Heinz Dieterichs „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (2) Die Lehre aus dem gescheiterten Realsozialismus
Radikale Anweisungen an die lateinamerikanischen Linksregierungen für einen staatlichen Aufstieg mit zukunftsweisender Perspektive

Heinz Dieterich gibt sich nicht damit zufrieden, mit seiner programmatischen Abhandlung über einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der den Kapitalismus sowohl hinsichtlich ‚Effektivität‘ alt aussehen lässt wie auch endlich ‚Leistungsgerechtigkeit‘ stiftet, der linken Hoffnung auf Weltverbesserung eine neue Zukunftsperspektive zu eröffnen. Als engagierter und gelehrter Weltverbesserer will er nicht bloß die welthistorisch fällige Überwindung des Kapitalismus und das utopische Bild einer unaufhaltsam im Werden begriffenen ‚neuen Gesellschaft‘ ausmalen, er will auch den praktischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika die Richtung vorgeben, die seiner Meinung nach den weltgeschichtlich verbürgten Fortschritt Realität werden lässt. Als kritischer Berater und wissenschaftlicher Mentor lateinamerikanischer Linksregierungen mischt er sich deswegen im Bewusstsein seiner universellen Fortschrittsmission be- und verurteilend in die praktischen Auseinandersetzungen von Ländern wie Venezuela, Bolivien und Kuba ein.

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Heinz Dieterichs „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (2) Die Lehre aus dem gescheiterten Realsozialismus
Radikale Anweisungen an die lateinamerikanischen Linksregierungen für einen staatlichen Aufstieg mit zukunftsweisender Perspektive

Heinz Dieterich gibt sich nicht damit zufrieden, mit seiner programmatischen Abhandlung über einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der den Kapitalismus sowohl hinsichtlich ‚Effektivität‘ alt aussehen lässt wie auch endlich ‚Leistungsgerechtigkeit‘ stiftet, der linken Hoffnung auf Weltverbesserung eine neue Zukunftsperspektive zu eröffnen.[1] Als engagierter und gelehrter Weltverbesserer will er nicht bloß die welthistorisch fällige Überwindung des Kapitalismus und das utopische Bild einer unaufhaltsam im Werden begriffenen ‚neuen Gesellschaft‘ ausmalen, er will auch den praktischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika die Richtung vorgeben, die seiner Meinung nach den weltgeschichtlich verbürgten Fortschritt Realität werden lässt. Als kritischer Berater und wissenschaftlicher Mentor lateinamerikanischer Linksregierungen mischt er sich deswegen im Bewusstsein seiner universellen Fortschrittsmission be- und verurteilend in die praktischen Auseinandersetzungen von Ländern wie Venezuela, Bolivien und Kuba ein.

Für Dieterich ist die möglichst realistische Ausmalung seiner Hoffnung stiftenden Zukunftsvision und die Beteuerung, wie unaufhaltsam der Fortschritt dorthin im Prinzip schon auf dem Wege sei, eine Sache; eine andere Sache sind die Begutachtungen der tatsächlichen politischen Gegebenheiten in Lateinamerika sowie Mahnungen und Ratschläge an die Adresse interessierter dortiger linker Politiker. Denn dass die real existierende Welt wenig Neigung zeigt, den „Sozialismus“, wie er ihn versteht, auf die Tagesordnung zu setzen; dass linke lateinamerikanische Regierungen, die schon um die Macht zu kämpfen haben, wenn sie gerade einmal für mehr Volksbildung und Volksgesundheit sowie für eine Grundversorgung ihrer Bevölkerung sorgen wollen, vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ noch sehr weit entfernt sind; dass die paar politischen Bewegungen, die über ungerechten Handel, erpresserische Kreditauflagen des IWF, Ausverkauf nationaler Ressourcen, skandalöse Bereicherung einheimischer Eliten und Marginalisierung der Volksmassen Klage führen, die Macht- und Reichtumsverhältnisse auf dem Globus noch lange nicht in Frage stellen, geschweige denn umstürzen: das alles ist Dieterich bewusst, stört ihn aber nicht. Der Mann denkt in weiträumigen welthistorischen Entwicklungsschritten; die denkt er als gesetzmäßige Abfolge von Gesellschaftsmodellen; und damit findet er sich in den imperialistischen Kräfteverhältnissen und deren Verschiebungen in den letzten Jahrzehnten ganz gut zurecht.

Dieterichs sozialistisches Etappenmodell: Nationalkapitalistische Entwicklung!

Für die Auskunft, wie Sozialismus keinesfalls und wie nur geht, braucht Dieterich gar keines seiner Zukunftsideale zu bemühen; das lehrt ihn das Ende des Ostblocks:

„Die strukturelle Überholtheit des Modells, die sich Mitte der achtziger Jahre zu manifestieren begann, betraf zwei Bereiche: Ökonomisch äußerte sie sich in Parametern wie: obsolete Technologie; enormer Rückstand in der Informatik, dem Transportwesen und der Infrastruktur; Ineffizienz der Industrie; wachsende Auslandsschuld; und unproduktive Agrikultur. In der Politik blockierten die exzessive Zentralisation der Macht und das Fehlen von demokratischer Partizipation der Bevölkerung jeglichen Mechanismus der Innovation von unten. Mit diesem Fehlen von demokratischer Partizipation verlor das System seine Anpassungsfähigkeit, was konsequenterweise bei der Mehrheit der Staaten des historischen Sozialismus zum Kollaps führte.“ (www.rebelion.org, 6.4.2008)

Als Beweis der strukturellen Überholtheit des schon mal real gewesenen Sozialismus führt Dieterich hier lauter Errungenschaften, Waffen und Standards des Konkurrenzkampfs ins Feld, den die kapitalistischen Unternehmen und die führenden Weltmarktmächte, die sie beheimaten und fördern, sich wechselseitig und dem Rest der Welt liefern: Maß nimmt Dieterich hier an einem technologischen Fortschritt, der ganz darauf abgestellt ist, die Rentabilität der Arbeit zu steigern, Kosten, also bezahlte Arbeitskräfte einzusparen und darüber die demselben Zweck dienenden technologischen Anstrengungen der Konkurrenten zu entwerten. Was die lobend aufgeführten Standorterrungenschaften angeht, so ist auch Dieterich nicht unbekannt, dass die darauf ausgerichtet sind, Land und Leute für Kapitalanleger aus aller Welt attraktiv zu machen, also für deren Marktbedürfnisse brauchbar herzurichten, was falsche Rücksichten verbietet; die ruinösen Folgen dieses technischen Fortschritts und einer an den Gewinnkalkulationen der Agrarkapitalisten und Lebensmittelindustrie ausgerichteten Agrarindustrie für Mensch und Umwelt beklagen ja nicht nur Grüne, Umweltschützer und sozial gesinnte Menschenfreunde. Und die wachsenden Auslandsschulden taugen keineswegs als Beweise einer prinzipiellen Rückständigkeit der industriellen Standards – die waren, nebenbei bemerkt, in der Sowjetunion für deren westliche Feinde viel zu weit entwickelt! –, sondern belegen nur, wie erfolgreich die Agenturen des freien Westens den Ostblock schon vor seiner Auflösung zur Quelle ihrer finanzkapitalistischen Bereicherung gemacht haben.

