Das Menschenrecht

Keine Woche vergeht, ohne dass irgendwo Menschenrechtsverletzung anklagt werden. Gegenstand der Anklagen sind Gemeinheiten, die eine Herrschaft sich gegen ihre Untertanen herausnimmt. Ins Feld geführt werden aber nicht geschädigte Interessen, sondern ein verletztes allerhöchstes Recht, das Herrschaft verpflichte, damit aber auch rechtfertige – oder bei Missachtung delegitimiere. Angeklagt werden in der Regel Politiker anderswo, auswärtige Regierungen und „selbsternannte“ Machthaber. Ankläger Journalisten und Sprecher von Vereinen, die sich der Verbesserung der Sitten in der Staatenwelt verschrieben haben, aber auch Politiker, die für sich den Respekt vor der rechtlichen Menschennatur und damit das Recht, über andere Souveräne zu urteilen, reklamieren; in der Regel sind sie im Freien Westen zu Hause. Die Strafgewalt der demokratischen Weltöffentlichkeit ist mehr ideeller Natur: Rufschädigung. Wenn aber machtvolle Staatsgewalten als Ankläger auftreten, erklären sie sich nicht selten gleich selber zum Richter und zum Exekutor ihrer Urteile wegen verletzter Menschenrechte anderswo. In deren Namen üben sie daheim die Gewalt über ihr Volk aus, die sie für geboten halten; in deren Namen kritisieren sie die Herrschaft anderer Staaten über deren Volk, erklären ihm ihre Feindschaft und führen Krieg. Bleibt zu klären, worin diese Idee eines dem Menschen zukommenden staatsverpflichtenden Rechts besteht und was sie für wen leistet – nach innen und nach außen.

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Gliederung

Das Menschenrecht

Keine Woche vergeht, ohne dass irgendwer irgendwen irgendeiner Menschenrechtsverletzung anklagt. Ankläger sind Politiker, Journalisten und Sprecher von Vereinen, die sich der Verbesserung der Sitten in der Staatenwelt verschrieben haben; in der Regel sind sie im Freien Westen zu Hause. Angeklagt werden in der Regel Politiker anderswo, auswärtige Regierungen und „selbsternannte“ Machthaber. Der Gerichtshof, der sich der Klage annehmen soll, ist in erster Linie die demokratische Weltöffentlichkeit, ein mehr ideeller Richter also, dessen Strafgewalt in einer Rufschädigung des Angeklagten besteht; wenn weltweit durchsetzungsfähige Staatsgewalten als Ankläger auftreten, erklären sie sich nicht selten gleich selber zum Richter und zum Exekutor ihrer Urteile, die durchaus härtere Strafen vorsehen; der Verein der europäischen Souveräne sowie die UNO in New York haben überdies spezielle Gerichte eingerichtet, die sich mancher offiziellen Klage wegen verletzter Menschenrechte juristisch formvollendet annehmen. Gegenstand der Anklagen sind die verschiedenartigsten Gemeinheiten, grobe und weniger grobe, die eine Herrschaft sich gegen ihre Untertanen herausnimmt.

Bleibt die Frage nach der Rechtslage.

I. Die Legitimation staatlicher Gewalt durch das Menschenrecht

1. Gehalt und Leistung der Menschenrechtsidee

Die Idee des Menschenrechts, die Vorstellung eines der Menschengattung eignenden Naturrechts knüpft an die jedermann geläufige Bedeutung und Wirklichkeit von Recht an: Das kennt und erfährt praktisch jeder – egal, ob er sich darüber theoretisch Rechenschaft ablegt oder nicht – als das mit staatlicher Monopolgewalt verbindlich gemachte gesellschaftliche Regelwerk, dem sich die Betätigung jedes Interesses unterzuordnen hat. Was immer man für recht und billig halten, welche Rechte auch immer man sich als Besitzstand gegen andere einbilden, beanspruchen oder einklagen mag: Sie gelten real, soweit die Staatsgewalt sie gesetzlich gültig macht, die darum – auch das kennt und praktiziert gegebenenfalls jeder – in allen wirklichen Rechtsfragen und -kollisionen angerufen wird oder gleich von selbst auf den Plan tritt. Und wenn dann ein Interesse ‚das Recht auf seiner Seite hat‘, dann gilt dieses Interesse ungeachtet seines Inhaltes und der praktischen Wirkungen seiner Betätigung so unbestreitbar wie die Höchste Gewalt, die ihm die Lizenz erteilt. Sie schreibt sich auf diese Weise jedem praktisch betätigten Willen als Höherer Wille ein. Zwar nimmt die Bestimmung als Höchste ihr nicht den Charakter der Gewalt, und alle dem Recht eigene Institutionalisierung, Formalisierung, Versachlichung erübrigt nicht, dass die Staatsmacht von ihren menschlichen Trägern ausgeübt wird, also in dieser Hinsicht ein ordinäres Gewaltverhältnis zwischen Menschen bleibt; gleichwohl existiert dieses im Recht in ebendieser Weise: Die überlegene Gewalt des Staates begegnet den Beherrschten als anerkannte Instanz alles Sollens und Dürfens.

Dass die staatliche Monopolgewalt das letzte Wort und die eigentliche Grundlage aller Rechtsetzungen ist – dabei mag es die Menschenrechtsidee nicht belassen. Sie besteht darauf, dass das staatliche Regiment über die Gesellschaft legitim zu sein hat, also ausdrücklich jenseits der Gewalt als der wirklichen Quelle des wirklichen Rechts auf eine Instanz verweisen kann, die dieser Legitimität verleiht. Diese Instanz soll das Gattungswesen Mensch sein. Der staatliche Respekt vor diesem Wesen ist daher nach naturrechtlicher Auskunft nicht weniger als die Anerkennung von dessen Gattungsnatur als Quell des ‚überpositiv‘ genannten Rechts, das alles bloß ‚positive‘ Recht – das, welches der Staat mit seiner Gewalt setzt – in der für das Recht typischen Dialektik ‚begründet‘: Das ‚überpositive‘ Gattungsrecht soll zugleich eigentliche Grundlage und absolute Schranke aller herrschaftlichen Verfügung über die Beherrschten darstellen. Die gelten der Menschenrechtsidee als vorstaatliche Rechtspersönlichkeiten. Unbekümmert um den Widerspruch, den es bedeutet, das Recht, also das per Gewalt eingerichtete Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen, in eine Naturbestimmung der letzteren zu verwandeln, die diesen ganz ohne Verhältnis zu irgendeiner staatlichen Instanz anhaften soll, will die Menschenrechtsidee die Menschen eo ipso als Inhaber eines Rechts kennen. Das habe demnach, so die übliche Ausdrucksweise, vom Staat ‚nicht gewährt, sondern gewährleistet‘ zu werden. Durch diese Gewährleistung – dies die zweite Seite des elementaren Widerspruchs menschenrechtlicher Denkweise – sollen die Inhaber staatlicher Macht ihren Unterworfenen entsprechen, wenn sie sich herrschaftlich über sie stellen, d.h. in einen obrigkeitlichen Gegensatz zu ihnen treten. Die Ausübung staatlicher Herrschaft, die der ganzen Gesellschaft Vorschriften macht und deren Einhaltung überwacht, präsentiert sich auf diese Weise selber als Befolgung einer Vorschrift und damit als ein Dienst höherer Art. Und das ist der ganze Gehalt und die schlagende Leistung des ideellen menschenrechtlichen Legitimitätsvorbehalts: Die vorgestellte Relativierung staatlicher Gewalt am höheren Recht des Menschen bildet die Quelle ihrer unbedingten Geltung, d.h. ihrer Verabsolutierung.

Von dem prinzipiellen Gegensatz, den Herrschaft immer darstellt, geht die Idee des Menschenrechts also als der größten Selbstverständlichkeit aus, wenn sie ihn gar nicht weiter thematisiert, sondern im Handumdrehen in eine Angelegenheit der Legitimität staatlicher Gewalt verwandelt. Präsentiert wird durch das Menschenrecht eine Antwort auf die Frage nach der höheren Erlaubnis dafür, dass das Leben der großen Mehrheit der Menschen von einer eher kleinen Auslese ihrer Gattungsgenossen: den Funktionären eines gesellschaftlichen Apparates, eben des Staates, reglementiert wird. Gesucht und ge-, genauer: erfunden wird ein Gesichtspunkt, unter dem die hoheitliche Gewalt in diesem Gegensatz zwischen den Inhabern und den Objekten ihrer Machtausübung Anerkennung und Zustimmung verdient. Und der damit um sein pures Gegenteil als ein zweites Moment des Verhältnisses zwischen Herrschern und Beherrschten ergänzt sein soll: ein Entsprechungsverhältnis, das ebenso abstrakt vorgestellt wird wie der Gegensatz der beiden Seiten.

Dieses Prinzip ist nicht neu. Schon immer haben die Inhaber staatlicher Gewalt den Bedarf gehabt, für sich Höheres ins Feld zu führen als ihre gewaltbewehrte Macht. Immer schon war nicht nur ihr Wille unverrückbar, sich für all ihre herrschaftlichen Notwendigkeiten und nie abschließend zu befriedigenden Ansprüche der Leistungen ihrer Landeskinder zu bedienen. Genauso dringend ist von jeher ihr Bedürfnis, diesen prinzipiellen und die damit verbundenen vielen konkreten Gegensätze unter einer höheren Warte für rechtens zu erklären, also für belanglos, was den Anspruch auf Zustimmung zu ihrer Herrschaft angeht. Der Legitimationsanspruch an staatliche Gewalt nimmt den Gegensatz zwischen ‚Oben und Unten‘ auf, um ihn ideell aus der Welt zu schaffen: Vermittelt über die höhere, von beiden Seiten des Herrschaftsverhältnisses anerkannte Instanz soll zwischen ihnen eine ideelle Einigkeit herrschen, vor der ihr sachlicher Gegensatz schlicht nicht zu zählen hat.

Neu an der menschenrechtlichen Legitimationslehre ist die Instanz, die sich der Staat gegenüberstellt, um sein Tun aus ihr zu legitimieren. Während frühere Herrscher und ihre Rechtsgelehrten ein legitimatorisches Dreiecksverhältnis zwischen sich, ihren Untertanen und einer getrennten dritten Instanz, vorzugsweise einem Gott, konstruiert haben, verweisen zum Zwecke der Legitimierung heutige Staaten auf ein Zweierverhältnis, das es in sich hat: Sie wollen keine andere oder höhere Instanz für die Rechtmäßigkeit ihres Regierens kennen als die von ihnen Regierten. Diese finden sich somit in einer Doppelrolle wieder: Zum einen sind sie diejenigen, die dem staatlichen Regiment unterworfen sind, ihre Interessen an dessen Erlaubnissen und Verboten auszurichten und zu relativieren haben, und zugleich bezeugen sie die unbedingte Zustimmungsfähigkeit dieses Herrschaftsverhältnisses, weil der Staat aus ihnen das höhere Recht seines Tun schöpft, indem er sie als die Träger dieses ihn bindenden Rechts anerkennt.

Damit steht fest, in welch seltsamer Eigenschaft die mehr oder weniger erfolgreich ihren Alltagsgeschäften nachgehenden Menschen, die das Territorium eines solchen Staates bevölkern, in den Rang einer höheren Rechts- und Legitimationsinstanz geraten. Ihre Interessen, ihre praktischen und praktizierten Willensinhalte sind es jedenfalls nicht, die er an ihnen als naturrechtliches ‚Reservat von Unverfügbarkeit‘ respektiert. Mit dem, was die Leute an Interessen gleich welcher Art verfolgen, und mit den Mitteln, über die sie verfügen oder auch nicht, füllen sie schließlich überdeutlich die Rolle der Objekte von Herrschaft aus: Darin gelten für sie die per Staatsgewalt gesetzten Regeln, die ihnen die gültigen Schranken aufzeigen, an die sie sich bei ihrem Tun zu halten haben und bei deren Verletzung sie mit staatlichen Sanktionen rechnen müssen.

Die überindividuelle Menschennatur, die sich der moderne Staat gegenüberstellt und der er die über-rechtlichen Vorgaben für sein Walten zu entnehmen vorgibt, zeichnet sich im Unterschied zu den konkreten Zweibeinern durch die Wunderlichkeit eines Willens als solchen aus: Nicht was ein Mensch will, sondern dass er der Gattung angehört, die es überhaupt als gattungstypische Eigenschaft dazu gebracht hat, dass ihre Mitglieder einen Willen besitzen: Dem gilt der ‚unbedingte Achtungsanspruch‘, den die Natur für jeden Menschen geltend machen soll, getrennt davon, was der will oder braucht, unter welchen Umständen er lebt oder haust, sogar – je nach philosophischer oder religiöser Vorliebe und Auslegung – getrennt davon, ob er als Individuum realiter schon oder noch zu einem willentlichen Verhältnis zu sich und der Umwelt fähig ist. Die Debatten um ungeborenes Leben und die Menschenwürde von Koma-Patienten sind bezeichnende Höhepunkte dieser Berufung auf den freien Willen, die diesen nicht nur von allem Inhalt, sondern gleich noch von seinem individuellen Träger abtrennt und letzteren vollständig der ‚Gattung‘ subsumiert.

Der so aufgefasste ‚Mensch‘ mit seiner ‚Willensfreiheit‘ ist ein rechtsphilosophisch zusammengebrauter Homunkulus, ein zurechtkonstruiertes Geisterwesen. Sein entscheidendes Merkmal: Der leere Wille, der als solches die Anerkennung seiner autonomen Hoheit fordert, ist ein theoretisches Unding, weil der Wille nun einmal nichts ist ohne seinen Inhalt. Im Unterschied zur menschenrechtlich verhimmelten ‚Natur des Menschen‘ sorgt nämlich seine wirkliche Natur für eine ganze Reihe von Willensinhalten, nämlich für allerlei Bedürfnisse, die die Grundlagen betreffen, die er in seiner Physis hat. Diese Bedürfnisse legt der zum Homo sapiens gewordene Primat mit der Ausprägung gattungstypischer Willensfreiheit nicht beiseite, sondern fasst sie neu. Sie existieren für ihn, er verfolgt sie als Interessen, reflektiert sie auf die Bedingungen und Mittel ihrer Verwirklichung und macht sich theoretisch wie praktisch an allen Seiten dieses Verhältnisses zu schaffen. Auf diese Weise ist der Wille folglich nicht frei von Inhalten, sondern steht frei zu ihnen. Im Laufe ihrer Geschichte entwickeln sich innerhalb der Gattung, die sich im übrigen nirgendwo als kollektives Gattungssubjekt, sondern in der Regel in mehr oder weniger großen Antagonismen betätigt hat, darum zwar auch allerhand Interessen, die keineswegs mehr einfach aus der menschlichen Natur herkommen: Interessen werden im Laufe der Geschichte zunehmend von den diversen Gesellschaftsformen samt ihrem jeweiligen Stand von theoretischer Naturbeherrschung, technischem Fortschritt und einer mehr oder weniger gegensätzlichen Arbeitsteilung geprägt. Aber zu keiner Zeit hat es die Gattung zu einem Willen ohne Inhalt gebracht.

