien verklären und politische Überzeugungstäter auch noch zu ‚Ideologen‘, zu Propagandisten einer Weltanschauung heranreifen lässt: Damit geben sich diese einfühlsamen Allesversteher des Geisteslebens politischer Hauptentscheidungsträger nicht ab, weil sie alles Nötige über den Geist, der da unterwegs ist, schon herausgefunden haben. Das Narrativ als Instanz ganz getrennt vom regierenden Subjekt leistet ganze Arbeit: Ereignisse werden registriert, zu Schemata verarbeitet, welche bewerten, was demnächst registriert wird, und bestimmen, was zu tun ist. Gemäß dieser Logik werden die Befehlshaber der staatlichen Macht, die an sich in freier Verantwortlichkeit ihren Aufgaben nachkommen sollen, als weitgehend ohnmächtige Derivate des Zeitgeistes entlarvt, die aufgrund ihrer Prägung durch übermächtig herrschende Narrative ihre (Fehl-)Entscheidungen treffen mussten. Diese selbst waren also eigentlich gar nicht die Entscheidungen derer, die sie trafen, weil die ihrem verantwortungsvollen Beruf ja gar nicht nachkommen konnten, vielmehr Objekte von Einflüssen waren, die die Entscheidungen in ihnen produzierten. Die eigentlichen Verantwortlichen sind also die Einflüsse, und die kommen aus dem tiefen und breiten Strom der Geschichte, in dem sich nur Historiker auskennen. Die lassen sich zur Offenbarung ihrer weiteren Erkenntnisse natürlich nicht bitten.

… als hoffnungslos ohnmächtige Produkte ihrer Einflüsse

Auf summa summarum 1900 Seiten präsentieren beide Forscher unzählige Indizien für die Entstehung der Irrationalität: Die verquere Wahrnehmung der Politiker, die schlechten Kommunikationsstrukturen im Bereich der Diplomatie, die determinierende Wirksamkeit alter Bündnissysteme und Strategiepläne, der akute Handlungsdruck in Krisenlagen und so weiter und so fort. Wichtig für das Zustandekommen ihrer Fehlentscheidungen sind selbstredend auch die (Fehl-)Entscheidungen ihrer Kollegen – jeder reagiert auf jeden, der vorher schon auf einen anderen reagiert hat, und so weiß im Endeffekt keiner mehr, was er zu tun und zu lassen und worauf er überhaupt zu reagieren hat:

„In Anbetracht der Wechselwirkungen im ganzen System hingen die Konsequenzen jeder Maßnahme von den Reaktionen anderer ab, die wegen des undurchsichtigen Entscheidungsprozesses kaum im Voraus berechnet werden konnten.“ (C709)

Dass die ausgebreiteten Bedingungen, die für das Fehlverhalten der politischen Entscheidungsträger gesorgt haben sollen, überhaupt die Wirkungen hervorgerufen haben, als deren Ursache der Historiker sie anführt, bedarf keines Beweises. Über irgendeine Art von Begründungspflicht der verwegenen Behauptung, Kriegserklärungen wären das Ergebnis einer unheilvollen Synthese von geistiger Fremdbestimmung und Undurchschaubarkeit der politischen Lage, ist der Historiker erhaben: Dass alles, was er da so an für die Entstehung des Krieges verantwortlichen Faktoren anführt, tatsächlich so gewirkt hat, wie er behauptet, beglaubigt stellvertretend für jedes Argument das unwidersprechliche Faktum, dass der Krieg dann ja auch tatsächlich ausgebrochen ist!