Diese Mittel und Ergebnisse kapitalistischer Konkurrenz behandelt Dieterich, als seien es objektiv gültige ökonomische Leistungsstandards, absolut geltende Normen effektiven Wirtschaftens im 21. Jahrhundert, die deswegen auch schon fraglos in Ordnung gingen und an denen sich jede Gesellschaft bei Strafe ihres Untergangs zu bewähren hätte. Dabei ignoriert er völlig, dass dieser Konkurrenzkampf genau die vielfältigen Gemeinheiten hervorgebracht hat – Ausbeutung in unterschiedlichen Ausprägungen, gewalttätigen Nationalismus etc. –, die er an anderer Stelle als Beleg für die Untauglichkeit des industriellen Kapitalismus mit seinem chrematistischen Gewinnprinzip in Anschlag gebracht hat. Genauso wenig kommt ihm in den Sinn, dass es sich um die Waffen eines Konkurrenzkampfs handelt, mit dem die kapitalistischen Hauptmächte das sowjetische Staatenbündnis in einen handfesten Systemvergleich hineingetrieben haben, den dessen Führung angenommen und am Ende verloren gegeben hat. Den Triumph eben dieses „Systems“ über seinen kommunistischen Erzfeind stilisiert Dieterich stattdessen um in ein unausweichliches Scheitern des alten Sozialismus – nicht am übermächtigen Gegner, auch nicht an eigenen Fehlern, sondern an irgendwie zwingenden Erfolgskriterien des 20. Jahrhunderts, die Versagen mit Untergang bestrafen: eine Apotheose kapitalistischer Effektivität. Mit der Selbstaufgabe der Sowjetunion ist bewiesen, dass der verflossene Sozialismus des 20. Jahrhunderts und alles, was sich als seinen antikapitalistischen Staatsprinzipien verpflichtet auffassen lässt, ein Fehler und nicht mehr ‚haltbar‘ war.

Im gleichen Atemzug begründet Dieterich den Kollaps der sozialistischen Staaten mit dem Fehlen von demokratischer Partizipation und macht noch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass er dieses hohe Freiheitsgut als Technik zur Systemerhaltung schätzt: Partizipation funktionalisiert die Massen für die Stabilität des großen Ganzen, in dem sie allemal unten sind. Er meint das aber überhaupt nicht als Kritik dieser Herrschaftstechnik: Er begründet damit sein nächstes Verdikt über die „Staaten des historischen Sozialismus“, die es versäumt haben, diese Technik für sich zu nutzen. Auch da zitiert er den Erfolg der kapitalistischen Demokratien bei der Vereinnahmung der Massen für die Belange der Staatsgewalt; allerdings nicht so, sondern in einer idealistischen Fassung: als quasi wertneutrale Erfolgsmethode, auf die eine moderne Herrschaft nicht verzichten kann – und die die kapitalistischen Staaten, denen er in anderem Zusammenhang die Gewaltherrschaft einer kriminellen Elite attestiert und Manipulation der Massen vorwirft, offenbar wirkungsvoll befolgt haben; die sind jedenfalls nach Dieterichs Dafürhalten nicht an fehlender Partizipation der Unteren zugrunde gegangen.

Dieterich macht also kein Geheimnis daraus, dass er im nachträglichen Systemvergleich zwischen Kapitalismus und Sozialismus ersteren für politökonomisch überlegen hält und durch seine Erfolge ins Recht gesetzt sieht. Er folgert daraus, dass Letzterer auf den Leistungen des Ersteren aufbauen, dessen Erfolgsmethoden bloß anders, für andere nationale Zwecke – in erster Linie erst einmal für eigene nationalökonomische Fortschritte nutzen muss. Für ihn ist Sozialismus Erbe und Fortsetzung eines ökonomischen Staatsprogramms, das darauf abzielt und dazu geeignet ist, dem Staat mehr Reichtum zu verschaffen. Denn die Welt der Ausbeutung zieht sich für ihn wesentlich auf eine falsche Verteilung des Reichtums zwischen den Staaten zusammen: Wer im Kapitalismus nicht teilhat am Weltmehrprodukt, ist zu Armut und Neokolonialismus verurteilt. (Junge Welt, 27.4.2002)

Die vielbeschworene jahrhundertelange Herrschaft kapitalistischer Bereicherungsinteressen zu beseitigen, die den Völkern in Lateinamerika und anderswo schlecht bekommt, ist für Dieterich also gleichbedeutend mit dem Programm benachteiligter Herrschaften, sich den Anteil am Weltmehrprodukt zu sichern, der ihnen zusteht. Opfer der kapitalistischen Bereicherungswirtschaft sind nicht die Volksmassen, die im Interesse ihrer nationalen Herrschaft und mit deren Gewalt als Billigarbeiter und mehrheitlich überflüssige Elendsbevölkerung unter kapitalistische Geschäftsinteressen subsumiert sind; Opfer sind die Staaten, die als Wohltäter ihrer Völker unterstellt sind, als solche aber auf dem Weltmarkt notorisch von der herrschaftlichen Verfügung über Resultate des Weltgeschäfts ausgeschlossen, um einen angemessenen Anteil am Reichtum und um ihre ‚Entwicklungschancen‘ gebracht, kurz: ‚ausgebeutet‘ werden.