So unsinnig dieses Konstrukt ist – unter legitimatorischem Gesichtspunkt erweist es sich als äußerst ergiebig. Denn wenn der menschenrechtlich gebotene Respekt der Souveränität des leeren Willens gilt, dann sind damit alle wirklichen Willensinhalte nicht etwa bloß außer Blick geraten, sondern für unerheblich erklärt. Indem der Staat sich an der abstrakten Willensautonomie relativiert, setzt er sich so schlicht wie nachhaltig über die praktisch existierenden Interessen hinweg. Kein noch so großer, noch so systematischer Schaden, den sein Wirken an denen anrichtet, blamiert daher per se die Legitimität, die er sich ja gerade nicht mit dem Versprechen eines Dienstes für irgendwelche Interessen, sondern mit Verweis auf seine Achtung vor dem ‚Willen überhaupt‘ zuschreibt. Tatsächlich geht die Achtung der heiligen Souveränität des Subjekts über sich selbst prächtig mit jeder praktischen Freiheit zusammen, die sich der Staat beim wirklichen Regieren nimmt. Er muss ja nur beteuern, dabei die abstrakte Verfügungsberechtigung seiner lebendigen Herrschaftsobjekte über sich selbst im Blick zu behalten. Und das leistet er nach der Logik des Menschenrechts immer schon, wenn nur das, was er dem Menschen zumutet, dem absurden Kriterium genügt, dass der betroffene Mensch das rein theoretisch wollen kann. In der Erfüllung dieser Forderung nach der puren, irgendwie an der abstrakten Willensnatur ausdrückbaren Möglichkeit selbstbewusster Zustimmung durch den Betroffenen besteht der ganze Respekt, der alles staatliche Handeln auch und gerade dann über prinzipielle Kritik erhebt, wenn es sich für so manche Interessen einschränkend, schädlich oder gar zerstörerisch geltend macht. So schnell blamiert sich da nichts, solange nur Wille und Bewusstsein der Betroffenen mit im Spiel sind und nicht einfach ausgeschaltet oder übergangen werden. Dann liegt der Einklang staatlichen Handelns mit der willensmäßigen Gattungsnatur bzw. gattungsmäßigen Willensnatur der Betroffenen, also mit deren eigentlicher, höherer Identität vor. Der Formalismus von Subjekt und Objekt – als ersteres ist ein jeder zu behandeln, auf letzteres darf niemand reduziert werden – wird für diese Rechtfertigungslogik zur passenden Universalformel, weil sie tilgt, was es für wen praktisch heißt, Subjekt wovon und unter welchen Bedingungen zu sein.

Damit erfährt die vom Menschenrecht vorgestellte Staatsgewalt zugleich eine bemerkenswerte Verwandlung. Beruht die Legitimationslogik des Menschenrechts im Ausgangspunkt darauf, Herrschaft als potenzielle Willkürmaschine zu denken, die der menschenrechtlichen Zügelung bei ihren Taten bedarf, damit diese keine Untaten seien, so stellt sich Herrschaft bei Einhaltung der menschenrechtlich gezogenen Grenzen nicht einfach nur als gezügelte und somit legitime Macht dar, die dem Menschen bei ihrem Tun nicht in seine naturursprünglichen Rechtsansprüche pfuscht, sondern als die Lebensbedingung dieser menschlichen Natur. Denn innerhalb dieser Konstruktion ist der freie Wille des Menschen unmittelbar und untrennbar mit seinem naturrechtlichen Verhältnis zum Staat verknüpft, schließlich sollen ihm ja die Schranken des Staatshandelns als seine Natursubstanz innewohnen. Woraus im weiteren folgt, dass der auf die Anerkennung der menschlichen Willenssouveränität verpflichtete Staat dann, wenn er die menschenrechtlichen Schranken einhält, die Menschennatur, der diese Schranken innewohnen, nicht bloß respektiert, sondern sie verwirklicht. Wenn das Verbot staatlicher Übergriffe auf das abstrakte Willenssubjekt diesem Subjekt immanent ist, dann ist Anerkennung dieses Verbotes nicht weniger als die Verwirklichung seines Willens. Das Wirken des Staates ist damit die Befolgung eines Gebotes der Menschennatur, die stolze und gebieterische Menschennatur also der Rechtsanspruch auf – passende – Herrschaft.

Der Mensch hat das Recht darauf, der Knecht einer Herrschaft zu sein, die sich seiner annimmt: Das ist die trostlose Substanz der großen aufklärerischen Idee des menschlichen Naturrechts. Daran ändert die philosophische Aufgeblasenheit genauso wenig wie die Tatsache, dass Staaten es heutzutage keineswegs bei der Proklamation dieses Legitimationsprinzips belassen, sondern nicht wenig Aufwand für den Nachweis betreiben, dass alle ihre in Gesetzesform gegossenen Vorschriften tatsächlich diesem Prinzip entsprechen. Letztlich beweist so alles akribische Prüfen und auch der hin und wieder höchstinstanzlich festgehaltene Korrekturbedarf, dass der Staat bei der Verwirklichung der Gattungsnatur im Prinzip gerade dann alles richtig macht, wenn er seinem Programm nachgeht. Diese Form der Legitimation passt nicht zu jeder Herrschaftsform gleichermaßen.

2. Ursprung und Heimat des menschenrechtlichen Gattungswesens ist der bürgerliche Staat

Die Idee der ‚Rückbindung‘ staatlicher Gewalt an das Naturrecht ihrer Untertanen, das Postulat der moralischen Notwendigkeit einer Relativierung der Herrschaft des Staates an der ‚Willensautonomie‘ der Regierten, wodurch erst dem Staat das Recht zur Herrschaft über die Seinen zuwachse, ist mit dem Aufkommen moderner bürgerlicher Staaten prominent geworden. Die haben darin die für ihre moralische Verabsolutierung brauchbare, weil passende Verfremdung des abstrakten Prinzips ihres ‚Herrschaftsmodells‘ gefunden, entsprechend aufgenommen und ausgebaut.

Die Feier des freien Willens, die umstandslos zu einer Feier der Staatsgewalt gerät, die ihm seine naturrechtlich angestammten Ansprüche zukommen lässt, beruht und verweist darauf, dass bürgerlich-demokratische Staaten dem Willen der Bürger tatsächlich eine eigenartige Rolle zuweisen, wenn sie die gesellschaftlichen Verhältnisse hoheitlich einrichten und betreuen. Diese Eigenart bürgerlicher Herrschaft besteht definitiv nicht darin, dass sie sich verglichen mit anderen Herrschaften jemals irgendeine Zurückhaltung hinsichtlich ihres Durchgriffs auf alle Momente des Lebens ihrer Untertanen auferlegt hätte. Grundlage und Gegenstand des Lobes, mit dem Aufkommen bürgerlicher Staatsgewalten sei die Ausübung von Herrschaft durch Selbstbeschränkung und Dienstbarkeit für die ihr Unterworfenen geprägt, sind vielmehr der Inhalt der Vorschriften und ihr Verhältnis zu den Interessen der Bürger. Die kommen in den Genuss grundsätzlicher Anerkennung durch die herrschende Gewalt. So grundsätzlich ist diese Anerkennung, dass sie an den wirklichen materiellen Interessen, die das leibhaftige Gattungswesen Mensch so mit sich bringt und im Laufe seiner Geschichte entwickelt, gar keinen anderen Inhalt entdeckt und gelten lässt als den Umstand, dass da jemand ein Interesse hat – der jemand heißt Person – und diese Interessen mit Mitteln, die ihm als die seinigen zu Gebote stehen, durchzusetzen bestrebt ist. Dem Zugriff der Personen auf das Ihrige hilft der bürgerliche Staat auf die Sprünge, indem er seine Bürger mit dem Rechtsinstitut des Eigentums beglückt: Er definiert Bedingungen, unter denen die Gegenstände der materiellen Interessen der Leute den einzelnen Personen als Objekte eines exklusiven Verfügungsrechts, eben als ihr Eigentum zuzuordnen sind. Für den Eigentumserwerb – wohl zu unterscheiden von der materiellen Produktion nützlicher Güter – schreibt er den Weg über den Tausch, den Handel mit Waren und Dienstleistungen zwingend vor und steht auch dafür, dass ein jeder diesen Zwang für sich nutzen kann, mit einer Dienstleistung bereit: Er definiert verbindlich ein Geld, das den Tauschwert alles Verkäuflichen dinglich repräsentiert und verdient werden muss, bevor und damit einer an die Objekte seiner Begierden herankommt. Die Anerkennung des Materialismus der Menschen geht also einher mit der Festlegung aller Interessen auf ein Zusammenwirken auf der Grundlage und nach Maßgabe einander ausschließender, in Geld quantifizierter und gegenständlich handhabbar gemachter Verfügungsrechte; mithin auf eine Art zu wirtschaften, die nach Regeln, die kein Staatsmann sich erst ausdenken musste, denen die Staatsgewalt aber Bestandskraft gegen alle immanenten Widersprüche und gegen alle Widerstände verleiht, zu dem bekannten Ergebnis führt: Sie reproduziert zuverlässig die Scheidung der menschlichen Personen in solche, die kraft ihres Eigentums andere für die Mehrung ihres Geldvermögens arbeiten lassen, und eine große Mehrheit, die sich irgendwie durch Arbeit, im Wesentlichen für fremde Eigentumsvermehrungsinteressen, Geld verdienen muss.

Der bürgerliche Staat stellt sich also anerkennend zu einem Materialismus, den er keineswegs getrennt von sich vorfindet und so belässt. Er definiert diesen Privatmaterialismus seinem Inhalt nach, wenn er ihm mit seiner Eigentumsordnung das ebenso universelle wie unabdingbare Mittel seiner Betätigung zur Verfügung stellt. Und so erweist sich das Angebot, das der Staat mit den rechtlich normierten Gelegenheiten zum Geldverdienen unterbreitet, als eines, das man einfach nicht ablehnen kann: als Verpflichtung jeglicher ökonomischen Betätigung auf den Dienst an der Vermehrung privaten Eigentums in Geldform. Gleichgültig, ob man als Vermögender sein Geld investiert, um es zu vermehren, ob man als weniger Vermögender für einen Lohn oder ein Gehalt seine Arbeitskraft und Lebenszeit im Dienst am Erfolg einer solchen Investition hergibt oder noch anders tätig ist – alle Mitglieder der modernen Erwerbsgesellschaft sind aus privatem Materialismus in das Getriebe der Geldvermehrung verwickelt, die der Staat dann national bilanziert. In dieser Bilanz hält er seinen Nutzen fest, für den die freien Bürger in ihrem Treiben automatisch gesorgt haben: Das in gewachsenen Geldvermögen vorliegende Gesamtprodukt privater Anstrengungen ist die Quelle staatlicher Potenz, die er dadurch abschöpft, dass er Steuern erhebt oder per Staatsschulden die künftigen Akkumulationsleistungen seiner nationalen Ökonomie verpfändet.

Mit seiner Eigentumsordnung und mit dem Geld, das er etabliert, legt der bürgerliche Staat die Bürger also auf eine Freiheit fest, deren sachgerechte Wahrnehmung ihm nach aller historischen Erfahrung mehr nützt als alle herrschaftlichen Dienstanweisungen ans Volk, die dem bürgerlichen Verstand als Tyrannei gelten. Er erklärt das Tun und Lassen seiner Bürger verbindlich zu deren privater Angelegenheit und stiftet damit eine Ökonomie, die aus lauter voneinander abhängigen und darin gegeneinander gerichteten privaten Anstrengungen des Geldverdienens besteht. Auf deren Verlauf wirkt er so ein, dass es seinen Ansprüchen dient. Ausgerechnet sein Regiment über die Gesellschaft übt er so als Erfüllung von deren Bedarf, sein herrschaftliches Schmarotzen und Abgreifen als Dienst an ihr aus.

Daran knüpft seine spezielle menschenrechtliche Rechtfertigungslehre an, wenn sie im Prinzip und dann auch im Detail die staatliche Ausgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft zur Pflichterfüllung erklärt, die der Staat einer ihm vorgängigen Rechtsnatur des Menschen schuldet.

3. Der Katalog der Menschenrechte idealisiert die bürgerliche Herrschaftsraison und ihre Methoden

In ihren Verfassungen und sonstigen mehr oder weniger verbindlichen Menschenrechtsdokumenten stellen bürgerliche Staaten dieses Verhältnis von Rechtfertigungsideologie und tatsächlicher Raison rechtsdogmatisch auf den Kopf. Noch stets tun sie so, als folgten die einzelnen Grundrechte aus dem überragenden Prinzip der vorstaatlich-menschlichen Rechtsnatur, dem sie sich verpflichtet haben. Tatsächlich stellt der Katalog der Grund- bzw. Menschenrechte eine Ansammlung von mehr oder weniger idealistisch formulierten grundlegenden Fassungen dessen dar, welche Notwendigkeiten und Methoden ihrer Durchsetzung sich für solche Staaten aus ihrer Raison ergeben.

a)

Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. [1]

Zwar ist es bloß der fünfzehnte Unterpunkt der UN-Menschenrechtserklärung, und doch wird hier der allgemeine Widerspruch der Menschenrechtsidee ausdrücklich: Das affirmative Verhältnis zu der gesellschaftlichen Institution namens Staat, die es dafür tatsächlich ja erst einmal geben muss, wird zur Naturausstattung des Menschen umgedreht, der die staatliche Gewalt nur entsprechen, also logisch nachfolgen soll.

Dabei stellt eigentlich schon das Wort ‚Staatsangehörigkeit‘ klar, worum es der Sache nach geht: Denn das drückt ja deutlich genug aus, dass nicht der Staat dem Menschen, sondern der Mensch dem Staat angehört. Benannt ist damit nicht weniger als der hoheitliche Anspruch auf die Leute, der Zugriff auf sie, also die Subsumtion aller ihrer Betätigungen unter die staatlichen Setzungen. Was ein Staat seinen Bürgern im weiteren an Lebensumständen anzuschaffen gedenkt, für welche seiner Pläne er mit ihnen in welcher Weise auch immer verfahren, d.h. sie praktisch zur Ressource für sich machen will – das alles erlangt seine wirkliche Rechtmäßigkeit aus der per Staatsangehörigkeit deklarierten Bindung der Bürger an ‚ihre‘ Staatsgewalt. Womit sich dieses Verhältnis durch die totale Passivität desjenigen Poles auszeichnet, der in menschenrechtlicher Diktion als Anspruchsinhaber auftaucht. Die Exklusivität dieses Verhältnisses, für die wieder nicht der Mensch, sondern der Staat sorgt, schließt ein zweites Verhältnis ein, von dem die mit einer Staatsangehörigkeit gesegneten Leute noch nicht einmal etwas wissen müssen: Indem der Staat sie als seine Staatsbürger reklamiert, schließt er andere Staatsgewalten von diesem Zugriff aus. An seinen Staatsangehörigen und ausweislich ihres Passes behauptet der Staat sich mit seinem Recht gegen andere seiner Art und behandelt die Staatsbürger pur als Gegenstand eines ausschließenden Zugehörigkeits-, d.i. Verfügungsanspruchs, den also nicht der Mensch gegenüber ‚seinem‘ Staat, sondern dieser gegen andere Staaten geltend macht.

Das Menschenrecht will von alledem wissen, dass die Natur des Menschen nach solch einem Verhältnis der Zugehörigkeit zu irgendeinem Staat nicht nur seufzt, sondern dieses als vorstaatliches Recht setzt. Ideologisch wird das Verhältnis auf den Kopf gestellt und der Mensch zur aktiven Seite, zum eigentlichen Generator dieses Verhältnisses erklärt, während der Staat nur höherem Recht gehorchen soll, wenn er die Zugehörigkeit eines Menschen zu seinem Staatsvolk behauptet. Dass Staaten ihre Freiheit schon allein dadurch beweisen, dass sie sich durchaus unterschiedliche Regeln dafür geben, nach denen sie die Staatsangehörigkeit der Leute innerhalb oder außerhalb ihres Hoheitsgebietes gewähren oder verweigern – das wird durch die ideologische Behauptung eines Naturrechts auf Staatsangehörigkeit ebenso geleugnet, wie der überhaupt nicht schwer zu ermittelnde Grund dafür, warum der Status der ‚Staatenlosigkeit‘ tatsächlich ein Unglück eigener Art ist: Nicht von Natur aus, sondern auf einem Globus, den die modernen Staatsgewalten mit viel Krieg und inzwischen ohne Rest unter sich aufgeteilt haben, kommt die fehlende rechtlich-formelle Zugehörigkeit zu einem Staat nämlich eigentlich einer Existenzunmöglichkeit gleich – so sehr setzen staatliche Gewalten praktisch das lebendige Individuum mit dem staatsbürgerrechtlichen Status gleich, den sie ihm zuschreiben oder verweigern. Was bekanntlich keineswegs heißt, dass Staatsangehörigkeit als solche auch nur im entferntesten so etwas wie das Versprechen einer materiellen Existenzgarantie beinhaltet. Seine materielle Existenz darf der Staatsbürger ja ganz frei selbst gestalten.

b)

Artikel 19: Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung …

Ob und wie die freien Staatsbürger ihr Leben bewältigen, geht den Staat nichts an, solange sie sich dabei ans Recht halten. Sie dürfen und sollen sich um sich kümmern – und müssen es damit auch, denn die andere Seite der Medaille privater Freiheit besteht nun einmal darin, dass alle Interessen bloß privat sind: Weder andere Privatleute noch gar der Staat sind dafür verantwortlich, was aus ihnen wird.