Mit diesem schönen Zirkel – die von der Wissenschaft eruierten Bedingungen bewirken ein unbezweifelbar wirkliches Ergebnis, und dessen Existenz beweist, dass an den zitierten Bedingungen als Ursache ihrer Wirkung nicht zu zweifeln ist – hat sich der Historiker nicht nur erfolgreich aller wissenschaftlichen Anstandspflichten entledigt, für seine Behauptungen argumentieren zu müssen. Die Logik, erst mit einem Sammelsurium von Faktoren eine verhängnisvolle Determination der Politik zum Krieg zu konstruieren, um sich dann per Verweis auf das Faktum des Kriegs mit der eigenen Konstruktion der Kriegsursachen ins Recht zu setzen, eröffnet dieser Wissenschaft den Übergang von der Theorie über einen Gegenstand zum Schwadronieren. Das ist eben das Schöne und wissenschaftlich Aufregende an Faktoren: Alles und jedes kann einer sein, und erst ihre Totalität, wenn man sie denn hätte, wäre der ganze Begriff der Sache, weshalb der Forschergeist auch nie zur Ruhe kommt. Das liefert dann in der Hauptsache den Stoff, der ihre Bücher so dick macht. Zwischen den Kapiteln ‚Einführung‘ und ‚Zusammenfassung‘, auf die sich unsere Auswahl der Zitate beschränkt, steht nur, was den Chronisten der Ereignisse bei ihrem einfühlsamen Nachvollzug der Geistes- und Stimmungslage der Entscheidungseliten an überliefertem Material in die Hände gefallen ist und sich von ihnen zu einem literarischen Genre sui generis verarbeiten lässt. Das vereint die Hofberichterstattung der Regenbogenpresse glücklich mit authentischen Wortprotokollen, die wissenschaftliche Seriosität belegen. So erfährt man etwa, dass den österreichischen Kriegsminister Probleme mit seiner Geliebten zum nachdrücklichen Beweis seiner Ehre bewogen haben, was sich bei ihm dann prompt als Kriegstreiberei manifestierte; oder dass beim englischen Premier das Attentat in Sarajewo deswegen nicht recht ins Bewusstsein eindringen konnte, weil er mit seinen Gedanken gerade in Ulster war; dass W. Churchill nicht so recht entschlossen war, wegen Belgien gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, Außenminister Grey hingegen schon, Churchill als Marineminister aber sein Handwerk durchaus verstand, während der Außenminister in militärischen Angelegenheiten absolut ahnungslos war, obwohl er Frankreich nie im Stich lassen wollte, usw. (vgl. dazu C626 ff.) So geht es seitenweise dahin und alles, was im Zettelkasten des historischen Archivars abgelegt ist und sich als irgendwie bedeutende, eventuell auch nur mögliche, in jedem Fall aber bedenkenswerte Wirkursache zitieren lässt, findet Eingang ins erzählerische Werk und darf mit Antwort geben auf die Frage, wie genau es dazu kommen konnte, wozu es dann kam. Denn das meinen die Autoren tatsächlich im Ernst: Das zeitgeschichtliche Potpourri, das sie aufblättern, soll einem von ganz allein die Notwendigkeit des Krieges verständlich machen, der zusammengetragene Stoff aus dem Innenleben der Machthaber soll in seiner Gesamtschau ein Bild der Zeit ergeben, aus dem der geneigte Leser zu entnehmen hat, wie die einzelnen Puzzleteilchen der Kausalität zusammenkamen (G20).

Das ist das Angebot dieser Wissenschaft, wie man sich alle Fragen nach der Ursache oder nach dem Grund von irgendetwas endgültig vom Hals schaffen kann. Der Historiker lässt die Fakten für sich und seine Auffassung sprechen, dass es an ihnen selbst nichts zu erklären gibt. Er arrangiert zu dem Zweck einen wüsten Haufen zusammenhangloser Einzelteile zu einem Gesamtzusammenhang, der seinerseits nur wieder die verhängnisvolle Verstrickung seiner Einzelteile demonstriert: Ein Ensemble von Faktoren, die die vorab feststehende Kausalität gemacht, nämlich nicht verhindert haben, weil nicht vorhandene Bedingungen dafür dies unmöglich gemacht haben. Und wenn er mit dieser modernen Erklärung des ‚Hinein-Schlitterns‘ fertig ist, überführt er das Treiben dieser „Entscheidungsträger“ in einem weiteren Schritt in ein Urteil über die Lage, in der sie derart heillos verstrickt sind.