Das ist die Ungerechtigkeit, die es zu beheben gilt, und zwar durch eine nationalökonomische Entwicklung, die zurückgebliebenen Ländern Teilhabe am globalen Reichtum garantiert. Als ersten, entscheidenden Schritt der „Aufbauphase“ propagiert Dieterich für die lateinamerikanischen Länder einen

„staatskapitalistischen Entwicklungsprozess, wie ihn eigentlich Friedrich List vor 180 Jahren in Deutschland propagiert hat...Das ist nichts Neues. Erfunden haben das die Engländer; die Deutschen und Japaner haben es kopiert, … ebenso China und die asiatischen Tiger ..., weil es die einzige Entwicklungsperspektive ist, die ein Land im Weltkapitalismus heutzutage hat. Man könnte von einem Staatskapitalismus keynesianischer Prägung mit nationaler Würde sprechen.“ (ebd.)

Fortschrittliche Regierungen auf dem Weg zum Sozialismus haben also nach Dieterichs Vorstellung vor allem anderen dafür zu sorgen, dass die Ökonomie der Nation die Mittel einspielt, mit denen erfolgreich Staat zu machen ist; dafür müssen sie am Geldwachstum, das die kapitalistische Konkurrenz den führenden Nationen einspielt, Maß nehmen: Sie müssen sich in der Staatenkonkurrenz national-bewusst aufstellen und eine staatliche Bereicherungswirtschaft in Gang setzen, die nicht den einseitigen ökonomischen Verhältnissen auf dem Weltmarkt überlässt, was an lohnender Beschäftigung und Produktion im und für das Land zustande kommt, sondern Volk und Land unter staatlicher Regie für nationalen Reichtum mobil macht; sie müssen ferner die nationalen Wirtschaftsfortschritte vor der übermächtigen Konkurrenz der kapitalistischen Führungsnationen schützen und sich so in der Weltmarktkonkurrenz etablieren und behaupten. Eine solche Nationalökonomie auf die Beine zu stellen, ist nach Dieterichs Auffassung erstes Gebot jedes denkbaren Vorankommens; und das geht nach seinem Dafürhalten am besten mit einem Kapitalismus, den er in diesem Zusammenhang überhaupt nicht mehr als ein System der Ausbeutung kritisiert, sondern als Arsenal frei anwendbarer ökonomischer Fortschrittsmethoden bzw. unbedingt zu beherzigender Erfolgsrezepte vorstellig macht. Alles andere ist unrealistisch.

Von da aus nimmt Dieterich die lateinamerikanischen Verhältnisse in den Blick. Alles, was Lateinamerikas Linksregierungen an Anstrengungen unternehmen, ihre desolaten nationalen Zustände zu bessern und sich mit ihren beschränkten Mitteln gegen die herrschenden Weltmarktgegebenheiten und deren staatliche Hüter aufzustellen, misst er an seinem Aufstiegsprogramm zu eigener nationalökonomischer Macht. Da sind unzufriedene Herrschaften unterwegs, die sich nicht in die Gegebenheiten des Weltmarkts und der von den USA dominierten Gegebenheiten der Staatenkonkurrenz einfügen; da wehren sich benachteilige Staaten gegen ihre Rolle im heutigen Imperialismus – und sind von daher nach Dieterichs Weltsicht einerseits schon einmal prinzipiell auf dem richtigen Weg. Andererseits ist er mit deren Vorgehen grundsätzlich unzufrieden, weil dort alles andere unterwegs ist als die Verwirklichung seines Modells eines erfolgreichen Konkurrenzkampfs mit staatlich organisierten kapitalistischen Methoden. Deshalb rät er ihnen dringend zu grundsätzlichen Korrekturen. Die ungemütlichen Implikationen seines Auftrags, sich in einer kapitalistischen Staatenkonkurrenz erfolgreich zu behaupten, kommen dabei ausgiebig zur Sprache.

Venezuela: Ein Modellfall auf Abwegen

In Dieterichs Stellungnahmen zu Venezuela finden sich massenhaft Hinweise auf die wüsten Verhältnisse und Machtkämpfe, die sich die Chávez-Regierung mit ihren Versuchen einhandelt, im Land eine neue volksdienliche Ökonomie in die Wege zu leiten, ohne mit den überkommenen kapitalistisch rechnenden Privateigentümern und den politischen Kräften radikal zu brechen. Allerdings interpretiert Dieterich diese Anstrengungen unbeschadet aller Gegensätze und aller Widerstände von Seiten der weiterhin existierenden Privatwirtschaft als Modellfall einer evolutionären nationalökonomischen Entwicklung, bei der es keine Brüche in den ökonomischen Austauschverhältnissen gibt, die politische Probleme für die Regierung bewirken können. Dieses Programm lässt sich nach seiner Auffassung zugleich problemlos mit sozialistischen Elementen, welcher Art auch immer, verbinden: Der Trick an der Geschichte ist, dass Chávez Keynesianismus betreibt und parallel die Strukturen für Sozialismus schaffen will. (Marxistische Blätter, Flugschrift 21)

Er legt von daher der Staatsführung dringlich ans Herz, die widerstreitenden ökonomischen Interessen und Rechnungen von selbstverwalteten Genossenschaften, Staatsbetrieben und Privatwirtschaft als miteinander vereinbare Beiträge zum nationalen Fortschritt zu begreifen: Unser Programm sieht vier Pole wirtschaftlichen Wachstums vor: kleine und mittlere Unternehmen, Kooperativen, strategische Staatsunternehmen und transnationale lateinamerikanische Konzerne. Dabei sollen die Chavisten dann aber auch den unterschiedlichen Stellenwert berücksichtigen, den diese „Pole“ für das staatliche Vorankommen haben:

„Der transnationale Konzern ist heute das, was im 16. Jahrhundert die Galeone (spanisches Handelsschiff zum Massentransport von Gütern, d. Übers.) war: das Zugangsvehikel zum Weltmehrprodukt.“ (Junge Welt, 27.4.2002)