In dieser Freiheit privater Willensbetätigung ist die Willensäußerung selbstverständlich inbegriffen. Jeder darf äußern, was er will; niemand muss einem Herrn, und schon gar nicht dem Staat nach dem Munde reden. Das schließt Ansichten über die Umstände, die einem das Leben leicht oder schwer machen, ebenso ein wie Vorschläge, wie die anders, besser zu gestalten seien. Auch hierfür gilt, was für den Status privater Freiheit überhaupt charakteristisch ist: Alles Meinen und Dafürhalten, Vorschlagen und Kritisieren ist als private Ansicht genehmigt. Das bedeutet freilich nicht, dass den freiheitlichen Staat die Ansichten und Absichten seiner Bürger schlicht nichts angehen würden. Auch in der modernen Welt erfüllen Urteile über was auch immer den Tatbestand der theoretischen und willentlichen Distanz zu den „gegebenen“, von der staatlichen Rechtsordnung geschützten Verhältnissen, verraten unter Umständen eine Kritik und den Willen zur Veränderung „der Realität“, stehen jedenfalls prinzipiell unter dem Verdacht einer Tendenz zum Übergriff auf die herrschenden Zustände, auf das staatliche Regime darüber und auf die garantierte Freiheit eines jeden, sich darin einzurichten. Die bürgerliche Staatsgewalt kommt also nicht umhin, so, wie sie den anerkannten Materialismus ihrer Rechtssubjekte mit der Verpflichtung aufs Eigentum als hilfreiche Bedingung ihrer Lebensführung ausstattet, so auch der Urteilskraft ihrer mündigen Bürger eine Maßregel mit auf den Weg zu geben; die nämlich, dass die freie Betätigung des Verstandes nicht mehr ist als eben dies: eine subjektive Ansicht ohne jeden Anspruch, objektiv zu gelten – so was wäre ein mit der freiheitlichen Grundordnung unverträgliches Streben nach „absoluter Wahrheit“ –, also ohne die Anmaßung, sich damit theoretisch oder gar praktisch an der wirklichen Geltung, womöglich dem Bestand der herrschenden Verhältnisse vergreifen zu wollen. Objektivität und Veränderungswillen gehören von der Beurteilung der Welt und ihrer Sitten abgetrennt: Das ist die kleine Randbedingung, die der bürgerliche Rechtsstaat der menschlichen Urteilskraft mit der Anerkennung ihrer Freiheit mitgibt.

Die Deklaration der Freiheit des Denkens und Mitteilens ist also eine verpflichtende Statuszuweisung, die es in sich hat. Gerade da, wo über die Verhältnisse geurteilt wird und wo es fürs Interesse auf die Objektivität des Urteils ankommt, werden Wille und Verstand auf ihre pure Subjektivität festgenagelt. Der Urteilskraft ist die Rolle eines selbstgefälligen Generators unverbindlicher Kommentare zum Lauf der Dinge zugewiesen. Widerlegungen werden dem meinungsfreien Subjekt nicht zugemutet; oder wenn, dann als Beiwerk zur grundsätzlichen Anerkennung seiner freien Meinung als Vers, den es sich auf seine Erfahrungen macht und machen darf. Was einer denkt und will, ist damit ohne explizite Zurückweisung hochachtungsvoll zurückgewiesen.

Und nicht nur das. Die Würdigung der geäußerten Ansichten jenseits ihres Inhalts als freie Tat hält als das eigentlich Entscheidende daran eben ihre Freiheit fest – also dass das Subjekt im Grunde mit seiner Meinung im Wesentlichen seine Lizenz zum Meinen betätigt hat. Auf dieser jenseits aller sachlichen Inhalte gelagerten höheren Ebene der lizenzierten Freiheit postuliert der Staat ein prinzipielles Einverständnis aller freiheitlichen Meinungsträger mit sich. Er lauscht deren Äußerungen nichts anderes ab als das abstrakte Ja zu ihm als der Instanz, die ihnen gewährt zu sagen, was sie wollen. Und das auch und gerade da, wo er selber Gegenstand der erlaubten Meinungsäußerungen ist. Gerade hier bewährt sich sein Verfahren, durch die Zulassung von Kritik diese nicht bloß für in der Sache unerheblich, sondern geradewegs zur über alle Kritik erhabenen Einverständniserklärung mit seinen freiheitlichen Verfügungen zu erklären. An Sonn- und hohen Feiertagen bekennen sich die Anführer bürgerlicher Staaten gern noch einmal ausdrücklich zu dieser Unverschämtheit. Dann erklären sie jedes unzufriedene Volksgemurmel zum Beweis dafür, dass ihr Volk seine Freiheit genießt, die sie ihm lassen, und damit jedenfalls unbedingt zufrieden ist.

Die Lehre vom Menschenrecht erklärt diese zugleich verächtliche und vereinnahmende Stellung der bürgerlichen Herrschaft zum Urteilen und Wollen der Leute zu einem Recht, das jede legitime Staatsgewalt zu erfüllen hat. Die prinzipielle Verkehrung menschlicher Verstandes- und Kommunikationsleistungen in Akte der Wahrnehmung einer Genehmigung wird gedeutet als vor- und überstaatlicher Rechtsanspruch, der der Natur der menschlichen Vernunft entspringt – als ginge es ‚dem Menschen‘, wenn er seinen Grips benutzt und sich mit seinesgleichen austauscht, von Natur aus um nichts anderes als darum, was auch immer denken und sagen zu dürfen.

c)

Artikel 21: Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.

Die dem Prinzip Menschenrecht eigene theoretische Unart, das positive Verhältnis zum Staat als Gattungseigenart, also die Unterwerfung unter ihn als gattungseigenen Rechtsanspruch an ihn zu behaupten, macht sich hier an einer staatsrechtlichen Prozedur, der Wahl, fest.

Objektiv schreibt der bürgerliche Staat in der Abhaltung von Wahlen sein abstraktes Anerkennungsverhältnis zum Willen seiner Bürger fort. Die sind dazu aufgerufen, ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit den vergangenen oder den angekündigten Taten der Regierung nicht nur als Stammtischredner oder Leserbriefschreiber, sondern auch als Wähler zu bekunden. Und wieder definiert der Staat mit den Modalitäten der organisierten Willensäußerung nicht weniger als den Willen selber. Die Erlaubnis, an der Auswahl der Anwärter für bestimmte Staatsämter teilzunehmen, beschränkt zunächst ganz prinzipiell die Bürger auf die Wahl als die einzig zulässige Art, das Staatshandeln zu beeinflussen. Dass die Wahl als Sternstunde der Demokratie gefeiert wird, geht von daher in Ordnung; eine andere Gelegenheit, seinem Willen bei der Herrschaft verbindlich Gehör zu verschaffen, hat der Bürger einfach nicht. Dabei darf er sich auch gar nicht zu allem möglichen äußern, sondern gefragt ist seine Meinung nur zu den auf dem Wahlzettel abgedruckten Alternativen, die in der Regel keine sachlichen, sondern personelle sind. Inwiefern an den verschiedenen Personen tatsächlich große Politikunterschiede oder nur Nuancen oder noch nicht einmal die hängen, darf sich der mündige Wähler natürlich fragen; es steht ihm frei, Vorstellungen und Hoffnungen bezüglich der Fortsetzung oder Veränderung der nationalen Agenda mit der Wahl oder Abwahl bestimmter Personen zu verknüpfen, aber das alles bleibt seine private Kalkulation. Seine Ansichten und Anliegen sind mit dem Stimmzettel zu bloß individuellen Motiven degeneriert, die in dem Kreuz vollends verschwinden, das er dann macht. Dann werden die namen- und kommentarlosen Kreuze zusammengezählt, und zwar nach wiederum vom Staat beschlossenen Verfahren, die in gereiften Demokratien für das wählende Gattungsmitglied in aller Regel undurchschaubar sind.

Es darf also getrost als Ironie gelten, wenn Wahlen als ‚Ermittlung des Wählerwillens‘ paraphrasiert werden, enthält doch die ‚Ermittlungs‘-Methode eine vollständige Definition des Willens, den sie lediglich zu ‚ermitteln‘ vorgibt. Was immer die Millionen einzelner Wähler sich davon versprochen haben mögen, dort ihr Kreuz zu machen, wo sie es dann jeweils gemacht haben – das Wahlergebnis präsentiert ihnen hinterher einen kollektiven Wählerwillen, als dessen bloße gleich-gültige Atome ihre Stimmen zählen und auf dessen Anerkennung sie verpflichtet sind; was die gewählten Machthaber dann mit der Ermächtigung anstellen, fällt ausschließlich in ihre Verantwortung und gilt verbindlich für alle Wähler gleichermaßen. Darauf lässt sich der Staat verpflichten, wenn er periodisch einen Teil seiner Ämter dem Wählervotum anheimstellt. Mit der Ermächtigung des Wählers zur Auswahl der Kandidaten verpflichtet er ihn auf das Ergebnis der Wahl, und das ist – wie auch immer – per definitionem die Fortsetzung seiner Herrschaft.

Über diesen objektiven Nutzen der freien Wahl für deren staatlichen Veranstalter geht das Menschenrecht großzügig hinweg. Und dass gerade in einer lebendigen Demokratie in Bezug auf die Wahlen nichts so gängig ist wie abschätzige Urteile über den Wahlkampfzirkus, die Verlogenheit und Korruptheit der Kandidaten sowie die Einfältigkeit der Wähler – auch das berührt das Menschenrecht nicht. Menschenrechtlich ist das alles abgehakt, weil der Mensch sich dieser Lehre zufolge durch einen Willen auszeichnet, der seinen wesentlichen Inhalt im Recht auf Anerkennung seitens des Staates hat, der ihn regiert. Und diesem Recht wird in der Wahl schließlich mit viel Aufwand und noch größerem Lärm Genüge getan. Dass sich der Staat über jedes bestimmte Anliegen hinwegsetzt, wenn er in Bezug auf sich nur das Anliegen gelten lässt, periodisch einen von ihm definierten Einfluss auf die Auswahl seines Personals zu nehmen, das dann nur ‚seinem Gewissen‘ verpflichtet ist, dreht sich in der Ideologie des Menschenrechts dahin um, dass der Staat dem gattungsallgemeinen Willen und Rechtsanspruch gehorcht, nur mit verfahrensmäßiger Legitimation seitens der Regierten an sein herrschaftliches Werk zu gehen. Und so erfüllt, wenn nur alle paar Jahre der Wähler wählt, die Herrschaft, wenn sie herrscht, nichts Geringeres als die Menschennatur.

d)

Artikel 5: Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Dieses Juwel unter den Menschenrechten, das es sogar zu einem eigenen Vertragswerk – der Anti-Folter-Konvention – gebracht hat, zeichnet sich durch die Selbstverständlichkeit aus, mit der es nicht bloß den Staat überhaupt als von der Menschennatur geforderte Existenzbedingung voraussetzt, sondern die Gewalt absegnet, mit der die Staatsmacht Missetäter ermittelt und abstraft. So viel ist einfach klar und stillschweigend unterstellt: Wo es um die Durchsetzung nicht des Menschen-, sondern des wirklichen, staatlich gesetzten Rechts geht, da steht der Mensch auf verlorenem Posten, ohnmächtig gegenüber einem Gewaltapparat, der zu allem fähig ist – nur und genau deswegen verdient dieser Apparat Dank und Anerkennung dafür, dass er in sein Vorgehen gegen Verdächtige und in seinen Umgang mit Verurteilten einen Verzicht auf Unmenschlichkeit als Vorbehalt einbaut.

Tatsächlich hat die bürgerliche Herrschaft für diese interessante Selbstbeschränkung profanere Gründe als die Ehrfurcht vor der Rechtsinstanz „Mensch“. Nicht der unwichtigste ist z.B. die Erfahrung, dass Folter ermittlungstechnisch von äußerst begrenztem Wert ist; schließlich soll die Justiz die Richtigen und nicht die Schmerzempfindlichsten erwischen. Im bürgerlichen Gemeinwesen folgt die öffentliche Gewalt beim Ermitteln und Bestrafen jedoch nicht bloß derartigen pragmatischen Abwägungen, sondern schlicht und einfach der Generallinie ihres Herrschaftsverhältnisses zu ihrem Volk: Grundsätzlich setzt sie auf den – an die Geldwirtschaft als Bedingung gebundenen – Eigennutz ihrer Bürger als Quelle ihrer Macht; und von dem Standpunkt, dass letztlich das Streben des Menschen nach seinem recht verstandenen Lebensglück die Leute zu nützlichen Opportunisten macht, lässt sie auch dann nicht ab, wenn einzelne es an Respekt vor den staatlichen Setzungen fehlen lassen und gegen die fürs Lebensglück gesetzten Bedingungen verstoßen. Dann verlangt freilich die Hoheit des wirklichen Rechts unnachsichtig die förmliche Feststellung einer solchen Respektlosigkeit und eine Schädigung, die den Missetäter spüren lässt, dass der Versuch einer Selbstverwirklichung entgegen der geltenden Ordnung garantiert und eindeutig nach hinten losgeht. Aus dem Kreis der Rechtssubjekte, die der Staat für sich als seine Basis in Anspruch nimmt, wird auch der Rechtsbrecher jedoch nicht ausgeschlossen: Dessen gerechte Bestrafung soll nicht jede Aussicht auf eine „bürgerliche Existenz“ unwiederbringlich zerstören, sondern die Alternativlosigkeit der dafür vorgeschriebenen Regeln praktisch geltend machen. Auch seine Verbrecher entlässt der Staat nicht aus seinem Anspruch auf eine Lebensführung, in der persönlicher Erwerbssinn und staatsbürgerliche Nützlichkeit zusammenfallen.

Die zuständige Rechtsdogmatik übersetzt diesen staatsmaterialistischen Anspruch in die Fiktion eines grundsätzlichen Willens zur Rechtstreue, der beim Bürger im Prinzip vorauszusetzen, beim überführten Verbrecher durch Brechung des abweichenden Willens wiederherzustellen sei. Im Namen dieser Fiktion verbietet sie es, den Rechtssubjekten, auch den fehlgegangenen, ihren Willen zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung abzusprechen und durch Zerstörung ihres unverzichtbaren Lebensmittels, einer brauchbaren Physis, praktisch kaputtzumachen – die Todesstrafe für Kapitalverbrechen ist da ein rechtsdogmatischer Grenzfall. So Sachen wie dauerhafte Verstümmelung durch Abhacken von Gliedmaßen, eine öffentliche Ächtung, die den Menschen vom zivilen Leben ausschließt, und andere Gemeinheiten, die einem privaten Rachebedürfnis gefallen mögen, gelten daher als „unmenschliche Behandlung“; jedenfalls im Prinzip. Im Einzelfall muss das Unmenschliche vom rechtmäßigen Eingriff in Freiheit und Vermögen eines Straftäters und eines Verdächtigen sorgfältig unterschieden werden, weil der Unterschied in der Praxis so schlagend und eindeutig auch wieder nicht ist. Immerhin erklimmt die Rechtsdogmatik hier aber ein philosophisches Niveau, das den Übergang zur Berufung aufs Menschenrecht als verbindlichen Leitfaden auch der Strafjustiz leicht macht: Beim Ermitteln und beim Bestrafen muss die Staatsgewalt noch Respekt vor dem formal freien Willen ihrer Opfer erkennen lassen; sie muss so handeln, dass die Behandelten in ihrer Eigenschaft als rechtlich denkende Menschen ihrer Behandlung noch müssten zustimmen können; zur bloßen Sache darf sie „den Menschen“ nicht erniedrigen...