Die „Komplexität des Zeitalters“: Blinde Verantwortungsträger in undurchschaubaren Umständen

Allenthalben konstatieren die Theoretiker komplexe Interaktionszusammenhänge mit vielgestaltigen Wechselwirkungen (M13) und entnehmen den disparatesten Interessen und Traditionen, Sichtweisen und Empfindungen in zahlreichen Nationen, die sie Revue passieren lassen, das Panorama eines außerordentlich komplexen (C709) Mächtesystems. Dieses System hat mithin die Eigenschaft, sich seiner gedanklichen Fassbarkeit zu entziehen, was nicht nur die nächste offensive Kapitulationserklärung der Wissenschaft beim Begreifen ihres Gegenstandes ist: Es erhärtet auch das feststehende Urteil ein weiteres Mal, dass innerhalb dieser Mächte, die das System machen, auf verantwortlicher Seite lauter Fehleinschätzungen (M15) unterwegs sind. Die rühren entweder aus der zu großen Komplexität der Verhältnisse oder aus einer im Verhältnis zu dieser zu kleinen Kompetenz der zuständigen Entscheidungsträger, die denen anzulasten ist, so dass die Frage zur Entscheidung ansteht: Konnte man die Lage nicht richtig einschätzen – oder konnten nur die es nicht? Weil das eine wie das andere auf dasselbe Ergebnis hinausläuft, entscheiden sich unsere Wissenschaftler bei ihren Antworten denn auch für ein ausgewogenes Mischungsverhältnis der beiden Alternativen:

– Der Australier aus Cambridge will sich an den europäischen Krieg europäisch erinnern (Clark, Deutschlandfunk 20.1.), also inszeniert er die Vorkriegszeit in einer internationalen Gesamtschau als undurchschaubares Hin und Her sich wechselseitig beeinflussender Aktionen und Reaktionen in Europa, das man in seiner Sicht der Dinge freilich nicht wiedererkennt:

„Man kann in den Ereignissen des Juli 1914 eine internationale Krise sehen, ein Begriff, der eine Gruppe von Nationalstaaten impliziert, die man sich als autonome Einheiten vorstellen muss, wie Billardkugeln auf einem Tisch.“ (C13)

Man kann – immerhin das geht noch in Anbetracht der Komplexität – 1914 als eine Krise zwischen Nationalstaaten sehen, und kaum hat man Gebrauch gemacht von dieser Möglichkeit, muss man sich diese Staaten sogleich als etwas ganz anderes vorstellen, nämlich als höchst unspezifische Wesenheiten, von denen allenfalls zu sagen ist, dass sie ganz für sich sind. Dann kann man wieder etwas, sich nämlich diese Staaten als Billardkugeln vorstellen, die, wie man weiß, beim ersten Anstoß wild durcheinander wirbeln – und schon hat man die Ereignisse des Juli 1914 in ihrem Prinzip exakt erfasst: Ein einziges Durcheinander. Das demonstriert der Interpret dann am Stoff der Zeitgeschichte: Mit Haufen von Fakten arrangiert er ein gar nicht fassbares Wirrwarr nationaler Interessen und Aktivitäten, das auch noch durch kurzfristige Neuausrichtungen der außenpolitischen Strategien und durch die Fluidität der Machtverhältnisse innerhalb der europäischen Exekutiven verstärkt wurde, so dass den entscheidungsbefugten Teilnehmern der Partie oft nicht einmal klar war, mit wem sie überhaupt interagierten. Die fatale Folge des diplomatischen Irrgartens: Das System aus fünfeinhalb Großmächten und nicht wenigen kleineren Wichtigtuern wurde immer undurchsichtiger und unberechenbarer (C710) und nahm schließlich eine bienenkorbähnliche Struktur mit vielen Stimmen an, die die Krisenanfälligkeit des Systems wesentlich erhöhte (Clark, Deutschlandfunk, 20.1.). So verlor ganz Europa den Durchblick – und das brachte das System, das gemäß seiner immanenten historischen Teleologie auf ‚Stabilität‘ geeicht ist, sukzessive aus dem Gleichgewicht. Von der allgemeinen Konfusion des Systems blieben auch die Köpfe der Entscheidungsträger nicht verschont. Die Hauptakteure redeten sich selbst und gegenseitig alle möglichen Visionen ein und filterten das Weltgeschehen durch Narrative, die (…) von Ängsten, Projektionen und Interessen zusammengehalten wurden. Allenthalben steuerten überhöhte Vorstellungen, düstere Visionen und Legenden (C712f) die politischen Entscheidungen – also überall nichts als Irrationalität!