Dieterich abstrahiert hier wieder völlig von den Zwecken und Resultaten der Geschäfte, mit denen die internationalen Konzerne die ganze Staatenwelt überziehen, Land und Leute rücksichtslos zum Mittel ihrer Bereicherung und die Staaten zu Anhängseln ihrer Geschäftsinteressen machen. Die linke Kritik, dass Multis mit ihrem geschäftlichen Zugriff die Drittwelt ausplündern, stellt er getreu der Logik, dass der Kapitalismus ein Arsenal national nutzbarer und nutzbar zu machender Fortschrittsmethoden darstellt, die die Verlierernationen im Weltmarkt nur konsequent genug für sich, für ihre eigene staatliche Bereicherung produktiv machen müssten, auf den Kopf: Ausgerechnet in den entscheidenden Agenturen des globalen Kapitalismus entdeckt er die geeigneten Adressaten für seine Wunschvorstellung, mit einem Mehr an nationalbewusster Politik könnten die kapitalistisch minderbemittelten Staaten und damit auch ihre Völker zum Nutznießer des Geldreichtums aufsteigen, den die Weltkonzerne aus der Ausbeutung ihrer Länder und Völker erwirtschaften – dann nämlich, wenn die Multis ihre Weltgeschäfte nicht mehr unter fremder Regie betreiben, sondern von diesen Ländern aus, unter deren eigener nationaler Regie, als Agenturen ihrer nationalen Wirtschaft. Wenn von deren Reichtum genügend im Land hängen bleibt und dem eigenen Staat zugute kommt, dann verkehren sich Ausbeutung und die Schuldenverhältnisse, die das kapitalistische Weltgeschäft produziert, in nationale Teilhabe an einem ökonomischen Fortschritt, den die Weltfirmen ins Land bringen. Wenn Staaten als Miteigentümer und Mitorganisatoren von im Weltmaßstab konkurrenztüchtigen Geschäften auf ihrem Boden fungieren, dann kann von Privatbereicherung nicht mehr die Rede sein; die stiftet dann nämlich Nationalreichtum – und geht als solche in Ordnung.

Das verlangt dann allerdings von der Politik im Innern strikten Respekt gegenüber den Erfordernissen und Ansprüchen der kapitalistischen Geschäftemacherei. Dafür braucht Dieterich kein weiteres Argument außer der Beteuerung, dass ein staatlicher Ersatz für die Leistungsfähigkeit der „Marktwirtschaft“ für ihn bis auf weiteres undenkbar ist:

„Eine Marktwirtschaft zu ersetzen, ist dann sinnvoll, wenn Staat oder Gesellschaft in der Lage sind, besser zu regulieren als der Markt. In der Situation des heutigen Venezuela ist es meiner Ansicht nach völlig undenkbar, dass das besser funktionieren würde, wenn man versuchen würde zu kollektivieren oder Betriebe zu verstaatlichen.“ (Marxistische Blätter, Flugschrift 21)

Dieterich fasst gar nicht ins Auge, dass ein Staat wie Venezuela – und ein sozialistisches Land schon gleich – die Ökonomie für ganz andere Bedürfnisse und nach ganz anderen Maßstäben organisiert oder organisieren sollte als gemäß den Erfordernissen der kapitalistischen Konkurrenz um Profitraten und Gewinnmaximierung, die auf dem Markt tobt und ihn „reguliert“. Er behandelt Markt und Staat wie zwei Agenturen, die denselben Zweck – ein wie auch immer geartetes „Funktionieren der Wirtschaft“ – zu gewährleisten haben und diesen Zweck mit unterschiedlichen Methoden der „Regulierung“ besser bzw. schlechter erfüllen. Konsequent kritisiert er an den staatlichen Bemühungen Venezuelas, die Wirtschaft nach ihren alternativen Vorstellungen einzurichten, nicht, wie wenig entschieden und verkehrt das ökonomische Leben im Land geplant und organisiert wird, sondern dass sich der Staat überhaupt anmaßt, eine Planung der Ökonomie in Angriff zu nehmen:

„Von Anfang an basierte das Programm auf der Überschätzung der Kapazitäten der staatlichen Verwaltung, den privaten Markt zu ersetzen.“ (www.rebelion.org, 13.12.2008)

Die Kämpfe, die Chávez mit den einschlägigen ökonomischen Kreisen auszutragen hat, beweisen Dieterich folglich auch nicht deren Feindschaft gegen jede staatlich geförderte Alternative zu ihren Bereicherungsinteressen, sondern dass der Präsident mit seinem falschen Radikalismus und Staatseingriffen unnötige und schädliche Gegensätze provoziert. Er verhindere eine eigentlich völlig organische und normale Allianz zwischen kleineren und mittleren Unternehmen und einem Entwicklungsstaat wie dem bolivarischen (ebd.) und verprelle die Kräfte, die brauchbar sind und die er unbedingt braucht für das nationalökonomische Vorankommen, die aber eine staatliche Einmischung in ihre Geschäfte nicht leiden können:

„Die mangelnde Versorgung der Märkte in einer chrematistischen Ökonomie rührt daher, dass die Verkaufspreise nicht attraktiv sind für den Produzenten oder Verkäufer. Dies ist der Fall in Venezuela. Viele der durch den Staat festgesetzten Preise (administrative Preise), die 400 Posten betreffen, sind so niedrig, dass das Angebot an Produkten verschwindet, sei es, weil sie nicht mehr produziert werden oder weil sie in Märkten verkauft werden, die höhere Preise bieten, wie in Kolumbien und auf dem Schwarzmarkt.“ („Die ökonomische und in den öffentlichen Reden selbstmörderische Politik der venezolanischen Regierung“, www.rebelion.org, 11.2.2008)

Wenn es schon so ist, dass staatliche Preisfestsetzungen an den Rechenweisen dieser Märkte, an den Gewinnansprüchen und der Obstruktion der Privatproduzenten scheitern, dann ist das für Dieterich offenkundig kein Hinweis auf den Widerspruch des Unterfangens, mit staatlichen Vorgaben aus einem Markt, auf dem um möglichst hohen Gewinn konkurriert wird, ein taugliches Instrument der Volksversorgung und sozialen Verteilung zu machen. Dann spricht das nur dafür, dass der Staat sich an den für das Funktionieren des Marktes unerlässlichen Gewinnrechnungen vergeht und damit die Versorgungsleistungen untergräbt, die private Geschäftemacher allemal effektiver und damit sozialer erledigen als die Politik mit ihren sozialstaatlich motivierten Preisregelungen. Einerseits preist er die gemeinschaftsdienlichen Leistungen des Marktes an. Sobald sich die politischen Instanzen aber daranmachen, von ihrer kapitalistischen Geschäftswelt diese Dienste einzufordern, wenn sie den Markt als Instrument nationaler Versorgung zu nutzen und mit entsprechenden Auflagen und konsumentenfreundlichen Preisvorgaben auf die Leistungen festzulegen suchen, die Dieterich dem Markt zuschreibt, ergreift er gegen falsche sozialstaatliche „Eingriffe“ und für die Freiheit des Marktes wie eine unumstößliche Sachgesetzlichkeit Partei, wirft den Chavisten vor, mit den Gewinnrechnungen der privaten Geschäftswelt die einzig taugliche Versorgungsinstanz zu beschädigen, und fordert sie auf, der Bourgeoisie mehr Macht in diesem ökonomischen Markt-Mix-Modell einzuräumen.