Solange der Staat also seiner Selbstverpflichtung nachkommt, im Menschen den prinzipiell rechtstreuen Willen: den Willen zu ihm und seiner Rechtssetzung zu erkennen und anzuerkennen, ist menschenrechtlich alles in Ordnung, was er tut; alle Folgen inklusive, die ja auch unter Einhaltung aller rechtstaatlichen Prozeduren und Prinzipien für die Betroffenen nicht lustig sind. Just da, wo der Staat keinerlei materielle Rechnung seiner Bürger mehr gelten lässt, wo er dem Willen praktisch seine Macht- und Mittellosigkeit gegenüber seiner Gewalt vorführt und ihn demonstrativ berechnungslos dafür büßen lässt, dass er sich nicht an die gesetzten Grenzen gehalten hat, sieht die Menschenrechtsidee die Natur als Grundlage des Rechtsanspruchs des Menschen gegen den Staat – darauf, einer Behandlung unterzogen zu werden, zu der seine angeborene Rechtsnatur „Ja!!“ sagen könnte.

*

Freilich: Seine lobhudlerische ‚Plausibilität‘ bezieht dieses Menschenrecht wie auch die anderen von den UN oder den einzelnen Staaten in ihren Grundgesetzen kanonisierten Rechte dann doch weniger aus der verdrehten Logik naturrechtsphilosophischer Konstruktionen. Als Lob bürgerlicher Herrschaft sind sie so geläufig durch den Vergleich, den sie evozieren und der oft genug auch ausgedrückt wird: Unter anderen Herrschaften, die sich – „noch nicht einmal!“ – in der Weise zurückhalten, wie es der moderne Rechtsstaat westlicher Prägung – „immerhin!“ – tut, hat bzw. hatte der Mensch im Falle eines Falles noch ganz andere Formen von Übergriffen der staatlichen Gewalt zu gewärtigen als hierzulande bzw. heutzutage. Noch jeder Hinweis darauf, dass auch bürgerliche Staaten nebenbei noch etwas anderes zu tun haben, als sich zurückzuhalten, noch jede Nachfrage danach, für wen was bei dieser zivilisierten Art, Staat zu machen, eigentlich herausspringt, wird damit entsorgt, dass man doch nach drüben oder gestern schauen und sich ob der Art und Weise gruseln sollte, in der dort mit den Menschen umgesprungen wurde oder wird. Allerdings haben solche aus ideologischen Gründen vorgetragenen Vergleiche ein verräterisches Moment: Zwar soll im Ergebnis nichts als der Unterschied zwischen den beiden Seiten des Vergleichs übrig bleiben, aber auch hier bleibt deren Gemeinsamkeit allemal unterstellt – sonst gäbe es nämlich schlicht nichts zu vergleichen und schon gar nichts zu beklatschen. Um aus der Abwesenheit von Folter ein Lob zu zimmern, braucht man die Vorstellung des ‚Unvorstellbaren‘ – eben als irgendwie plausibel zu denkende Möglichkeit auch in den freiheitlichen Nationen des Abendlandes. Dass die menschenrechtlich geächteten Formen von Gewaltanwendung auch für bürgerliche Staaten Handlungs-‚Optionen‘ sind und bleiben, soll zwar mit dem interessierten Vergleich gerade bestritten werden – aber es hilft ja nichts: Das Lob der Herrschaft, die dem Menschen ausgerechnet dadurch zu seiner Naturbestimmung verhilft, dass sie sich bestimmte Formen unterdrückerischer Gewalt versagt, lebt davon, was der Mensch ‚seinem‘ Staat in dieser Hinsicht dann doch alles zutraut.

Wie wenig abseitig das ist, beweisen demokratische Rechtsstaaten immer dann, wenn sie das normale Getriebe der herrschaftlichen Verwaltung ihrer Gesellschaft gestört sehen. Dann werden sie geständig über den kein bisschen vorstaatlichen Charakter ihrer Herrschaftsprinzipien und führen schlagend vor, dass sie in normalen Zeiten genau das als Freiheitsrecht schützen, was sie von sich aus nicht vorschreiben wollen, und sich stets das verbieten, was sie wegen ihrer Raison sowieso nicht brauchen können. In den weniger normalen Zeiten, also dann, wenn die Staatsgewalt sich selbst angegriffen sieht, ist sie – gemäß den dann ausgemachten ‚Handlungszwängen‘ – so frei, die selbst geschneiderten Verfahrensweisen beim Einsatz ihres Gewaltapparates für zeitweise hinfällig zu erklären. Im Kampf gegen ihre Feinde greift die Demokratie, die sich für solche Fälle das Attribut ‚wehrhaft‘ reserviert, auch zu solchen Methoden, die sie für den normalen Gang der Dinge unbrauchbar findet. Dann kommt der Staat Gegnern, die er zu Terroristen erklärt, zur Erpressung von Informationen mit den „robusten Verhörmethoden“, die sonst „Folter“ heißen; der Umstand gesetzlicher Verfahren für Verfolgung, Gewahrsam, Prozess usw. wird zur Umständlichkeit erklärt, die die Effizienz der staatlichen Gewaltmaschinerie beeinträchtigt, und fortan wird mit den „gestrafften Verfahren“ hantiert, die man bei anderer Gelegenheit als „staatliche Willkür“ brandmarkt: Kritik gerät da ganz schnell zu Zersetzung, und schon bei Auslandseinsätzen der eigenen Truppe kommt die „Informationskontrolle“ zu Ehren, die ansonsten als menschenrechtsverletzende „Zensur“ gilt; Wahlen gelten dann auch schon mal als Risiko für den „inneren Frieden“, das man besser vermeidet, und so weiter. Verwunderlich ist das alles nicht – es ist ja bloß die andere Seite davon, dass die ‚Einhaltung der Menschenrechte‘ eben nie etwas anderes ist, als die ideologisch zur humanistischen Selbstbeschränkung aufgeblasene zweckmäßige Organisation bürgerlicher Staatsgewalt. Für die in Fällen von Staatsnotstand fälligen Friktionen zwischen dem Handeln der öffentlichen Gewalt und ihrer legitimatorischen Selbstinszenierung steht ein Heer von Rechtsberatern, Verfassungsrichtern, Staatsrechtsphilosophen und kritischen Journalisten bereit. Die halten unverdrossen an der im normalen Getriebe juristisch-verfahrensmäßig verbürgten Lüge fest, staatliche Gewalt sei durch Bindung an ein vorstaatliches Recht gefesselt, also von der Menschennatur höchstselbst legitimiert. Dann sind die gesetzlich vorgesehenen Überprüfungs-, Beschwerde- und Revisionsverfahren und Instanzen am Zuge, begleitet von einem lebhaften kritischen Diskurs der Öffentlichkeit über die Schranken und die Schranken der Schranken staatlicher Gewaltanwendung, über Werte und die Dilemmata, die sie produzieren… Wie immer die einschlägigen Richtersprüche und weisen Ratschlüsse dann lauten: In Summa bezeugen alle an diesem Zirkus Beteiligten der Ersten bis Vierten Gewalt die grundgute, menschenrechtlich zivilisierte Natur demokratischer Herrschaft, die sich zwar praktisch durch nichts fesseln lässt, aber von ihrer totalen Freiheit nur mit menschenrechtlichem Problembewusstsein Gebrauch macht.[2]

P.S. zu den sozialen Menschenrechten

Manche humanistisch gestimmten Leute vertreten mitunter die Auffassung, dass eine Verkürzung der Menschenrechte auf die grundlegenden freiheitlichen und justiziellen Schutzrechte „erster Generation“ dem Menschen nicht gerecht werde. Als Beweis dafür, wie richtig sie mit ihrem Menschenbild liegen, deuten auch sie auf den UN-Menschenrechtskatalog. Der taugt in ihren Augen doch zu mehr, als unter vollständiger Abstraktion von allen wirklichen Interessen des Menschen ihm das gattungseigene Bedürfnis nach und Recht auf eine korrekt, d.h. unter Respekt vor seiner abstrakten Willensfreiheit verfahrende Herrschaft anzudichten. Ihrer Meinung nach bietet das Menschenrecht in seiner – freilich etwas weniger prominent platzierten – Abteilung für Soziales sehr wohl den Hebel für die Verpflichtung staatlicher Gewalt auf materielle Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Menschen. Sie irren sich.

Erstens beweist der bloße Augenschein, dass die offizielle internationale Anerkennung der sogenannten sozialen Menschenrechte kein bisschen daran ändert, dass die soziale Lage der Menschen ein Abfallprodukt ihrer Einbindung in kapitalistische Geldwirtschaften und ihrer systemgemäßen Betreuung durch die Staaten bleibt, die dieses System wollen. Dessen notwendige Konsequenzen von Überarbeit für Billiglohn über Obdachlosigkeit bis hin zu massenhaftem Nahrungs- und Wassermangel, der Verbreitung quasi mittelalterlicher Seuchenszenarien u.a. sind im 21. Jahrhundert alltägliche Wirklichkeit. Insofern ist die feierliche Selbstverpflichtung der Internationale kapitalistischer Souveräne auf die sozialen Rechte ihrer Untersassen nichts weiter als ein billiger kontrafaktischer Trost. Mit einer nicht zu übersehenden Kehrseite: Zweitens bleibt nämlich von der verlogenen und unernsten Selbstverpflichtung auf soziale Mindestnormen die exklusive Zuständigkeitserklärung der staatlichen Gewalt auch für die ‚soziale Frage‘ übrig. Kein einziges soziales Menschenrecht sorgt für praktische Linderung oder gar Abschaffung auch nur einer einzigen Not. Aber jedes dieser Rechte stellt klar, dass die jeweilige staatliche Herrschaft dafür zuständig ist – zumindest in dem negativen Sinn, dass die Betroffenen daraus keinen Grund für die Kündigung ihrer Loyalität gegenüber ihrer Herrschaft machen dürfen. Deren Rolle dreht sich damit ideologisch drittens vollständig um: Noch jedem Freund menschenrechtlicher Verankerung sozialer Forderungen an den Staat könnte auffallen, dass diese Forderung die ganze ‚Gestaltungs‘-Macht des Staates unterstellt und zugleich davon absieht, dass der Staat mit dieser Macht solche Verhältnisse überhaupt einrichtet und zulässt, in denen selbst die elementarsten Grundbedürfnisse keine gesicherte Angelegenheit sind. All die schönen sozialen Menschenrechte haben die notwendigen Konsequenzen der Wirtschaftsordnung zum Gegenstand, die der Staat mit seiner monopolistischen Gewalt einrichtet – und doch soll er nicht als Urheber, sondern seine Macht als im Prinzip für alles Gute verfügbare Reparaturinstanz verstanden werden. Deren Gebrauch richtet sich aber praktisch nicht nach der Verantwortung vor ideologisch konstruierten Rechten, sondern nach ihren tatsächlichen Erfordernissen. Und zu denen gehört ein auskömmliches Leben für alle oder auch nur die Mehrzahl ihrer Bürger ein für allemal nicht, sondern das stellt sich als abhängige Variable der staatlich eingerichteten gesellschaftlichen Zwänge ein oder auch nicht.

Und darum finden sich viertens sogar westliche Staaten dazu bereit, zumindest in dem UN-Katalog auch die sozialen Menschenrechte mit zu unterschreiben. Denn gerade die verlogene Abtrennung ihres Machtgebrauchs von den ökonomischen und sozialen Folgen für die Masse der Leute lässt es allemal zu, die Überwindung dieser Folgen als Ideal auch von bürgerlicher Herrschaft auszumalen und abzunicken. Damit aber steht der minderwertige Status für diese Abteilung von Menschenrechten dem Prinzip nach fest: Als der gutgläubig-unverbindliche Wunschzettel für die materiellen Lebensverhältnisse der Leute sind die sozialen Menschenrechte von Haus aus etwas anderes als das angeblich von der Menschennatur abgeschriebene Pflichtenheft bürgerlicher Herrschaft, das sich vollständig auf deren abstrakte Prinzipien und Verfahren konzentriert. Daher lässt sich kein anständiger bürgerlicher Staat auf die Garantie von bestimmten sozialen Lebensverhältnissen als für ihn verbindlichen Maßstab verpflichten. Umso mehr blamieren sich dafür vor seinem menschenrechtlichen Blick all die Staaten, die mit Verweis auf ihre sozialen Taten und Ambitionen ihre Gewalt rechtfertigen. Sie lenken nämlich nur davon ab, dass sie die elementaren und ewigen Rechtsanforderungen an eine wahrhaft menschengemäße Herrschaft missachten. Soziale Wohltaten können aber menschenrechtliche Defizite nicht kompensieren. Und in umgekehrter Richtung stellt sich die Frage erst gar nicht.

Erfunden haben die westlichen Staaten die sozialen Kapitel im UN-Menschenrechtskatalog nicht; dafür hat es schon einen ganzen realsozialistischen Ostblock gebraucht. Dessen arbeiterfreundliche Chefs haben in der Verkündung sozialer Menschenrechte die passende Retourkutsche dafür gefunden, dass der Westen sie an den zu Menschenrechten aufgeblasenen bürgerlichen Herrschaftstechniken blamiert hat. Dass die Mächte des Freien Westens diese ideologische Gegenoffensive gut ausgehalten und schließlich nicht nur die Konkurrenz um die allgemeinverbindliche Definition der Menschennatur gewonnen haben, lag an einem sicher nicht: an den stichhaltigeren Argumenten und Forschungsergebnissen westlicher Menschenrechts-Theoretiker. Wie immer in solchen Fällen sind auch hier die siegreichen Ideologien die Ideologien der Siegreichen gewesen; dass der in der Idee vom Menschenrecht verkörperte westliche Wertehimmel heute über der ganzen Menschheit strahlt, ist das Ergebnis einer entschiedenen Gewaltfrage. Bei deren Austragung spielten die Menschenrechte wiederum eine nicht zu unterschätzende Rolle als Menschenrechtswaffe. Genauso wie sie heute mehr als einen bloß ideologischen Dienst tun, wenn die Führer der Freien Welt auf dem Rest des Globus nach dem Rechten sehen.

II. Die Delegitimation staatlicher Gewalt im Namen des Menschenrechts

Ursprung und theoretischer Gehalt der menschenrechtlichen Gattungslehre ist die Verherrlichung bürgerlicher Staatsgewalt. Praktische Verwendung findet das Menschenrecht aber hauptsächlich und nicht zu knapp in kritischer Absicht: Regierungen werden angeklagt, es zu missachten, zu verletzen, mit Füßen zu treten und dergleichen.

Dabei fällt ein erster fundamentaler Unterschied auf, der sich aus dem Adressaten des entsprechenden Vorwurfs ergibt. In gefestigten Demokratien müssen Staatsorgane sich hin und wieder Entgleisungen vorhalten lassen: Verfehlungen, die dann auch nicht bloß gegen die allerhöchsten Werte, sondern gegen das gesetzlich geregelte Procedere der öffentlichen Gewalt verstoßen und schon insofern als Missgriffe kenntlich sind, die zur ausgeübten Herrschaft nicht bloß nicht passen, sondern deren Prinzipien widersprechen und deren Einhaltung sogar von der Staatsgewalt in ihrer Eigenschaft als allerhöchstes Gericht überprüft werden darf. So transportiert in den Fällen der Vorwurf der Menschenrechtsverletzung, egal wie häufig er erhoben werden muss und wie üblich die inkriminierte Praxis ist, ein riesengroßes Kompliment an die Herrschaft, einen ziemlich grenzenlosen Vertrauensbeweis. Auch und gerade die Verurteilung bestimmter Fälle staatlicher Gewaltanwendung als Abweichung läuft so wiederum auf die Verherrlichung der Staatsgewalt selber hinaus.