Im Schlusssatz des großen Wurfs des Australiers werden die Kriegsherren dann als im Dunkeln tapsende Schlafwandler vorgestellt, wachsam, aber blind, von Alpträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten (C718), und dass dem Poeten im Historiker am Ende seines dicken Opus vollends der Gaul durchgeht und Gräuel, die es noch gar nicht gab, ihrem Urheber zum Erkenntnisproblem werden, ist noch das geringste der Übel seiner Auslassungen. Die fassen sich in der tiefen Erkenntnis zusammen, dass man sich, wenn überhaupt, diesen Krieg nur verständlich machen kann als Resultat der absoluten Verständnislosigkeit, die in der Sprach-, Kommunikations- und Geisteskultur überhaupt zwischen allen Beteiligten geherrscht hat. Das Buch in einem Satz: Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur (C 717).

– Der historisierende Politologe aus Berlin richtet seine Interpretationskünste hauptsächlich auf die schwarz-weiß-rote Billardkugel, die ihm sein Kollege freundlicherweise als Studienobjekt geschenkt hat, und interessiert sich da insbesondere für die institutionellen Bedingungen und geistigen Befindlichkeiten der federführenden deutschen Politiker. Zielsicher kommt er darauf, dass sich zwischen der geistigen Innenwelt der Politiker und der realen Außenwelt der Politik eine verhängnisvolle Kluft aufgetan hat, und der Grund dieses Verhängnisses ist ihm klar: Schlechte Einflüsse auf die Entscheidungsträger haben die vom guten Weg abgebracht, der ihnen in Gestalt der historischen Mission Deutschlands eigentlich vorgegeben ist. So konnte im politischen System des Wilhelminismus gegenüber der – sprichwörtlich kriegstreiberischen – Generalität der Primat der Politik nicht zur Geltung gebracht werden (M20), was schon allein für sich spricht: Dass Moltkes Votum fürs Zuschlagen – besser jetzt als später– einen sachdienlichen Beitrag zu einem urpolitischen Entscheidungsprozess geleistet haben könnte, ist angesichts der friedenserhaltenden Aufgaben, auf welche die Wissenschaft die Machthaber in Gegensatz zu ihrem Machtapparat festgelegt hat, ja grundsätzlich ausgeschlossen. Einen schlechten Einfluss auf die Politik übte auch die öffentliche Meinung aus, insbesondere mischten sich nationalistisch aufgestachelte Deutungseliten (M18) – darunter nicht wenige Vertreter der historischen Zunft – ständig in die Regierungsgeschäfte ein – wer soll da noch vernünftig regieren können?! Es haperte aber auch an den geistigen Kompetenzen der Entscheidungsträger. Die brachten einfach nicht das politische Geschick auf, das für einen souveränen Umgang mit der stets drohenden Einkreisung der Mittelmacht nötig gewesen wäre, und schwächten stattdessen im Wege einer autogenen Selbstvernebelung ihre politische Urteilskraft durch Einkreisungsobsessionen (M24). Kurzum: Ein verhängnisvolles Zusammenspiel von Angst und Unbedachtheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen (M14) beherrschte das deutsche Führungspersonal. Seit der Jahrhundertwende grassierte zudem eine fatale Mischung aus Großmannssucht und Ängstlichkeit (M21), beim obersten Kriegsherrn ist sogar eine Wahrnehmungsstörung höchst obskurer Provenienz zu registrieren: Wilhelm verlor den Sinn für die Realität des Geschehens und zog sich immer tiefer in eine Phantasie- und Wunschwelt zurück. (M21) Kein Durchblick nirgendwo, was man im Wissen der Unvernunft, die sich alsbald Luft verschaffen sollte, auch so ausdrücken kann Eine rationale Interessenverfolgung war unter solchen Umständen kaum möglich. (M24)

Auch bei den anderen Kriegsteilnehmern in spe mutieren strategische Erwägungen unter der kunstfertigen Hand ihres Interpreten zu irrationalen Ängsten: Die Franzosen befürchteten eine Marginalisierung, die Russen einen Einflussverlust, Österreich-Ungarn bangte um seinen Großmachtstatus und die Briten waren von Niedergangsängsten (M24) gepeinigt. So hält auch noch die Psychologie mit ihrer Unterabteilung der Psychopathologie verkorkster Typen Einzug ins Reich der historischen Deutungen: Jeder positive Inhalt und Zweck in den Köpfen der Staatsmänner ist aufgelöst in inhaltsleere Negativurteile über das kaputte Seelenleben der Akteure, die zwischen Präpotenz und manischer Depression schwanken und von denen man sich gut vorstellen kann, dass sie zur Hebung ihres Selbstwertgefühls auch gerne mal Soldaten in den Krieg schicken. Das betrifft nicht nur den Spross der Hohenzoller, der in Deutschland oberster Kriegsherr ist und die Folgen seiner schweren Geburt in einem launenhaften Wesen auslebt. Wegen lauter eingebildeten Ängsten vor Machteinbußen redeten sich schließlich alle selbst ein, dass ein Krieg zwischen den beiden Mächtegruppen letztlich unvermeidlich sei, und stolperten Anfang August 1914 in einem Anfall gesamteuropäischer Schicksalsergebenheit in die Fatalismusfalle.