Von daher diskreditieren sich dann alle Bemühungen der Linksregierung, das Volk besser zu stellen:

„Solange er die Ökonomie des chrematistischen Marktes intakt lässt, kann der Präsident zwar die ganze überschüssige Konsumökonomie an die Bevölkerung übergeben und die Arbeitszeit auf zwei Stunden reduzieren, jedoch kann er keine neue Zivilisation erschaffen, sondern nur eine Gesellschaft von Rentiers und Konsumenten auf hohem Niveau, und alle Appelle an die Ethik würden nichts an dem Kurs dieses Prozesses ändern.“ (www.rebelion.org, 25.11.2007)

Der Gedanke, dass die Ölgelder für Lebensmittel, Gesundheit oder regionale Aufbauprojekte allemal besser angelegt sind als in den Bilanzen „transnationaler Konzerne“, ist für Dieterich offensichtlich undenkbar. Die staatliche Unterstützung armer Teile der venezolanischen Gesellschaft, die Verteilung von ungenutztem Großgrundbesitz an mittellose Bauern und deren Förderung mit Kleinkrediten sowie all die aus den staatlichen Öleinnahmen finanzierten Sozialprogramme und ökonomischen Initiativen schaffen sicher nicht den gemütlichen Zustand einer Gesellschaft von „Rentiers und Konsumenten“, aber Dieterich hebt schon da warnend den Zeigefinger: Wenig Arbeit und viel Konsum, das ist nicht die neue Zivilisation, wie er sie versteht. Für ihn rechtfertigen sich soziale Leistungen durch und nur durch die Arbeit, die sie bei den Massen in Gang zu setzen vermögen. Das Soziale ist bei ihm umgekehrt definiert: als Derivat und Mittel der erfolgreichen Mobilisierung der Massen für den ökonomischen Fortschritt der Nation.

So gesehen richtet Chávez mit seinen Sozialprogrammen lauter Schaden an den unverzichtbaren Mitteln nationalen Vorankommens an, am Staatshaushalt und am nationalen Geschäftsmittel: Er bringt sich durch die Preiskontrollen selbst in eine strukturelle ökonomische Zwangsjacke. Er leistet sich nicht zuletzt wegen der Weihnachtsgelder eine massive Stiftung zusätzlicher Liquidität, eine Inflation von etwa 35 Prozent, statt Währungsstabilität, Arbeitslosigkeit und Konjunktur im Auge zu behalten. (www.rebelion.org, 11.2.2008)

An dem ganzen mittlerweile in Venezuela herrschenden Durcheinander kann einem ja so einiges auffallen: dass Geld offensichtlich ein untaugliches Mittel ist, die Bevölkerung besser zu stellen, wenn es, kaum dafür gebraucht, auch schon an Wert verliert; dass ein Nebeneinander von kapitalistischen Unternehmen und selbstverwalteten Betrieben letztere den Gesetzen der Kapitalverwertung unterwirft und so am Ende alles andere als eine Wohltat für die Arbeiter ist; dass staatliche Geldzuteilung und soziale Werke die elenden Verhältnisse abmildern, aber nicht revolutionieren; dass es also alles in allem ein Unding ist, mit alternativen Wirtschaftsformen unter gleichzeitiger Ausnutzung der Effektivität des Kapitalismus die ‚Ausbeutungsverhältnisse‘ loswerden zu wollen. Dieterich dagegen entdeckt nur lauter Verstöße gegen sein sozialistisches Stufenmodell. Die sozialen Staatsambitionen Venezuelas misst er nämlich konsequent an seinem Dogma, dass der einzig realistische erste Schritt zum Sozialismus der erfolgreiche Aufbau einer international lebensfähigen Nationalökonomie durch einen ‚staatskapitalistischen‘ Entwicklungsprozess ist. Wo Venezuela um Selbstbehauptung gegen außen ringt, um andere, bessere Zustände herzustellen, stellt er das konsequent auf den Kopf, wenn er deren Anstrengungen allein unter dem Gesichtspunkt begutachtet: Was leistet die Linksregierung dafür, Volk und Gesellschaft für ihre Selbstbehauptung nützlich zu machen und eine zur nationalen „Aneignung von Weltmehrprodukt“ fähige Nationalökonomie zu organisieren? Soziale Anstrengungen des Staates rechtfertigen sich in seinen Augen nur so und soweit, wie sie das Volk als staatsdienliche Ressource mobilisieren, es befähigen, durch lohnende Arbeit und echt erarbeitete Kaufkraft zum ökonomischen Vorankommen der Herrschaft beizutragen. Eine Herrschaft, die dem Volke dienen will, muss erst einmal das Volk gründlich für Dienste an der Herrschaft heranziehen und produktiv machen.

Kuba: Eine staatsschädliche Fehlentwicklung und ihre unerlässlichen Korrekturen

Im selben Sinne und noch entschiedener kritisiert Dieterich Kuba, das es mit seiner Revolution und sowjetischer Unterstützung geschafft hat, die kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse im Land zu beseitigen, und das auch nach dem Ende der SU aufrechtzuerhalten versucht: Dort ist immer noch der überholte Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts am Werk, und der ist – man sieht es ja an den Schwierigkeiten, mit denen sich das Land herumschlägt – inzwischen total ‚ineffektiv‘. Auch und erst recht in diesem Fall macht sich die Führung eines doppelten Vergehens schuldig:

– Erstens dadurch, dass sie die Ökonomie überhaupt staatlich in die Hand nimmt und organisiert. Dass die Rechnung mit konkurrierenden betrieblichen Geldgrößen auf Grundlage staatlicher Vorgaben ein bleibender Widerspruch zu einer rationellen Bedürfnis- und Produktionsplanung darstellt, löst Dieterich radikal nach der entgegengesetzten Seite auf: In Kuba wird viel zu viel staatlich geplant und kommandiert, statt Bedürfnisse und Produktionsanstrengungen an Maßstäben einer Gelderwirtschaftung auszurichten.