Anders in Bezug auf Staaten, die – aus welchen Gründen auch immer – ihre Herrschaft nach anderen als den Regeln abwickeln, die in einem ordentlichen marktwirtschaftlichen Rechtsstaat gelten und im Menschenrechtskatalog ihre idealisierende Fassung gefunden haben. Bei denen begründet der Vorwurf der Menschenrechtsverletzung regelmäßig Vorbehalte gegen die Legitimität der amtierenden Herrschaft überhaupt; mindestens in der Form, dass durchgreifende Korrekturen der staatlichen Verfassung angemahnt werden; gerne aber auch in Form von Vorhaltungen, die den kritisierten Regierungen das Recht auf eigenmächtiges Regieren überhaupt absprechen. Die werden an der Grundidee des Menschenrechts, dem paradoxen Ideal einer ihrem Volk dienstbaren Herrschaft, gemessen, für mehr oder weniger illegitim befunden und auf einer Skala der Unerträglichkeit eingeordnet. Die Anklage ergeht im Namen festgestellter Opfer im Besonderen, die nicht mehr als Ausnahme, sondern als Regel gelten, und insofern im Namen des ganzen regierten Volkes im Allgemeinen, das letztlich insgesamt als Opfer einer nicht genehmigungsfähigen Gewalt anzusehen ist.

Ebenso auffällig und noch gewichtiger unterscheiden sich die einschlägigen Vorwürfe danach, wer sie erhebt. Dieser Unterschied pflegt allgemein als einer der Tragweite, des Grades der praktischen Wirksamkeit wahrgenommen zu werden. Das ist aber höchstens ein Moment, davon nämlich, dass je nach dem Subjekt, das sich zum Sprachrohr menschenrechtlicher Ermahnungen oder Verurteilungen macht – wirkliche politische Mächte, deren parteiliche nationale Öffentlichkeit oder die Minderheit der über die Zustände auf der Welt empörten Idealisten –, die Vorwürfe schon ihrer sachlichen Bedeutung nach höchst verschieden sind.

1. Legitimation und Mittel imperialistischer Gewalt – durch Delegitimation der Gegner

a) Offizielle Anklagen in Sachen Menschenrecht sind Richtersprüche über die (Il-)Legitimität anderer Herrschaften

Wenn Regierungen ihre Kollegen anderswo mit dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung behelligen, dann ist der politische Gehalt des Vorwurfs das Entscheidende, nicht sein besonderer Inhalt. Deswegen lacht auch keiner, schon gar nicht die angegriffene Regierung, wenn Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols beschwören, Gewalt dürfte nie und nimmer ein Mittel der Politik sein, und gegen diesen Grundsatz hätte eine Staatsführung anderswo verstoßen. Wie konstruiert und verlogen die Anklage in der Sache auch immer sein mag – die Sache, um die es geht, ist klar und eindeutig: Mit dem moralischen Vorwurf erhebt eine Regierung Einspruch gegen die Art und Weise, auf die in dem andern Staat Herrschaft ausgeübt wird; damit kündigt sie, zumindest ein Stück weit, den Respekt vor der Hoheit des fremden Souveräns, selber darüber zu entscheiden, wie er regiert; so ist die Sache von den Zuständigen gemeint, und so wird sie von den Kritisierten auch verstanden.

Dabei ist es freilich so, dass der moralische Angriff sich auf Methoden staatlicher Gewaltausübung bezieht, dafür auch gerne besondere Posten aus dem Katalog der Menschenrechte bemüht. So stellt sich die „Menschenrechtsfrage“, wenn sie von den einen Machthabern an andere gerichtet wird, mal mehr, mal weniger als Systemfrage dar – so schon zu Zeiten der Einführung der Menschenrechtsidee in den Ideologiebestand des bürgerlichen Staates; seither fungieren „die Menschenrechte“ bedarfsweise als passender Rechtstitel für den – nicht selten militanten – Anspruch kapitalistischer Demokratien auf die praktische Umgestaltung der inneren Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnisse in als rückständig eingestuften Ländern im Sinne ihrer marktwirtschaftlichen Brauchbarkeit und ihrer leichteren Lenkbarkeit von außen. Ganz besonders zur Zeit des ‚Kalten Krieges‘ der westlichen Allianz gegen den sowjetischen Ostblock hat das Menschenrecht in diesem Sinn ausgiebig Verwendung gefunden, eben weil da kommunistische Arbeiterparteien tatsächlich ein anderes System der Arbeit und der Volksversorgung und einen anderen Modus herrschaftlicher Gewaltausübung etabliert haben als jene bürgerlichen Verhältnisse, deren Prinzipien in der Menschenrechtsidee und dem entsprechenden Katalog ihre idealisierte Fassung gefunden haben. Da standen die entsprechenden Anklagen teilweise für dezidiert antisozialistische Systemkritik; freilich ohne dass dafür vom feindlichen System mehr zur Kenntnis genommen werden musste und etwas anderes zur Kenntnis genommen wurde als der ärgerliche Umstand, dass da eine halbe Welt den politischen Sitten des demokratischen Kapitalismus und den in der ‚1.Welt‘ herrschenden Interessen entzogen war und eine respektable Weltmacht sich um den Aufbau einer alternativen Weltordnung bemühte. Für die Führer der ‚freien Welt‘ und ebenso für deren Gegner im Osten bestand jedenfalls auch da schon der entscheidende politische Gehalt der „Menschenrechtsfrage“ im Einspruch gegen die Staatsmacht, die ihren Zuständigkeitsbereich mit einem „Eisernen Vorhang“ gegen den Zugriff des demokratischen Imperialismus abgeschottet und es über Jahrzehnte geschafft hat, ihre Souveränität zu behaupten.

Ein gewisses Moment von ‚Systemfrage‘ bleibt auch nach der Erledigung der wirklichen großen Systemalternative mit dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung verbunden, wenn er von westlichen Regierungen gegen fremde Herrschaften erhoben wird. Doch was auch immer zum Gegenstand eines solchen Vorwurfs gemacht wird: Die inkriminierten Verfehlungen der anderen Obrigkeit und deren zitierte Opfer haben ihre wesentliche Bedeutung darin, den Vorbehalt oder Einspruch gegen die Anerkennungswürdigkeit des fremden Souveräns kenntlich zu machen. Und das ist ein Hammer; denn das tangiert die Geschäftsgrundlage des normalen friedlichen Verkehrs zwischen souveränen Staaten. Der beruht nämlich darauf, dass die herrschenden Gewalten einander als befugte Inhaber des politischen Gewaltmonopols über Land und Leute anerkennen, nicht am andern vorbei, sondern nur über den anderen Souverän und dessen autonome Ordnungsleistungen eigene Interessen an und in der anderen Nation verfolgen. Für die Machthaber jeder Nation fällt die Anerkennung der Souveränität ihres Staates mit der Anerkennung ihrer Souveränität als rechtmäßige Vorstände ihrer Nation zusammen; alles andere verbitten sie sich als ‚Einmischung in innere Angelegenheiten‘. Eben dieses Anerkennungsverhältnis wird mit dem Vorwurf der ‚Menschenrechtsverletzung‘ in Frage gestellt. Denn mit diesem Vorwurf maßt eine Regierung sich im Namen des fremden Volkes, quasi jedes einzelnen seiner menschlichen Mitglieder, ein Urteil über die Legitimität der dort zuständigen Herrschaft an: über deren Berechtigung, im Namen ihres Volkes als Herr ihres Landes zu agieren. Wie weit sie dabei gehen will, wo die Relativierung des zwischenstaatlichen Respekts auf der Skala von „ein bisschen“ bis „fundamental“ einzuordnen ist, das ergibt sich weniger aus den gerügten Herrschaftspraktiken als aus der Art und der Härte der Rüge, die da erteilt wird; das ist Material der Außenpolitik, darauf verstehen sich die zuständigen Diplomaten.

Wenn eine Regierung ‚Menschenrechtsverletzungen‘ anprangert, dann zitiert sie also die Moral herrschaftlichen Anstands, um einen Anspruch auf Hoheit über die angeklagte Staatsgewalt und – abgestuft – gegen sie geltend zu machen. Sie beansprucht die Rolle des Anwalts einer verbindlichen internationalen Ordnung, die allen Regierenden Rechte und Pflichten zumisst. Der Verweis auf ein über allen Staaten stehendes Rechtswerk dient ihr dazu, die eigenen Interessen als allgemeingültige Rechte, d.h. als Verpflichtungen, geltend zu machen, die andere Staaten binden. Folgerichtig tritt sie dem kritisierten Regime nicht als Partei in einem Streit, sondern als entscheidungsbefugter Richter in Sachen menschenrechtlich korrekten und damit von ihr zu erlaubenden Gewaltgebrauchs gegenüber. Der so ins Visier geratene Staat ist dabei – je nach dem Inhalt der vorgetragenen Beschwerden, also dem Grad der angekündigten Unfreundlichkeiten – mal mehr Adressat von Ermahnungen, mal nur noch Objekt an ihm gewaltsam vorzunehmender Korrekturen, von dessen eventueller ‚Reue‘ und Änderungsbereitschaft nichts mehr abhängt.

Zugleich und darüber hinaus dringt eine Regierung, die gegen andere im Namen des Menschenrechts antritt, darauf, dass alle anderen Staaten ihre Richtersprüche ideell als die gültige Auslegung eines gemeinsamen humanistischen Kanons, den darin geltend gemachten Anspruch auf ein Stück oberhoheitlicher Richtlinienkompetenz tatsächlich als unabweisbare Direktive anerkennen. Sie will andere Staaten für ihre gespannten bis offen feindseligen Beziehungen zu einer auswärtigen Macht in Anspruch nehmen, im Endeffekt die ganze ‚Staatengemeinschaft‘ dafür vereinnahmen: Das ist der politische Gehalt der Menschenrechtsdiplomatie gegenüber Dritten. Verweigern sich die Angesprochenen oder demonstrieren sie zu viel Bedenklichkeit und Distanz, dann müssen sie sich womöglich fragen lassen, ob sie es mit dem gebotenen Respekt vor dem Kanon der Menschenrechte ernst genug meinen – also, im Klartext, auf freundschaftliche Beziehungen zu der Macht genügend Wert legen, die schließlich nicht zum Spaß einem andern Souverän unzulässiges Verhalten vorgeworfen hat.

b) Die Glaubwürdigkeit menschenrechtlicher Moral fällt zusammen mit der Wucht imperialistischer Gewalt, die das Menschenrecht als ihren Berufungstitel nutzt

Weil es um die Anmaßung eines Rechts auf Zurechtweisung fremder souveräner Herrschaft geht, gilt menschenrechtliche Kritik seitens amtierender Regierungen nicht bloß praktisch, im Ergebnis, sondern auch ideell, was das moralische Gewicht des kritischen Urteils zur Einordnung fremder Verfehlungen betrifft, genau so viel, wie an Fähigkeit und Wille dahinter steht, Respekt vor der offensiv geäußerten und geltend gemachten Respektlosigkeit gegen die fremde Herrschaft zu erzwingen. Heuchelei ist es zwar allemal, wenn Regierungen so tun, als könnten sie kein Blut sehen oder ein Gewerkschaftsverbot in einem fernen Land nicht länger aushalten. Aber das spielt dann keine Rolle, wenn die in dieser Form transportierte Warnung oder Drohung an die Adresse eines anderen Staates auf dessen Herrschaft und die Drittwelt Eindruck macht. Dann ist eben auch der Moralismus ernst zu nehmen, weil er mit der ernsthaften Drohung zusammenfällt; dann nützt es auch gar nichts, ihn als Heuchelei zu „entlarven“, weil die darin ausgedrückte Drohung glaubhaft genug ist. Den nötigen Eindruck macht wiederum nichts anderes als ein hinreichendes Quantum drohender Gewalt – schließlich sind Staaten nichts anderes als institutionalisierte gesellschaftliche Gewaltapparate und verstehen keine andere Sprache. Für die Glaubwürdigkeit menschenrechtlicher Delegitimation von Staat zu Staat kommt es deswegen darauf an, dass dem in dem rechtlichen Titel behaupteten und beanspruchten Status der Überlegenheit das nötige Drohpotenzial entspricht – eben weil es in Wahrheit nichts als der durch genügend Gewalt beglaubigte Anspruch auf globale Richtlinienkompetenz ist, für den das Menschenrecht als staatlicher Rechtstitel steht.

Um das zur Überwachung der internationalen Sitten nötige Drohpotenzial gebührend in Szene zu setzen und mit ihm den Schein, die Moral des Menschenrechts wäre nicht der den Stärksten vorbehaltene dienstbare Berufungstitel, sondern der wahre Auftraggeber internationaler Ordnungsgewalt, hat die moderne Völkerfamilie einen ansehnlichen institutionellen Rahmen geschaffen: Als einschlägiges Exekutivorgan des höheren Rechts gilt allen Beteiligten die UNO. Deren satzungsgemäßer Auftrag ist es tatsächlich, die Einhaltung der Menschenrechte weltweit zu befördern. Inzwischen gehört auch die nötigenfalls militärisch wahrzunehmende ‚responsibility to protect‘ zu ihren offiziell beurkundeten Aufgaben; das findet seine Fortsetzung immer öfter in internationalen Tribunalen und in Gerichtshöfen. Die vollenden den diplomatisch-rechtlichen Schein, staatliche Gewalt sei einem von allen Gewaltmonopolisten anerkannten höheren Recht unterworfen, dessen einschlägige Regelungen für alle verbindlich seien und dessen Verletzung daher zwangsläufig die angemessenen strafrechtlichen Konsequenzen seitens der ‚Staatengemeinschaft‘ und ihrer entsprechenden Institutionen nach sich ziehe. Jeder weiß aber auch, dass die UNO als Vollzugsorgan von Rechtssprüchen gegen eines ihrer souveränen Mitglieder nur so viel taugt, wie die USA und ihr westliches Bündnis sich das im Einzelfall zu ihrem Anliegen machen. Dass die Berufung aufs Menschenrecht inzwischen in der UNO und ihren entsprechenden Gremien zum Brauch geworden ist, ist nur deswegen kein schlechter Witz, weil die Macht dieses Clubs im geraden Gegensatz zu jedem egalitären Schein auf einer deutlichen Sortierung zwischen den vielen ‚vereinten nationalen‘ Gewaltmonopolisten beruht. Der Universalismus der moralischen Berufungsinstanz ‚Mensch‘, der in jedem Staat der Erde wohnt und verlangt, dass die Völkerfamilie seine Obrigkeit kontrolliert und gegebenenfalls zurechtweist, hat seine handfeste Grundlage in dem universellen Anspruch auf Bevormundung aller Souveräne im Namen einer allgemeingültigen Ordnung, der von einer zahlenmäßig sehr kleinen Staatenelite ausgeht.

Die USA haben ihre Rolle als einzig rechtmäßige und inzwischen auch einzig verbliebene Supermacht immer so definiert, dass sie von der Souveränität ihrer gewaltmäßig unterlegenen Partner, Konkurrenten und Gegner nicht mehr bedingungslos ausgehen wollen und dürfen; dass Souveränität vielmehr etwas ist, was sich die anderen verdienen müssen und zwar dadurch, dass sie sich von Amerika sagen lassen, wo ihr Platz in der Weltordnung ist, worin ihr ‚wohlverstandenes‘ Eigeninteresse besteht und was die legitimen Mittel sind, dieses zu verfolgen. Auf diese Unterordnung unter seinen Weltordnungsanspruch dringt Amerika gegenüber jedem anderen Staat; und dafür, die prinzipielle Kooperationsbereitschaft der souveränen Mitglieder der Staatenwelt zu benoten und die entsprechende Dosis Unzufriedenheit anzumelden, nutzt die US-Administration ihren periodischen Bericht zur Lage der Menschenrechte in der Welt im Allgemeinen und weltöffentliche Anklagen im Besonderen als ein diplomatisches Mittel. So bleiben auch gute Verbündete nicht von Ermahnungen verschont, wenn sie es mit ihrer partnerschaftlichen Eigenmächtigkeit und ihren weltpolitischen Konkurrenzbemühungen nach amerikanischem Ermessen übertreiben. Dann lässt die US-Regierung z.B. den Kriegsdienstverweigerer Deutschland wissen, dass amtliche Tendenzen zur Kriminalisierung einer so ehrenwerten Glaubensgemeinschaft wie Scientology durchaus das Menschenrecht auf Religionsfreiheit berühren, oder sie erinnert den Kriegstreiber Israel daran, dass sogar die Palästinenser ein Menschenrecht auf einen eigenen Staat haben. Deutlich anders ist der kritische Ton bei Staaten wie China oder Russland. Deren Regierungen müssen sich eine regelmäßige Verletzung des Menschenrechts vorhalten lassen, was die Legitimität ihrer Machtausübung schon ziemlich grundsätzlich in Frage stellt: Dubiose Wahlen, zensierte Internetinhalte, der Umgang mit der Freiheit der Schönen Künste und der Religion … – das steht hier für die ‚Besorgnis erregende‘ Regel undemokratischer Herrschaft. Der Gehalt der menschenrechtlich chiffrierten Botschaft ist denn auch keine bloße ‚Ermahnung‘, sondern ein prinzipieller Vorbehalt, den Amerika neben all dem Verkehr, den es mit diesen Mächten unterhält, geltend zu machen hat – nämlich, kurz gesagt, gegen deren Anspruch auf weltpolitische Gleichrangigkeit mit der Supermacht. Noch ganz anders sind Menschenrechtsvorwürfe zu verstehen, wenn es gegen notorische Feinde Amerikas geht, die es ja auch nicht zu knapp gab bzw. gibt: Machthabern wie den Taliban in Afghanistan, Saddam Hussein im Irak, Libyens Gaddafi oder den nordkoreanischen Kims kündigt die US-Regierung mit ihren entsprechend anschwellenden Klagegesängen ihre Entscheidung an, deren unmenschlichen Gewaltmissbrauch und damit den Bestand der Herrschaft selbst unerträglich zu finden, also zu einer Konfrontation überzugehen, die auf die Bereinigung des Störfalls der Weltordnung zielt, als die sie solche Regime definiert. Menschenrechtsdiplomatie ist in diesen Fällen Kriegs- bzw. Vorkriegsdiplomatie, die sich in dem übersichtlichen Rahmen zwischen Kapitulationsangebot und Kriegserklärung bewegt.