Der Weltkrieg als self-fulfilling prophecy: Auch so kann man sich, wenn man will, den Ausbruch eines Krieges, der sich am Ende als „sinnlos“ erweisen sollte, vorstellen. Die Versager an den Schalthebeln der Macht dürfen in der historischen Schuldbilanz daher mit einem fair ausgewogenen Urteil rechnen. Einerseits haben sie bei der Wahrnehmung ihrer Pflichten so gut wie alles verkehrt gemacht, andererseits hatten sie angesichts der unberechenbaren Zustände und des irrationalen Zeitgeists so gut wie keine Chance, das an sich Notwendige ins Werk zu setzen: Sie waren so sehr in den Lauf der Zeit verstrickt, dass man den individuellen und den zeitbedingten Verursachungsanteil an der Entstehung des Krieges gar nicht voneinander trennen kann. So stellt sich allmählich heraus, dass der hochkomplexe Weg in den Krieg (Münkler, SZ 14.1.) letztlich am besten in den Kategorien von

Schicksal und Tragödie

zu begreifen ist. Nach dem Aufzählen aller objektiven und subjektiven Entstehungsbedingungen des Verhängnisses, die eine Komplexität der Epoche bewirkten, in der dieses Verhängnis nur seinen folgerichtigen Verlauf nehmen konnte, hat der Historiker den Grund für den Krieg ermittelt: Er musste so kommen, wie er kam, und die Zusammenfassung einer Zeitepoche als Weg in den Krieg fasst diese Paradoxie einer im Zeitverlauf verankerten abstrakten Notwendigkeit in das genau passende Bild. Derart verselbständigt sich der Denkfehler des Fachs, eine historische Gegebenheit als Wirkung von Bedingungen, Faktoren und Einflüssen der zeitlich vor ihr liegenden Gegebenheiten zu erklären, zur eigenständigen Wirkmacht: Das historische Ereignis gerät im Urteil der Wissenschaft zum Produkt der Zeit, die vor ihm liegt. Die Vorkriegszeit hat ihren historischen Begriff darin, den Krieg zum Ergebnis zu haben – das komplexeste Ereignis der Moderne generierte mit seinen außerordentlich engen Verflechtungen (C709, 717 und 13) und kataklysmischen Eskalationen einen Strudel der Ereignisse und schließlich das fatale Ineinanderfließen sachlich wie räumlich voneinander getrennter Konflikte (M768 und 767). Und umgekehrt besteht der historische Begriff des Krieges darin, das Ergebnis seiner Vorgeschichte zu sein – 1914 gab es so viele Ursachen: die Bündnissysteme, die Angst vor der Zukunft, das Versagen von Politik und Diplomatie, die Eigendynamik des Geschehens und oft auch schlicht den Zufall. (Münkler, SZ 14.1.) So firmiert neben allen aufgezählten Entstehungsbedingungen des Krieges, die sein notwendiges Herkommen aus der Zeit vor seinem Beginn plausibel erscheinen lassen sollen, in dieser Wissenschaft auch noch das Element des Zufalls (C20) als eine solche Entstehungsbedingung und ihre Vertreter können ein Wort, das die Negation von Notwendigkeit ausdrückt, ausgezeichnet als ein Element gebrauchen, mit dem sie Ursache und Grund ihres Gegenstandes darlegen.