– Zweitens leistet sich die Führung den sozialen Standpunkt, für das ganze Volk wenigstens die elementaren Bedürfnisse Ernährung, Bildung und Gesundheit staatlich zu garantieren, statt von Geldrechnungen abhängig zu machen, wie einer in Kuba lebt. Das ist nicht nur ein fundamentales Vergehen gegen die Gesetze ökonomischer Effektivität, sondern – schlimmer noch – Ausdruck der unhistorischen Idee, die Freiheiten des Individuums durch das Recht auf soziale Sicherung zu ersetzen:

„In diesem Zusammenhang ist die Idee fatal, dass die kostenlose Gesundheitsversorgung und Ausbildung den Zugang zum privaten Konsum ersetzen könnten, den die Bürger als notwendig und gerecht auffassen. Nach der Gründungsperiode akzeptieren es die Bürger nicht mehr, öffentliche Leistungen anstelle von privatem Konsum zu erhalten. Sie wollen beides, nicht das eine oder das andere. Und jedenfalls wollen sie über beide Optionen selbst entscheiden und nicht Objekte von Befehlen von oben sein.“ (www.rebelion.org, 6.4.08; daraus auch die folgenden Zitate)

Von einem Beschluss, dem Volk statt Konsum lieber Gesundheit und Bildung – ein schöner Gegensatz! – zu spendieren, kann zwar keine Rede sein. Und mit der Abschaffung der staatlichen Versorgungsgarantien – zu denen im Übrigen durchaus die Sicherung elementarer Mittel des ‚privaten‘ Konsums gehört –, mit der Erlaubnis zum Kauf von Handys und anderem gegen Devisen und mit dem Zwang, für seinen Lebensunterhalt ausreichend Geld verdienen zu müssen, eröffnet sich schon gleich nicht das materielle Reich der Freiheit. Aber für Dieterich steht fest: Das Sozialprogramm Kubas läuft auf Entmündigung freier Individuen hinaus. Und das ist fatal – für die Herrschaft, die sich dadurch nämlich keinesfalls den Zuspruch ihres Volks sichert. Auch hier denkt Dieterich wieder ganz funktionalistisch an den Ertrag staatlicher Sozialprogramme für die Herrschaft. Er subsumiert alle sozialen Fragen unter den Gesichtspunkt, ob die Herrschaft damit Einverständnis mit ihren Massen stiftet, und kann nur den Kopf schütteln: So gewinnt man keine Loyalität. Genauso wenig wie mit einer Agitation, die sich auf solche Errungenschaften beruft:

„Die mentale Schieflage des Sozialismus des XX. Jahrhunderts und der traditionellen Linken bezüglich der neuen digitalen Jugend zeigt sich in den Diskursen und den Formen ihrer Propaganda: Sie halten Vorlesungen über Che Guevara, als ob wir im Jahr 1968 wären, anstatt sich in die elektronische Welt der Jugend zu begeben und Videospiele mit Che, Fidel und Raúl zu produzieren.“

An den politischen Kampagnen kritisiert Dieterich also nicht, dass sie mehr und mehr zum bloßen Moralismus verkommen sind, sondern dass der Moralismus nicht unterhaltsam und damit wirksam genug rübergebracht wird. Er hat zeitgemäßere Propaganda zu bieten: Ein Führerkult, der die ‚Jugend‘ erst gar nicht mehr für gemeinsame Anstrengungen gewinnen will, sondern die revolutionären Programme von einst zum Computervergnügen einer Jugend aufbereitet, die mit solchen Programmen ohnehin nichts mehr anfangen können soll – das ist nach Dieterich die richtige Art, das Volk für seine Herrschaft einzunehmen.

Der kubanischen Führung empfiehlt Dieterich also, ihre alten sozialen Zwecke und ihr staatliches Kommando über die Ökonomie über den Haufen zu werfen. Die Revolutionäre von einst sollen sich endlich auf kapitalistischen Marktgesetzen entnommene Wirtschaftsrezepte und der bürgerlichen Demokratie entlehnte Methoden besinnen, um ihre Herrschaft zu konsolidieren. Wenn sie aufgeben, wofür sie einst angetreten sind und wofür sie ihr Volk gewinnen wollten, dann sind sie auf der Höhe des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

Jetzt, wo die kubanische Führung ihr Staatsprogramm mehr und mehr revidiert, die Versorgungswirtschaft durchlöchert, vermehrt auf privates Wirtschaften und Dollarverdienen setzt, entdeckt Dieterich daher hoffnungsvolle Ansätze für die seiner Meinung nach längst überfälligen Korrekturen:

„Jeder Ökonom weiß, dass die zwei Schlüsselvariablen der Produktionsverhältnisse das Eigentum und die Preise sind. Das Eigentum, weil es zum legalen Anspruch auf Mehrwert und zur Festlegung der Preise berechtigt, und letztere, weil sie der hauptsächliche Bestimmungsfaktor der ökonomischen Entscheidungen sind. Raúl, gut beraten und die Tabus des Diskurses brechend, ging das Problem über diese Variablen an, mit drei kühnen Entscheidungen: a) der Ökonomie tendenziell den Preis als Informationsübermittler und kybernetischen Koordinator wieder zur Verfügung zu stellen und damit absurde administrative Preise zu korrigieren; b) brachliegende Böden privaten und kollektiven Produzenten zur Nutzung zu übergeben; und c) die materielle Belohnung zu stimulieren und den freien – ‚frei‘, d.h. gemäß der Kaufkraft, wie in jeder Marktwirtschaft – Konsum von elektronischen Geräten, wie Computer und Handys, zuzulassen.“

Eine klare Botschaft in verquastem methodischem Gewand! Wenn der kubanische Staat die ökonomischen Aktivitäten im Land nach seinen volksdienlichen Gesichtspunkten ausrichten und lenken will, dann ist das ‚absurd‘: Staatlich geförderte soziale Belange verfälschen die freien Preise, die allein der Markt zu bestimmen hat. Dass künftig mehr als bisher Privatbauern den Nahrungsmittelmangel ausnutzen dürfen, dass die staatlich organisierten Versorgungsleistungen und Produktionsbemühungen eingeschränkt werden, dass im Gefolge davon Dollarbesitz wieder stärker arm und reich scheidet: Das geht dagegen in Ordnung; in diese Richtung muss man entschieden voranschreiten!