Inzwischen sind auch Amerikas europäische Alliierte geschult darin, sich zu weltweit agierenden Schutzmächten des Menschenrechts zu erklären. Die imperialistische Wucht der USA gilt ihnen als Vorbild, ihr Status als strategische Verbündete der USA innerhalb und außerhalb der NATO als gute Grundlage dafür, sich gegenüber dem Rest der Welt auch als Ordnungsmächte aufzuführen, die von jeder Gewaltaffäre auf dem Globus tendenziell betroffen sind, weil sie den anderen Staaten zu sagen beanspruchen, wie sie ihre Gewalt einzusetzen haben. Auch gegenüber der Führungsmacht selbst hantieren sie bei Gelegenheit diplomatisch mit dem Menschenrecht, um die Unvereinbarkeit eigener Ambitionen mit politischen Vorgaben aus Washington kenntlich zu machen. Dann haben sie z.B. ‚abweichende Einschätzungen über die Menschenrechtslage‘ in einem dritten Staat. Und bei US-Kriegen, die ihnen strategisch ganz und gar nicht passen, entdecken sie glatt, dass gewisse Methoden der amerikanischen Militärs und Geheimdienste geeignet sind, die Glaubwürdigkeit der Menschenrechts-Supermacht und überhaupt ‚des Westens‘ zu untergraben …

Wo universalistischer Rechtstitel und universeller, auf absoluter Überlegenheit gegründeter Ordnungsmachtanspruch so wunderbar zusammenpassen, da ist es kein Wunder, dass sich alle anderen Staaten nur blamieren können, wenn sie ihrerseits versuchen, das Menschenrecht gegen dessen berufene Wächter für eigene Rechts- und Geltungsansprüche in Anschlag zu bringen. Dass Versuche notorischer ‚Potentaten‘ und ‚Gewaltherrscher‘, vor der ‚Weltöffentlichkeit‘ den Spieß einfach umzudrehen, so regelmäßig ausgelacht werden oder auch, wenn westliche Diplomaten das für angezeigt halten, ‚in einem Eklat enden‘, liegt wirklich nicht daran, dass sie sich schlechter auf politmoralische Heuchelei verstehen: Ihnen geht ganz einfach die Macht ab, die ihren Ansprüchen unzweifelhaftes Gewicht verleiht und deswegen ihre moralischen Anklagen, die diese Ansprüche ins Recht setzen sollen, ernst zu nehmen gebietet. Ihr humanistisches Pathos ist unglaubwürdig, weil es weltpolitische Durchsetzungsfähigkeit auf Basis eines passenden Arsenals an Gewaltmitteln nicht ausdrückt, sondern ersetzen soll.

c) Zum praktischen Mittel wird das Menschenrecht im Umgang imperialistischer Mächte mit den Völkern – denen ihrer Gegner und dem eigenen

Die diplomatische Bedeutung, die imperialistische Staatsgewalten ihren Menschenrechtsanklagen geben, ist eine Sache. Eine andere ist die Einmischung in das Innenleben anderer Nationen, die unter dem Titel der Verantwortung für höchste Werte und der Fürsorge für unterdrückte Völker daherkommt: die Propagierung des Menschenrechts und die ideelle Delegitimierung einer fremden Regierung als Mittel dafür, bei den Objekten der weltpolitischen Aufsicht destruktiv auf das Verhältnis zwischen Oben und Unten einzuwirken.

Für die imperialistischen Aufseher über die Weltordnung stellt sich die Grundlage jeglicher staatlichen Machtentfaltung, nämlich die Loyalität des Volkes gegenüber dem Staat, als ‚wunder Punkt‘ der von ihnen für mehr oder weniger illegitim erklärten Herrschaft dar, als eine – unter etlichen – Chancen, sich wirksam ein- und die verkehrten Regimes aufzumischen. Unzufriedenheiten, die sie in dem fremden Volk entdecken oder überhaupt erst wecken, versuchen sie dafür zu funktionalisieren, das Volk seinen Herren abspenstig zu machen. Die Bürger dieses Staates sollen Beschwerden über ihre Lage nicht länger – wie es sich sonst für ein Volk gehört – in einer Weise an ihre Machthaber richten, dass damit deren universelle Zuständigkeit abgenickt ist. Mit ihrer Unzufriedenheit sollen sie gegen die Regierenden aufbegehren, gegebenenfalls erfolgende Zugeständnisse ignorieren, von allen Gründen zur Unzufriedenheit auf die Unrechtmäßigkeit ihrer Obrigkeit schließen, die ihnen ihr Recht auf gute Herrschaft verwehrt. So soll das Volk nicht bloß das von außen erfolgte Illegitimitätsurteil beglaubigen; Es soll sich als Erfüllungsgehilfe für dessen praktische Vollstreckung betätigen. Dabei wird ihm mit dem nötigen Aufwand an Propagandamitteln – von Radio- und Fernsehsendern bis hin zum offenen oder verdeckten Engagement von NGOs – geholfen. Ganze Oppositionsbewegungen werden adoptiert oder manchmal eigens aus dem Boden gestampft, ausgerüstet und zu einem Machtkampf aufgehetzt, dessen Ausgang sie dann freilich am allerwenigsten in der Hand haben. Anfallende Opfer dienen den engagierten Imperialisten als zusätzlicher Rechtstitel gegen die unliebsame Macht; die berechnend betreute Opposition soll sich davon nur in der Weise beeindrucken lassen, dass sie ihren Widerstand verschärft. Was aus dem wird, liegt wiederum nicht bei ihr, sondern ist von Beginn an und bleibend eine Frage der Berechnung, die die auswärtigen Paten mit ihr anstellen. Wenn diese, aus welchen Gründen auch immer, auf ‚Deeskalation‘ schalten, dann kann so eine Opposition zusehen, wo sie bleibt. Ihrer Rolle als überparteiliche Richter über menschenrechtsgemäße Politik in dem fremden Land werden sie eben dadurch gerecht, dass sie natürlich auch der Opposition Respekt vor ihrer Autorität als maßgebliche Menschenrechtsanwälte abverlangen und ihre ‚5. Kolonne‘ mit dem gleichen Zynismus, mit dem sie sie aufgebaut haben, auch wieder fallen lassen, wenn deren Brauchbarkeit schwindet – was regelmäßig nicht an der Opposition, sondern an den geänderten Kalkulationen mit ihr liegt. Dann stellt sich auf einmal heraus, dass auch die bedauernswerten Regimegegner keine ‚lupenreinen Demokraten nach unserem Verständnis‘ sind, und was bis eben noch als ‚Hoffnung stiftende Bewegung‘ gefeiert wurde, die das Land erfasst habe, entpuppt sich als fatale ‚Spirale aus Chaos und Gewalt‘.

Auch für den Hausgebrauch der engagierten Mächte erweist sich das Menschenrecht als nützlich. Zwar machen die befugten Amtsträger auch in der Weltpolitik, die sie für nötig halten, nichts von der Volksstimmung abhängig. Doch als demokratische Führer legen sie größten Wert darauf, nicht ‚über die Köpfe der Menschen‘ hinweg zu handeln, sondern denen beizubringen, worin die ihrer Führung im Hinblick auf das Ausland jeweils zuzustimmen haben. Dafür schätzen sie das Menschenrecht als Titel, weil der ganz pauschal alle Härten legitimiert, die sie dem Ausland gegenüber für angezeigt halten, und diejenigen, die sie deswegen ihrem eigenen Volk zumuten. Auch deswegen wird das Menschenrecht umso heftiger zitiert, je größer die Militanz ist, zu der sich die Führung gegenüber ihren Feinden entschließt. So werden dem Volk Kosten und Opfer nahe gebracht, die womöglich der Art und dem Umfang nach doch erheblich von der Sorte ziviler Beanspruchung abweichen, an die es gewöhnt ist. Wenn berechnendes Eingehen auf die Interessen eines anderen Staates für zunehmend unpassend erklärt wird; wenn zivile Umgangsformen mit ihm in der Folge peu à peu durch pure Schädigung ersetzt werden; wenn schließlich militärische Gewalt, also die Zerstörung menschlichen Lebens und materieller Lebensgrundlagen ansteht und so das in normalen Zeiten rechtlich und moralisch Verbotene von Staats wegen geboten ist; und wenn dafür auch auf der eigenen Seite Schäden an Menschenleben und Eigentum einzukalkulieren und in Kauf zu nehmen sind, dann brauchen freie Bürger eine Extraportion Moral, und zwar in ihrer ehrlichsten Form: Begeisterung für gerechte Gewalt.

Es gibt nichts, was die politische Bedeutung des Menschenrechts deutlicher charakterisiert als seine in tatkräftigen Demokratien vielfach erprobte und bewiesene überragende Eignung für diesen hohen imperialistischen Zweck.

2. Die Konstruktion öffentlicher Feindbilder

Eine demokratische Öffentlichkeit begleitet auch die Außenpolitik ihrer nationalen Führung einschließlich der von Amts wegen dazu gelieferten moralischen Interpretation engagiert und mit der gebotenen kritischen Distanz. Ihre Aufmerksamkeit richtet sie automatisch auf die Sorgeobjekte der nationalen Weltpolitik. Dabei macht sie sich über den politischen Gehalt regierungsamtlich geäußerter Menschenrechtsvorwürfe nichts vor, gibt sich gegebenenfalls sehr abgeklärt. Über alle möglichen Beweg- und Hintergründe wird informiert und spekuliert, so dass eines sicher ist: Eine solche Öffentlichkeit weiß die offiziellen Begründungen für Feindseligkeiten von dem wohl zu unterscheiden, was sie für die wirklichen Gründe hält. Das hindert sie gleichwohl nicht, sich von der Agenda des heimischen Imperialismus ihre menschenrechtlichen Aufreger vorgeben zu lassen – und schon gar nicht daran, die Sache auf den Kopf zu stellen und die Außenpolitik ihres Staates als Menschenrechtspolitik zu würdigen, nämlich kritisch zu begutachten, wie gut die Politik dem hohen humanistischen Auftrag gerecht wird, den sie für sich in Anspruch nimmt. So – nämlich kritisch – nimmt die Öffentlichkeit den schönen Schein für die Sache, um die es in Wirklichkeit geht oder eigentlich zu gehen hätte, und findet ihren Beruf darin, den Stoff entsprechend aufzubereiten: in erster Linie zu einem Feindbild, das zum amtlichen Imperialismus passt, also dem fremden Staat als dessen unmenschliche Eigenschaft zur Last legt, dass sich die nationale Politik zu einem feindseligen Verhältnis gegen ihn entschlossen hat; in zweiter Linie zu einer Einschätzung der eigenen nationalen Außenpolitik und ihres Erfolgs bei der Erledigung der schweren Aufgabe, den menschenrechtlichen Prinzipien gemäß zu handeln, ohne dabei den Nutzen fürs Vaterland aus den Augen zu verlieren.

a) Mit ihren Feindbildern macht sich die Öffentlichkeit darum verdient, moralische Abstraktionen zu konstruieren und zu veranschaulichen

Wenn die Entscheidung erst einmal getroffen ist, den Gewaltgebrauch ausländischer Machthaber als Menschenrechtsverletzung und dort stattfindende Übergriffe nicht als Ausnahme, sondern als Regel zu definieren, dann erfährt das gesamte Wirken der zuständigen Staatsgewalt eine eigenartige Interpretation. Was auch immer sie treibt, alles wird auf die eine oder andere Weise auf die erhobene Anklage bezogen und vom Standpunkt des Vorwurfs her ins rechte Licht gerückt. Dass auch ein menschenrechtlich geächteter Staat erst einmal einen Haufen andere Sachen vollbringt, als bloß seine Leute auf extravagante Weise zu schikanieren; dass es auch in so einer Nation den Machthabern darum geht, ihr Volk für sich nützlich, also produktiv zu machen; das spielt in der fälligen Länderkunde keine Rolle. „Regierung verletzt Menschenrechte“ – damit ist nicht bloß das moralische Verdikt fertig; damit weiß man auch schon, was an so einer Herrschaft und ihrem Land überhaupt eine Befassung verdient. Was gleich gar nicht zählt, ist der Umstand, dass die inkriminierte Herrschaft heutzutage zumeist in der Hauptsache damit befasst ist, den weltweit herrschenden, von der demokratischen Weltöffentlichkeit für alternativlos und insoweit unkritikabel befundenen Wirtschaftsinteressen zu entsprechen und ihr Land samt lebendem und totem Inventar dafür zurechtzumachen. Die einschlägigen Fakten sind zwar nicht unbekannt, rangieren im Lichte der Anklage aber nicht als der wesentliche oder auch nur als ein erheblicher Inhalt und schon gar nicht – wie sonst – als guter Grund für regierungsamtliche Gewaltausübung; da lässt eine menschenrechtlich versierte Öffentlichkeit, die z.B. im Falle der heimischen Terrorbekämpfung recht zwanglos über Verzichtbarkeit oder Unverzichtbarkeit von ein bisschen Folter diskutiert, auch keinen Staatsnotstand als Argument gelten. Ihre Lagebeschreibungen und ihre Bestandsaufnahmen einer verkehrten Herrschaft leitet sie mit aller Konsequenz aus deren feststehender Verurteilung ab und erstellt das Porträt einer Staatsgewalt, deren wesentlicher Zweck darin besteht und darin aufgeht, redliche und tapfere Oppositionelle zu unterdrücken.