Das gestattet, dieser Wissenschaft angemessen, vom Standpunkt des erzielten Ergebnisses aus, einen Rückblick auf die Entstehungsbedingungen, die ein gedanklich derart trostloses Resultat wissenschaftlichen Forschens ermöglich haben. Von Anfang an war das Anliegen der hier vorgestellten Vertreter des Fachs nicht die unbefangene Erklärung ihres Gegenstandes, die Darlegung der sachlichen Zusammenhänge zwischen den Gegebenheiten vor dem Krieg und deren Zurückführung auf die Zwecke und Interessen der Subjekte, deren Machenschaften sich diese Gegebenheiten schließlich verdankten. Letzteres ist auch Historikern bekannt, aber bei ihnen geht die Erklärung einen ganz anderen Weg. Vom Standpunkt des Ideals aus, das sie von der Weltpolitik im Kopf haben und das sie als deren eigentliche innere Notwendigkeit in die Geschichte und ihren Gang projizieren, wissen sie schon von vornherein, womit sie es zu tun haben bei diesem Weltkrieg. Mit einer Abweichung von der Notwendigkeit, die sie in ihrem Ideal denken. Diese Abweichung erklären sie sich dann auf die hier dargelegte Weise, treten also in den diversen Urteilen über die Realität, vor der sie die Augen selbstverständlich nicht verschließen, den Beweis an, dass und inwiefern entgegen aller Realität sie mit ihrem Ideal in historischem Recht sind. Diese Vorgehensweise besteht darin, beim Blick hinein in die weltgeschichtlichen Ereignisse nur die Folgerichtigkeit nachzuzeichnen, mit der sie wegdriften von ihrem eigentlichen geschichtlichen Sinn. Das empfindet der Historiker als tragisch und drückt dieses Leiden des Idealisten an der Realität dann auch noch als seinen ultimativen Begriff des Krieges aus: eine Tragödie (C716)!

*

Mit diesem Bild einer tragischen Kette der Ereignisse, die letztlich Europa in einen Krieg stürzte (C471), verschaffen sich die Autoren dann auch noch einen rückblickenden Vorausblick vom Ersten auf den Zweiten Weltkrieg. Das geht deswegen so gut, weil man über den Zweiten Weltkrieg alles Wichtige schon weiß, wenn man – wie sie – verstanden hat, wie es zum Ersten hat kommen können: Was folgte, war ein ‚Zeitalter der Extreme‘ (M797), also eine Folgekatastrophe der Urkatastrophe. Und weil alle Gräuel des 20. Jahrhunderts in Europa aus dieser Urkatastrophe hervorgingen (C9), hat wie schon 1914 ff. auch bei den Verheerungen, mit denen die Nazis von deutschem Boden aus die Völker der Welt überzogen, im wissenschaftlichen Register der geschichtsmoralischen Fragen von Verbrechen & Schuld die deutsche Nation ihr Konto nicht mehr überzogen als alle anderen: Das meiste davon kann auf die Giftdosis zurückgeführt werden, die der Erste Weltkrieg – nicht dem Deutschen Reich, sondern: – Europa injiziert hat. (Clark, FAZ, 24.9.13)

Es fallen also keine dunklen Schatten der Vergangenheit mehr auf die Weste der Nation, und das macht sie in den Augen der Historiker erst so richtig fähig zur Führung Europas. Denn da gibt es ja noch viel zu tun: Die Herausforderungen der Position der Mitte bleiben, auch wenn diese heute nicht mehr militärischer, sondern ökonomischer Art sind. (M24) Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist die deutsche Führungsrolle in Europa gescheitert, aber nur vorläufig. Das Gleiche ist in etwa über den Zweiten Weltkrieg zu sagen, denn nach dessen unrühmlichem Ende hat die Geschichte Deutschland ja bald wieder zur starken Zentralmacht Europas gemacht, und das beweist hinlänglich, dass diese Nation zur Führung des Kontinents einfach prädestiniert ist. Die Botschaft von 1900 Seiten Wissenschaft: Nach zwei vergeblichen Anläufen Deutschlands auf seiner historischen Mission steht Europa nun endlich ein friedliches deutsches Jahrhundert bevor, wie schön. Deutsche Politiker müssen sich jetzt die wissenschaftlich autorisierte Freisprechung ihrer Nation von aller Schuld und den ihnen endlich unverstellt vor Augen stehenden Auftrag nur noch zu Herzen nehmen.

[1] Teil 1 ist in GegenStandpunkt 3-14 erschienen: Politische Ansprachen und Interpretationen zum hundertjährigen Jubiläum des Ersten Weltkriegs: Zukunftsweiswende Erinnerungen an sinnlose Völkerschlachten

[2] Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013 (=C)

[3] Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt von 1914 – 1918, Berlin 2013 (=M)