Dabei fasst Dieterich durchaus die Perspektive ins Auge, dass Kuba wieder in den Status eines kapitalistischen Rohstofflandes und Armenhauses zurückfällt. Er verhandelt das ebenso euphemistisch wie abgebrüht als Gefahr, dass Kuba ebenfalls als moderne bürgerliche Gesellschaft enden wird. Aber dieser Gefahr muss man eben ins Auge sehen, wenn erfolgreiche staatliche Selbstbehauptung entscheidende Bedingung und damit erster Zweck linker Weltverbesserungsprogramme ist und Kapitalismus als einzig erfolgsversprechende Methode dafür in Frage kommt.

Die Staaten Lateinamerikas: Zu machtvollem Aufbruch berufen

Nicht nur der Herrschaftsauftrag im Innern, auch die Staatsagenda nach außen folgt für Dieterich aus dem Programm notorisch benachteiligter Staaten, sich ihren Anteil am „Weltmehrprodukt“ und eine ihnen gebührende Stellung in der Welt zu sichern. Dazu bedarf es, dessen ist er sich sicher, mehr als bloß politökonomischer Anstrengungen. Mit dem fehlenden Reichtum fehlt den lateinamerikanischen Staaten auch die staatliche Macht und die Mittel, um den Kampf um die gerechte Verteilung von Reichtum in der Welt erfolgreich zu führen. Diesen Teufelskreis der globalen Ungerechtigkeit müssen die zurückgebliebenen, vom Imperialismus an ihrer Entwicklung gehinderten Nationen durchbrechen. Deswegen müssen sie vor allen sozialistischen Anstrengungen erst einmal die einseitigen Machtverhältnisse in der Staatenwelt umwälzen. Der Weg zum Sozialismus geht über die staatliche Bewährung in einer Mächtekonkurrenz, in der sich Lateinamerikas Linksregierungen so aufstellen müssen, wie es eine ordentliche Herrschaft macht, die sich unter ihresgleichen Gehör verschaffen will. Lateinamerika muss

„heraustreten aus dem Status einer unterentwickelten Region und sich einbringen als globale Macht in die globale Ordnung.“ (www.rebelion.org, 26.1.2009) „Die einzige Möglichkeit Lateinamerikas, die Afrikanisierungstendenz zu stoppen, ist die Integration eines regionalen kapitalistischen und protektionistischen Machtblocks, in dem wir gleichzeitig Elemente der teilhabenden Demokratie einführen.“ (Junge Welt, 27.4.2002) „Die vermittelnde erste Stufe der Transition zum Sozialismus liegt in der Kreation eines Regionalen Lateinamerikanischen Machtblocks, wie der venezolanische Präsident Hugo Chávez ihn anstrebt, mit dem neuen Sozialismus als strategischem Horizont des Transformationsprogramms.“ (www.puk.de, 7.2.2006)

Das Denkmuster einer stufenweisen Entwicklung bewährt sich also auch auf dem außenpolitischen Feld. Sozialismus fungiert als „strategische“, d.h. für die aktuelle Politik bedeutungslose Zukunftsoption eines politischen Programms, das auf eine „Transformation“ ganz anderer Art zielt: die ökonomische und politische Emanzipation staatlicher Macht mittels der erfolgreichen Kopie kapitalistischer Aufstiegsmethoden, Machtmittel und Machtstrategien; kurz: der Umsturz der imperialistischen Staatenhierarchie durch Herrschaften, die es, ausgewiesen durch ihren bisherigen imperialistischen Verliererstatus, verdient haben und besser meinen.

Aus der Not der Linksregierungen, die mit ständigen Anfeindungen der imperialistischen Staaten – allen voran der USA – rechnen müssen, weil sie mit ihren Alternativprogrammen die Freiheit der weltweit etablierten Geschäftsinteressen und die Weltordnungsvorstellungen der Weltmarkt- und Weltordnungsaufseher beschädigen, leitet Dieterich einen Auftrag an die von Nordamerika unterdrückten Nationen Lateinamerikas ab, selbst zu einer potenten Macht aufzusteigen und endlich eine mit‘gestaltende‘ Rolle in der Staatenkonkurrenz zu erobern. Die Notwendigkeit, sich der Feindschaft der Vormächte zu erwehren, verwandelt sich bei ihm in ein positives Programm erfolgreichen nationalen Aufstiegs in der Mächtehierarchie mit den Mitteln und Methoden, die in der imperialistischen Konkurrenz zählen: ein nationales Kapital und eine nationale Macht, die sich dessen Durchsetzung zum Zweck setzt, weil sie daraus ihre Machtmittel bezieht, die deswegen aber auch über ausreichend Macht verfügen muss, um sich in der globalen Konkurrenz um Geschäft und Aufsicht über die Staaten gegen deren weltmächtige Oberagenturen zu behaupten. Die Imperialisten mit ihren eigenen Mitteln schlagen, ihnen eine potente, über ausreichend kapitalistischen Nationalreichtum und Gewaltmittel verfügende, also imperialistisch potente Staatsmacht entgegenzustellen, die dafür das nationale Volk demokratisch einspannt, das erklärt Dieterich zum einzig realistischen Weg zu einer besseren sozialistischen Zukunft, die hier nur noch als fernes Ideal dieses staatlichen Aufstiegswegs firmiert.

In dieses machtvolle Aufbruchsprogramm sortiert Dieterich folgerichtig nicht nur die Linksregierungen, sondern auch ihre nationalstaatlichen Konkurrenten und Gegner ein, alle Herrschaften auf dem amerikanischen Südkontinent und anderswo, die aus welchen Gründen auch immer nach Dieterichs Auffassung unter der US-Hegemonie leiden müssen. Vorauseilend fasst er alle Staaten Lateinamerikas – Kolumbien mit seinem Dauerkrieg gegen linke Guerilla genauso wie Kuba, Venezuela mit seinen regierenden Chavisten genauso wie das proamerikanische Vorzeigeland Chile usw. – zum ideellen Subjekt einer lateinamerikanischen patria grande zusammen, um dessen Verwirklichung es zu gehen hätte, und betrachtet die politischen Händel und Gegensätze, die die ideell für dies Gemeinschaftswerk vereinnahmten Staaten mit- und gegeneinander und die imperialistischen Obermächte mit ihnen austragen, konsequent im Licht dieses erfundenen Machtsubjekts.