Damit steht auch schon fest, was die investigativen Frontleute und Speerspitzen der Öffentlichkeit dann so alles berichtenswert finden und wie. Wenn die Stilisierung einer fremden Herrschaft als böse der gewusste Zweck aller Begutachtung und Beurteilung ist, dann werden wie von selbst Sachverhalte zu Beispielen dafür, die in anderem Zusammenhang für ganz anderes sprechen oder gleich gar nicht interessieren: Hungersnöte sind dann keine Folge der Ausbreitung von Wüsten oder vielleicht einer fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik, sondern stellen den Beweis dafür dar, dass der Regierung das Überleben des eigenen Volkes egal ist. Wüste Arbeitsbedingungen in Fabriken sind nicht als ‚Schattenseiten‘ eines Wirtschaftsaufschwungs abzuhaken, der vom Modernisierungsehrgeiz des Staates zeugt, sondern belegen, dass korrupte Funktionäre jenes hohe Gut nicht im Sinn haben, das in der freien Welt bekanntlich die Profitmacherei adelt: die Menschenwürde des Faktors Arbeit. Und wenn sich in solchen Fällen eventuell doch noch verständnisvolle Abwägungen zur ökonomischen Vernunft von Billiglöhnen in die Lageanalyse einmischen, dann ist für öffentliche Gutachter der globalen Menschenrechtslage der Ofen gänzlich aus, wenn eine Regierung ihrer freiheitsdurstigen Jugend eine Internet-Website verschließt oder einem Künstler seinen großen Auftritt verbietet. Da wird Leuten, die der westliche Journalist ungefragt als quasi seinesgleichen adoptiert, eine Lizenz versagt; dann erübrigt sich die Frage nach der Sache, um die es den Beteiligten und den Betroffenen geht, weil die Hauptsache klar ist: ein Fall von unberechtigtem Freiheitsentzug. So etwas disqualifiziert das ganze System noch viel entschiedener als, nur zum Beispiel, noch so viel marktwirtschaftliches Elend. So wird im Interesse eines umfassend recherchierten Feindbilds viel Disparates kommensurabel, Wichtiges von Unwichtigem zweckmäßig geschieden; wenn es der guten Sache dient, dann hilft auch schon mal eine passend erfundene Nachricht weiter. Und zu ganz großer Form läuft die westliche Öffentlichkeit dann auf, wenn sie die Entpolitisierung der Gewalttaten, die den Gegenstand ihrer Aufregung ausmachen, ins Psychologische fortsetzt und die Gewalttäter als charakterlich missgebildete Mischungen aus Witzfigur und Monster zeichnet.

Ihre Professionalität beweisen die Protagonisten demokratischer Meinungsbildung jedoch vor allem in der Kunstfertigkeit, mit der sie ihrer Lagebeschreibung die moralische Überzeugungskraft verleihen, die diese im Sinne der Anklage braucht. Der entscheidende Kunstgriff besteht hier darin, die Perspektive der Opfer, der Betroffenen des Tuns und Lassens der geächteten Staatsmacht, einzunehmen. Das geht gut, ohne über die wirklichen Betroffenen viel mehr wissen und mitteilen zu müssen, als dass es sich um Opfer handelt. Deren Status bzw. die apolitische Empathie, das mit drastischen Bildern zu weckende Mitgefühl gebieten geradezu die Abstraktion von allen sachlichen Umständen und Gründen des gezeigten Elends, von den politischen Zwecken der Täter wie der Betroffenen, stattdessen die Konzentration auf das Leiden der einen und die bösen Absichten, die Bösartigkeit der anderen. Gerade dieser Moralismus macht die gebotene politische Parteinahme unabweisbar.

Ein Attribut brauchen die Opfer allerdings schon, um in diesem Sinne als Zeugen der Anklage ihren Dienst zu tun: Unschuldig müssen sie sein – dass Staaten eine festgestellte Schuld, einen Verstoß gegen das bei ihnen geltende Recht, mit einem gewaltsamen Übergriff, mit zugefügtem Leiden in der einen oder anderen Form vergelten, ist dem menschenrechtlich denkenden Verstand dann doch nur allzu selbstverständlich. Also schreiten die Ankläger, die doch nur den leidenden Menschen im Sinn haben, mit größter Leichtigkeit zu bemerkenswerten Unterscheidungen: Ob ein getöteter oder leidender Mensch eine Uniform trägt oder nicht, stellt für die Tauglichkeit als Berufungsinstanz nach maßgeblicher Auffassung ein ebenso bedeutendes Unterscheidungsmerkmal dar wie Geschlecht und Alter. Zivilisten, Frauen, Kinder, Alte und Kranke …: Allein solche Opfer beweisen unwiderleglich die unpolitische Bösartigkeit der Machthaber und beglaubigen das Bild maß- und grundloser Gewalt, das von dem angefeindeten Staat gezeichnet wird. Finden lassen sich solche Opfer allemal; schließlich werden sie nach Maßgabe der politischen Untragbarkeit des Regimes, um dessen negatives Image die menschenrechtsbewegte Öffentlichkeit sich kümmert, im Reich der fremden Herrschaft gesucht und unter den mannigfach Betroffenen, die noch jeder staatliche Gewaltmonopolist gemäß seiner Räson und seiner Lage produziert, passend herausgesucht.

An denen will freilich noch demonstriert sein, dass es sich mit dem Suchen und Finden andersherum verhält, also nicht das Urteil über die Herrschaft die Identifizierung der passenden Opfer, sondern ein ehrliches Entsetzen über unschuldige Opfer die Verurteilung der bösen Herrschaft begründet. Das ist insofern eine eigene Aufgabe, als der bloße Augenschein zwar Material für allerlei Kritik hergibt, aber hinsichtlich der Schuld- resp. Unschuldsfrage und oft genug sogar, was den Opferstatus selbst betrifft, keine eindeutige Entscheidung mitliefert: Ob Protestierende, die eingekerkert oder gleich auf der Straße zusammengeknüppelt oder -geschossen werden, unschuldige Opfer oder Aufwiegler sind, die Chaos und Gewalt provozieren wollen; ob es sich bei Uniformierten womöglich nicht um ‚Schergen‘, sondern um zum Dienst an einem fanatischen und aussichtslosen Überlebenskampf des Regimes gezwungene ‚junge Männer, fast noch Halbwüchsige‘ handelt, die man als ‚Kanonenfutter‘ bedauern muss; ob Zivilisten wirklich solche sind oder bloß keine Uniform tragen; … – das ermittelt niemand mit noch so viel scharfem Hingucken. Auf der Bilderebene jedenfalls kann eine staatliche Propagandaabteilung allemal gegenhalten, die Beweisstücke ihrer Ankläger als Fälschung zurückweisen und eigene Gräuelgeschichten von ihren Gegnern erzählen. Und eben weil es nicht um Argumente, sondern um die moralische Überzeugungskraft interpretierter Bilder geht, weil es im Sinne des Scheins überparteilicher Wahrheitsfindung darum aber auch gehen soll, stören Gegenbeispiele das feststehende Urteil, das sich bestätigt sehen will, müssen also ihrerseits als Schwindel enttarnt werden. Noch dümmer ist die Entlarvung eigener Bildzeugnisse als Fälschung... So hat die Öffentlichkeit an der Front der Glaubwürdigkeit ihrer Anklagen einiges zu tun – und sie weiß auch gleich, was. Entscheidend für die Überzeugungskraft eines Feindbilds, das Äquivalent für Objektivität und Richtigkeit eines Urteils beim moralischen Verurteilen, ist die Authentizität des beigebrachten Zeugnisses: der Nachweis, „ganz nah dran“ gewesen zu sein am bösen Geschehen, im Besitz leibhaftiger Betroffener; und am allerbesten mit einem eigenen Reporter vor Ort. Der verbürgt als verlängertes Auge und Ohr der aufrichtig und zutiefst Besorgten die Richtigkeit der Schilderungen und Bildaufnahmen und damit die Gültigkeit all dessen, wofür sie stehen. Umso mehr taugt er dafür, wenn er selber zum berichtenswerten Faktum wird. Dann beweisen die wüsten Umstände seiner ‚Recherchearbeit‘, vor allem, wenn das Regime sie ihm bewusst bereitet, wie goldrichtig die Feindschaft ist, die er damit zur moralischen Verpflichtung aller Wohlmeinenden erklärt. Parallel dazu befreit sich die Öffentlichkeit, der es um nichts so sehr geht wie um authentische Zeugnisse, von dem Zwang, dafür auch echte zu bekommen, indem sie die Frage von Echtheit oder Fälschung, Verlässlichkeit oder Unzuverlässigkeit der Zeugen, Bilder und Gewährsleute ausführlich problematisiert. Auf dieser aufgesetzten Ebene garantiert das Problembewusstsein die moralische Lauterkeit des Rechercheurs, die auch in dieser methodisch verwandelten Form umstandslos mit der Gültigkeit seiner Richtersprüche über die angeprangerte Herrschaft zusammenfallen soll.

b) Die Öffentlichkeit problematisiert Glaubwürdigkeit und Grenzen der imperialistischen Moral ihrer Nation

In letzter Instanz gilt freilich auch für die menschenrechtlichen Anklagen, die die freie Öffentlichkeit in Form bildgewaltiger Sittenschilderungen aus den diversen Brutstätten des politisch Bösen präsentiert: So richtig glaubwürdig sind sie dann, wenn, und in dem Maße, wie sie in praktischer Hinsicht ernst zu nehmen sind, sich also im Endeffekt mit den Vorbehalten und Feindschaftserklärungen der wirklich maßgeblichen Mächte decken. Das sichert ihnen nicht nur den Anschein praktischer Relevanz, sondern verbürgt zugleich die Stichhaltigkeit des moralischen Standpunkts, von dem aus die einschlägigen Verurteilungen ergehen: dass es sich da um mehr als eine idealistische Privatmeinung, nämlich um eine gültige Lagebestimmung handelt. Auch dieses eindeutige Verhältnis interpretiert eine selbstbewusste freie Öffentlichkeit freilich genau andersherum: Sie nimmt es sich heraus, ihre Analysen als Auftragslage für die Politik zu werten und die zuständigen Staatsgewalten daraufhin zu überprüfen, ob die in ihrer Weltpolitik die Imperative des Menschenrechts befolgen, indem sie dem entsprechenden Katalog zur Durchsetzung verhelfen. Ihr erklärtes Sorgeobjekt ist dabei weniger das Weltgeschehen als solches, vielmehr die Glaubwürdigkeit der Politik, die sich aufs Menschenrecht beruft und auch dann, wenn sie das nicht tut, von dessen öffentlichen Anwälten daran gemessen wird. Ein interessantes Quidproquo und ein bemerkenswertes Eingeständnis sind in diesem Kriterium enthalten: Es ist ihr eigenes Glaubwürdigkeitsproblem, das die Öffentlichkeit damit erstens der Politik anhängt – das ist das Quidproquo – und das sie zweitens von der Politik durch entsprechenden Einsatz aus der Welt geschafft sehen will – darin liegt ein gewisses Eingeständnis, dass ihr eigenes menschenrechtliches Engagement nur so viel wert ist wie die Macht, die sich in diesem Sinne betätigt. Dass das Menschenrecht tatsächlich nichts anderes ist als der Berufungstitel staatlicher Gewalten, die sich für die Weltordnung zuständig wissen, ist damit zwar nicht konzediert und schon gar nicht eingesehen. Aber das ist der kritischen Öffentlichkeit schon klar, dass der Einsatz fürs Menschenrecht überhaupt nichts taugt ohne eine Gewaltinstanz, die weltherrschaftlich aufzutreten vermag und sich dafür des Menschenrechts als ihres moralischen Titels bedient.

Aus dieser Gleichung von menschenrechtlicher Tugend und imperialistischer Durchsetzungsfähigkeit folgen einige Schärfungen, Differenzierungen und Relativierungen des moralischen Imperativs, an dem die westliche Öffentlichkeit ihre Machthaber zu messen pflegt.

Auf der einen Seite geraten alle wirklichen imperialistischen Berechnungen ganz grundsätzlich unter den Dauervorbehalt, die Entschiedenheit zu verwässern, mit der die Außenpolitiker nach unbescheidener öffentlicher Auffassung ihre auswärtigen Amtskollegen in Sachen Menschenrecht zurechtweisen, bei denen auf Korrektur ihrer Herrschaftsmethoden bestehen oder diese Korrektur gleich selbst in die Hand nehmen sollten. So bleibt es nicht aus, dass eine nationale Öffentlichkeit, die sich am Menschenrecht betrunken hat, mit der eigenen Regierung unzufrieden wird: Die Freiheit der Regierung in der Verwendung des Menschenrechts für ihre imperialistischen Vorhaben nimmt sie als Bedingtheit, sogar als Unernsthaftigkeit oder Unehrlichkeit der amtierenden Außenpolitiker bei der Verwirklichung des hohen Auftrages wahr, über den sie sich mit ihnen ungebrochen einig weiß. Wenn staatlichen Verurteilungen einer fremden Staatsmacht nicht oder nicht gleich das folgt, was aus der Perspektive der menschenrechtlich aufgehetzten Öffentlichkeit doch wohl fällig wäre, dann können deren Frontkämpfer unangenehm werden. Ausgerechnet die Inhaber politischer und militärischer Ränge, deren Beruf in nichts anderem besteht als im freien Gebrauch der nationalen Gewaltmittel, zu dem sie ermächtigt worden sind, müssen sich dann scharf befragen lassen, wozu man sie eigentlich ermächtigt hat. Der Vorwurf der Leisetreterei steht immerzu im Raum. Und in gewissen Sternstunden des freiheitlichen Journalismus kommt es dahin, dass Politiker nicht Kriege begründen müssen, die sie führen, sondern sich für solche Kriege rechtfertigen müssen, die sie unterlassen.

Die praktischen Belange der Macht, die gefälligst für Ordnung auf dem Globus sorgen soll, verliert eine meinungsstarke pluralistische Öffentlichkeit auf der anderen Seite auch nicht aus den Augen; zumindest nicht die Tatsache, dass es solche Belange gibt, dass die Macht der eigenen Nation irgendwie von deren Erfüllung abhängt, und dass diesem Ziel mit menschenrechtlichem Moralismus durchaus nicht immer gedient ist. Ohne von der gebieterischen Forderung nach einer Weltpolitik im Geiste des Menschenrechts abzurücken, ganz der diesbezüglichen Heuchelei und der Sorge um deren Glaubwürdigkeit verpflichtet, erinnern die Vertreter des weltpolitischen Realismus daran, dass eine Regierung daneben auch und sogar zuerst ihrem eigenen Volk zu Diensten verpflichtet ist und nicht dazu, sich ums Wohlergehen fremder Völker zu kümmern: Sobald Weltpolitik was kostet, ist der Einsatz fürs Menschenrecht auf einmal nicht mehr oberste Imperialistenpflicht, sondern eine Last, die der eigenen nationalen Manövriermasse nur zugemutet werden darf, wenn dabei materielle nationale Kalkulationen, welche auch immer, aufgehen – da müssen dann z.B. im Verkehr der BRD mit der VR China neben den Menschenrechten des göttlichen Lama auch die Interessen von VW zu ihrem Recht kommen und gegenüber dem russischen Antidemokraten Putin außer der Kunstfreiheit für Pussy Riot auch die Chancen einer strategischen Energie-Allianz. Das menschenrechtliche Ethos demokratischer Weltpolitik muss sich insofern durchaus eine gewisse Relativierung gefallen lassen. Unter einem höheren, nicht bloß eng nationalen Gesichtspunkt ist auch das allerdings durchaus zu rechtfertigen; mit einem Verweis nämlich, der mit Bescheidenheit nichts zu tun hat, aber auch nicht nur geheuchelt sein muss, auf die Schranken selbst der größten nationalen Macht, die überfordert wäre, wollte oder sollte sie sich „dauernd und überall“ um „jedes menschliche Elend“ kümmern und „immerzu weltweit“ gegen regierende Missetäter vorgehen...

Auch das kommt schließlich vor, dass die Grenzen imperialistischer Macht nicht bloß heuchlerisch beschworen, sondern bei Großeinsätzen, die von ihren Veranstaltern in aller Form der globalen Durchsetzung des Menschenrechts gewidmet werden, tatsächlich erreicht werden. So sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts die menschenrechtlich begründeten Kreuzzüge eines ganzen Jahrzehnts das im Westen erwartete Ergebnis schuldig geblieben, werden offiziell als unproduktiv bis schädlich bilanziert. Und prompt entdeckt eine gebildete Öffentlichkeit an dem moralischen Maßstab, mit dem man die ganze Welt traktiert hat und ungerührt weiter traktiert, innere Grenzen: Vielleicht ist die unter den Staaten und Völkern dauerhaft ausbleibende Dankbarkeit für die jahrelange Beglückung mit Marschflugkörpern und Bodenkriegen ja dadurch zu erklären, dass unser gut gemeintes westliches Verständnis von Menschenrecht und Menschennatur doch weniger universell als vielmehr kulturspezifisch ist?

3. Leitfaden falscher Kritik

Keine Frage: Mit dem Mainstream einer Öffentlichkeit, die sich in der Regel genau so lange um das Elend eines Volkes kümmert, wie ihre Regierung eine mehr oder wenige herzliche Feindschaft zu dessen Staatsmacht pflegt, wollen menschenrechtlich engagierte Kritiker der Lebensverhältnisse in anderen Staaten und einschlägig eingemischte humanitäre Vereine nichts zu tun haben. Sie stören sich an der Not von Leuten auch dann, wenn die nationale Agenda daraus keinen Einmischungstitel konstruiert, und oft genug wissen sie, dass die guten Beziehungen westlicher Staaten zu Regimes, die auch nicht gerade demokratisch regieren, nicht auf Unkenntnis der Zuständigen hier über die ‚Menschenrechtslage‘ dort fußen. Ihr Vorwurf ‚Menschenrechtsverletzer!‘ will keine Entschuldigungen dafür gelten lassen, dass die staatliche Herrschaft durch irgendwelche Umstände oder nationale Notlagen dazu gezwungen würde, so schäbig mit den Leuten umzugehen, wie sie es tut. Was sie für Menschenrechtsverletzungen halten, klagen sie auch dann an, wenn es in ihrer eigenen oder einer mit ihr verbündeten Nation passiert; Parteilichkeit lassen sie sich nicht nachsagen. Und dass – egal welche – ausgerechnet eine Herrschaft für die beklagten Zustände gar nichts könne, lassen solche Kritiker erst recht nicht gelten: Sie nehmen Staaten als die hoheitlichen Setzer aller Lebensverhältnisse ins Visier; aber wie sie das tun, ist ärgerlich.

Auch diese Kritiker staatlicher Machenschaften finden nichts dabei, ausgerechnet der Herrschaft, die sie als Urheber von Elend und Gemeinheit ausgemacht haben, Verstöße anzukreiden: gegen Normen, denen sie eigentlich zu genügen, gegen Aufgaben, die sie eigentlich zu erfüllen hätte. Damit ersparen sie sich jeden Blick auf die Aufgaben, die ein staatlicher Gewaltmonopolist in der heutigen Welt sich wirklich stellt, wie auf die Kriterien, denen er sich dabei tatsächlich verpflichtet weiß und zu genügen sucht – was übrigens beides für kritisch-distanzierte Beurteiler des Weltgeschehens wirklich nicht schwer zu ermitteln ist. Für jede Staatsgewalt, die unter ihresgleichen ernst genommen werden will, steht die Sicherung ihres Gewaltmonopols an erster Stelle ihrer Dienstpflichten, und das umso entschiedener, je wackliger ihre Grundlage in den loyalen Diensten ihrer Bürger ist; zum Inhalt hat diese monopolisierte Gewalt allemal die Indienstnahme ihres Volkes für die Mehrung des Reichtums, auf den sie zugreift, um ihr eigenes flächendeckendes Funktionieren sicherzustellen; nach Maßgabe der herrschenden Weltordnung beglückt sie ihre Bürger deswegen mit der schönen Alternative, sich in diesem Sinne in wettbewerbsfähiger Weise marktwirtschaftlich nützlich zu machen oder absolute Verelendung zu erdulden, was beides ein den lokalen Umständen und landesüblichen Sitten entsprechendes Maß an Unterdrückung erfordert... Statt dieser Zwecke haben Freunde und Verteidiger des Menschenrechts auf gute Behandlung durch Vorgesetzte ein Bild von Herrschaft vor Augen, das die Stifter der weltweit und jeweils vor Ort herrschenden Existenzbedingungen als Dienstleister für deren Bewältigung zeichnet und die Gewalt, die alle Erdenbürger zu funktionsgerechter Unterordnung zwingt, als öffentlichen Ordnungsdienst am Kunden ‚Bürger‘. Die Realität, die ihrem Ideal Hohn spricht, interpretieren sie als Abweichung, die die vorgestellte Regel bestätigt und deswegen als Pflichtverletzung zu kritisieren ist.

Was sie in diesem Sinne zu kritisieren haben, ist – angesichts der tatsächlichen Wirkungen des weltumspannenden Regimes politischer Gewaltmonopolisten – nicht viel. An ihrer heimischen Obrigkeit finden die im demokratisch-imperialistischen Reich der Freiheit eingehausten Menschenrechtler nur ganz ausnahmsweise einen Verstoß zu rügen – am Alltag eines reibungs- und widerstandslos funktionierenden Herrschafts- und Kontrollsystems mit all den unnachsichtig durchgesetzten „Sachzwängen“, von denen die bürgerliche Privatperson in ihren freien Berechnungen als selbstverständlicher Voraussetzung ausgeht, können sie keinerlei Zwang, nur gelebte Harmlosigkeit und Dienstbereitschaft der öffentlichen Hand entdecken. Die äußerste Kritik, die sie an der eigenen Herrschaft allenfalls üben, besteht in der Beschwerde, dass die es Flüchtlingen und anderen Zuwanderern zu schwer macht, sich in diese Idylle zu integrieren. Damit verfügen sie auch schon über den praktischen Beweis, dass Herrschaft nicht bloß ganz anders funktionieren kann als in den Fällen, über die sie erschrecken, sondern dass das, woran sie sich gewöhnt haben, auch der verbindliche Normalfall sei, an dem auswärtige ‚Menschenrechtsverletzer‘ sich als solche blamieren. An denen kritisieren sie dementsprechend alles Mögliche – aber nie die Leistung, die die inkriminierten Regierungen mit ihrem angestrengten Bemühen, sich neben den etablierten Mächten als zurechnungsfähige Verwalter eines brauchbaren Kapitalstandorts zu behaupten, in ihrem Herrschaftsbereich erbringen, sondern Defizite: eklatante oder auch weniger eklatante Abweichungen von den politischen Verhältnissen, die sie kennen und als gegebene Realitäten anerkennen. Gewalt entdecken sie da, wo ihre eigene Obrigkeit sie gewöhnlich nicht braucht – und damit gleich unter dem Gesichtspunkt, dass es sie dort eigentlich überhaupt nicht bräuchte. Noch die erbittertsten menschenrechtlichen Anklagen zehren von der Vorstellung, die beklagten ‚Exzesse‘ staatlicher Gewalt müssten doch nicht sein. Und gerne trägt sich diese moralische Verurteilung sogar als sachliche Diagnose vor, die die übergriffige Herrschaft zu ihrem eigenen Vorteil beherzigen sollte: Ein Gewaltgebrauch, den das Menschenrecht ächtet, müsste auch vom Standpunkt derer, die damit das Menschenrecht verletzen, wirklich nicht sein, wäre sogar für deren eigene Sache kontraproduktiv... Kritik an staatlicher Gewaltausübung im Namen des Menschenrechts ist eben tatsächlich ein Plädoyer für eine rundherum akzeptierte Herrschaft und hat deswegen kein Problem damit, sich als Empfehlung an die Herrschenden vorzutragen.

Die Parteinahme für die Opfer von ‚Menschenrechtsverletzungen‘ fällt entsprechend aus. Leuten, die staatliche Gewalt und gewaltsam hergestelltes Elend als Verstoß interpretieren, die immer, wenn ein Mensch verletzt wird, sich für das verletzte Menschenrecht interessieren, reicht das geschädigte Interesse einfach nicht als Grund für einen Einspruch – der dann freilich unweigerlich den wirklichen Interessengegensatz zwischen Herrschaft und regierten Untertanen klarstellen und angreifen müsste. Das ‚Thema‘ ist mit der Diagnose ‚Menschenrechtsverletzung‘ gleich mit erledigt, weil da von vornherein nichts weiter geltend gemacht wird als ein abstrakter Rechtstitel: an Stelle des Interesses, das die Geschädigten haben, die Idee eines Anrechts, das ihnen zustände, nämlich auf wohltuendes Regiert-Werden. Diesen Status staatsbürgerlicher Ohnmacht stellt das Plädoyer für eine am Menschenrecht orientierte pflegliche Behandlung des Volkes nicht nur nicht in Frage, es operiert theoretisch mit dem ganz selbstverständlich anerkannten Verhältnis zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ als moralischer Verpflichtung der Regierenden. Mit der anklagenden Diagnose, die auf Missbrauch der klaren und völlig einsichtigen ‚Arbeitsteilung‘ zwischen Regierenden und Regierten durch amtierende Machthaber lautet, sind die Schützlinge empörter Menschenrechtsanwälte freilich nicht einfach einer Idee, sondern ideell einer Instanz überantwortet, die für sie eintritt – im doppelten Sinn des Wortes: zu ihren Gunsten und an ihrer Stelle. Diese Instanz sind zuallererst die Ankläger selbst, die gar nicht auf die Idee kommen, sich selbst als die betroffene Manövriermasse eben der globalen Herrschaftsordnung zu erkennen, die so oft so grelle Formen annimmt; die deswegen auch gar nicht darauf verfallen, gegen dieses Regime und dessen in den demokratischen Metropolen amtierende Hauptverantwortliche einen Aufstand anzuzetteln oder auch nur zu erwägen, wie der teilweise verbündeten, teilweise verfeindeten, auf alle Fälle erbittert konkurrierenden Internationale regierender Gewaltmonopolisten das Handwerk zu legen wäre. Viel lieber begeben sie sich in die Position der moralisch betroffenen Mitverantwortlichen dieser ‚Weltordnung‘ und verstehen sich eben als eine erste Instanz, die dazu berufen wäre, Missstände zu bekämpfen. Und das – auch das nur konsequent – in erster Linie mit Appellen an die wirklich herrschenden Instanzen, beim Regieren, das ihnen im Prinzip ja niemand bestreiten will, den Kodex des Menschenrechts zu beachten.

Dieser Appell fällt ebenso selbstbewusst wie bescheiden aus, wo er Fälle – allemal Ausnahmefälle – im eigenen Land betrifft und an dessen Verantwortliche ergeht: Da wird er beschieden und lässt sich Bescheid erteilen mit dem Verweis auf den Rechtsweg, der in einem ordentlichen Rechtsstaat allen Rechtssubjekten offensteht; und indem der beschritten wird, münden alle Anklagen ein in die Unterwerfung unter das Stück Selbstkontrolle, das eine auf Funktionalität erpichte bürgerliche Herrschaft in ihr Regime einzubauen pflegt. Ausländischen ‚Menschenrechtsverletzern‘ schreiben Verteidiger des Menschenrechts erst einmal höfliche offene Briefe, die die Zuständigkeit der regierenden Schergen explizit anerkennen, und setzen darauf, dass sie damit Druck ausüben, weil einer Regierung doch an ihrem guten Ruf in der Weltöffentlichkeit gelegen sein müsste. Dass sie damit äußerstenfalls das Kalkül der herrschenden Mannschaft anstacheln, die Sicherung ihrer Macht mit sorgfältig inszenierter Heuchelei zu begleiten, macht ihnen ebenso wenig aus wie die Tatsache, dass ihnen auch im Falle eines Erfolgs ihrer Intervention die Fälle nicht ausgehen. Wenn aus menschenrechtlicher Empörung mehr und Wirksameres werden soll als ein Gesuch an die ausgemachten Täter, dann wird die ideelle Instanz weltweiter Herrschaftsverbesserung zielsicher wieder bei den Instanzen vorstellig, denen sie einerseits ganz realistisch die reale Macht zutraut, fremde Regierungen effektiv zurechtzuweisen, die sie andererseits aber überhaupt nicht für den globalen Gewalthaushalt haftbar machen will, der offensichtlich für so manchen Gewalt-‚Exzess‘ nicht bloß Raum lässt, sondern Gründe schafft und Bedarf stiftet. Wenn sie damit ein positives Echo finden, womöglich sogar einen offiziellen Auftrag zur Überwachung der Einhaltung irgendeines Menschenrechts in irgendeinem Erdenwinkel zugeteilt bekommen oder Freibrief und Mittel zur Aufwiegelung unzufriedener Bevölkerungsteile gegen eine Obrigkeit, die bei den maßgeblichen Imperialisten in Ungnade gefallen ist, dann stören sich organisierte Menschenrechtsaktivisten daher auch gar nicht weiter an den weltpolitischen Berechnungen, denen sie sich dienstbar machen: Die Illusion, es wäre in Wahrheit umgekehrt, sie hätten es geschafft, imperialistische Kalkulationen für ihren Einsatz fürs Menschenrecht zu funktionalisieren, geben sie auch dann nicht auf, wenn das real praktizierte Interesse der Mächtigen ihre wohlmeinenden Initiativen so beendet, wie es ihnen Raum gegeben hat oder wenn es sie sogar dauernd zugleich durchkreuzt.

Verdächtig kommt es den Idealisten des Menschenrechts jedenfalls nicht vor, wenn sie bei den Staatsgewalten, die die Welt tatsächlich ihrem Konkurrenzregime unterwerfen und sich gerne auch noch zum Vormund der Völkerfamilie erklären, aber mit den wüsten Konsequenzen ihres Regimes in gewissen Weltgegenden nichts zu tun haben wollen, wohl gelitten sind. Sie nehmen sich die Freiheit, solch wohlfeiler Anerkennung die Bestätigung ihres Glaubens zu entnehmen, für das Anrecht der Menschheit auf gutes Regiertwerden hätten sie einen Imperativ auf ihrer Seite, dem die mächtigsten der Weltmächte Tribut zollen müssen. Wenn sie es allerdings mit dieser Illusion zu weit treiben und den Verantwortlichen mit ihren Vorstellungen von einer besseren Welt allzu penetrant auf die Nerven fallen, dann fangen sie sich von denen und vor allem von den Sachwaltern der publizistischen Vorwärtsverteidigung der nationalen Interessenlage – und ganz nebenbei auch von einem Publikum, das sich die Anspruchshaltung seiner Regierenden zueigen gemacht und an den Zynismus der Politik wie der politischen Sprachregelungen gewöhnt hat – auch schon mal eine Abfuhr ein. Dann müssen sie sich mit ihren schönen, von Festrednern der Politik immer wieder gerne beschworenen Idealen und Idealismen Weltfremdheit vorwerfen lassen; dass sie gute Menschen sein und die Welt ein wenig verbessern wollen, wird zu Etiketten, die ihr frommes Tun lächerlich machen. Solchen Reaktionen seitens der Macht und des Mainstream ist durchaus der Stellenwert zu entnehmen, der einem so grundanständigen Wunsch nach mehr Anstand in der Welt der Herrschaft tatsächlich bloß zukommt, und welche Bedeutung ihm allenfalls zugebilligt wird: Idealistischer Einsatz fürs Menschenrecht darf und soll sich betätigen als das schlechte Gewissen, das die Herrschenden an dem moralischen Schein ihrer Herrschaft misst, sie eventuell sogar daran erinnert; er hat sich aber dann auch zu bewähren als das gute Gewissen der Macht, die für die herrschende ‚Weltordnung‘ sorgt und hinsichtlich der allfälligen Entgleisungen als hilfreiche Korrekturinstanz respektiert werden will.

Dabei ist es wahrhaftig nicht so, dass die zuständigen Machthaber für ihr gutes Gewissen und das freche Selbstlob ihrer Herrschaft auf freischaffende Menschenrechtsidealisten angewiesen wären. Wenn letztere sich entschließen, neben all dem andern, was sie als Manövriermasse ihrer staatlichen Standortverwaltung sonst noch so zu tun haben, mehr Moral im Weltgeschehen zu befürworten und sich für die Rechtfertigung ihres Antrags aufs Menschenrecht zu berufen, dann verändern sie an der Welt, wenn überhaupt etwas, nur eins: sich selbst, ihre Einstellung zum Weltgeschehen.

Und auch die nicht zum Besseren.

[1] Dieses und die folgenden Beispiele sind der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948 entnommen.

[2] Bezüglich brutaler Behandlungsmethoden gefangener Gegner wurde da vor allem zu Beginn des amerikanisch angeführten war on terror einiges aufgeboten: von der Auslagerung der antiterroristischen Folterkeller in Staaten, die man ansonsten wegen solcher Praktiken verurteilt, bis hin zu angeregten Diskussionen der Frage, wie die Grenze zwischen ‚verschärftem Verhör‘ und ‚Folter‘ eigentlich zu definieren sei und ob sie mit waterboarding – mit oder ohne Anwesenheit von zusätzlichen Sachverständigen – gerade noch eingehalten oder doch schon überschritten werde.