Erstens denkt er sich vom Standpunkt eines ideellen Politikberaters und -planers konstruktiv in alle aktuellen politischen Konkurrenzaffären, gemeinsamen Projekte und gegensätzlichen Anstrengungen in Lateinamerika hinein und begutachtet sie unter dem Gesichtspunkt, wie die im Einzelnen jeweils für die Schaffung eines großnationalen Machtblocks wohl zu gebrauchen und fortzuentwickeln wären. Der Mercosur, das mit den Freihandelsabkommen der USA konkurrierende lateinamerikanische Wirtschaftsbündnis, wäre da nach seinem Dafürhalten z.B. ein passendes Instrument machtpolitischer Fortschritte:

„Um das wachsende Aggressionspotenzial der atlantischen (US-amerikanisch-europäischen) Bourgeoisie zu bannen, ist eine Überführung des Mercosur in einen wahrhaftig lateinamerikanischen regionalen Machtblock unerlässlich, d. h. in eine Region mit einer geschützten regionalen Wirtschaft und gegenseitigen Verteidigungsabkommen gegenüber kriegerischen Aggressionen von außen.“ (www.puk.de, 7.2.2006)

Das Projekt einer Einheitswährung tut – richtig verstanden und vorangetrieben – ebenfalls gute Dienste:

„Dagegen ist die Einführung des SUCRE, die eine regional-interne Währungseinheit oder ein Währungskorb wäre, ein richtiger Schritt bei der Schaffung des regionalen Machtblocks BRP (Bloque Regional de Poder)“.(www.rebelion.org, 13.12.2008)

Zweitens besteht seine ganze Analyse der imperialistischen Staatengegensätze in der parteilichen Einschätzung von internationalen Kräfteverhältnissen und -verschiebungen in der Staatenkonkurrenz und deren moralischer Überhöhung zu einem welthistorischen Ringen zwischen berechtigten fortschrittlichen „Herrschafts-“ und unberechtigten überkommenen „Vorherrschafts“ansprüchen. Einerseits argumentiert er im Bewusstsein der gerechten Sache wie ein Militärstratege, der Staaten als pure Machtfaktoren in einem globalen Kräftemessen begutachtet, sie als solche wie Figuren auf einer ideellen strategischen Landkarte hin- und herschiebt, zu Machtblöcken und -achsen vereint, gestärkt oder geschwächt sieht. Brasilien und Argentinien firmieren da gemeinsam mit den Linksregierungen Venezuelas, Boliviens und Ecuadors als „bolivarischer Block“ in Lateinamerika, dessen Fortschritte Dieterich zufrieden konstatiert:

„Die bolivarische Achse des Regionalen Machtblocks, die atlantische Achse hat durch den Triumph von Evo Morales in Bolivien die notwendige kritische Masse erreicht, um die monroeistische pazifische Achse Lateinamerikas zu brechen.“ (www.puk.de, 7.2.2006)

Anderseits malt er, von der höheren Berechtigung eines machtvollen lateinamerikanischen Staatenaufbruchs überzeugt, eine Weltverschwörung einer globalen Achse böser Mächte unter Führung der USA im Verein mit der dritten imperialistischen Weltmacht Deutschland zusammen mit dem Minifranco Aznar und der neuen rechten Regierung Portugals....und dem deutschen Papst Ratzinger (www.puk.de, 4.2.2006) an die Wand und ruft alle fortschrittlichen Kräfte auf, sich zu einem geeinten ‚lateinamerikanischen Machtblock‘ zusammenzuschließen, der die USA und ihre Mitverschwörer endlich gerechterweise auf den Misthaufen der Weltgeschichte befördert. Regelmäßig geht so mit dem ‚Realisten‘ Dieterich die Phantasie von einem globalen Kampf um die Führung in der Staatenwelt durch, in dem sich Lateinamerikas Herrschaften behaupten müssen.

Drittens diktiert er den lateinamerikanischen Regierungen ins Stammbuch, dass sie sein linkes Wunschbild einer patria grande, die Konstituierung eines weltpolitischen Subjekts in Gestalt eines mächtigen Staatenbündnisses, das den imperialistischen Vormächten, allen voran den USA, Paroli bieten kann, als höhere Mission zu verstehen hätten, zu deren Erfüllung sie geradezu verpflichtet sind, weil die amerikanische Vormacht längst die fortschrittliche weltgestaltende ‚visionäre‘ Kraft verloren hat, die Dieterich ihrem früheren imperialistischen Ausgreifen offenkundig zubilligt. Lateinamerika ist – im welthistorischen Jargon Dieterichs – berufen, das Vakuum zu füllen, das das Fehlen einer geopolitischen Nach-Monroe-Vision im neuen globalen Weltsystem hinterlassen hat. Die bedrohliche nordamerikanische ‚Achse‘ mit ihrem weltverschwörerischen Anhang mutiert hier zum Macht“vakuum“, das andere füllen müssen: mit einer Macht, der Dieterich die höheren Weihen einer zukunftsweisenden Vision verleiht. Lateinamerikas Staaten haben so gesehen geradezu die Pflicht, zu einer unübergehbaren Macht aufzusteigen, leisten sie damit doch wegweisende Dienste an einer höheren Weltordnung.

Viertens ist Dieterich von daher einigermaßen unzufrieden, weil die angesprochenen Staaten mit ihren nationalen Berechnungen und Gegensätzen alles andere verfolgen als die Schaffung seiner patria grande zu dem einzigen Zweck, die US-Macht zu brechen und gemeinsam ihren fälligen Niedergang zu exekutieren. Chávez etwa lässt es nach Dieterichs Maßstäben an Einsicht in die machtpolitischen Notwendigkeiten fehlen und kümmert sich viel zu wenig um ein schlagkräftiges Bündnis mit allen national gesinnten Kräften im Innern und antihegemonialen Bundesgenossen außen: Unerklärlicherweise haben weder Präsident Chávez noch die venezolanische Diplomatie bisher diese gefährliche Angriffsfront wahrgenommen, die sich gerade im Zentrum des europäischen Imperialismus bildet. (www.rebelion.org, 26.1.2009) Rechten wie linken Regierungen, den gesamten herrschenden Eliten Lateinamerikas, die nach Dieterichs Dafürhalten selbstverständlich die befugten Agenturen seiner welthistorischen Mission sind, wirft er vor, dass sie den ihnen zugedachten Auftrag nicht ernst genug nehmen. Die gültigen nationalen Bestrebungen, von denen er bei seinem Entwurf einer zukunftsträchtigen übernationalen patria grande abstrahiert hat, kommen jetzt als nationalistische Engstirnigkeit in den Blick, die den gemeinsamen Aufbruch zu machtvoller Weltgestaltung verhindert: Weil die Regierenden zu sehr auf eigenen Zugewinn bedacht sind, bleiben sie allesamt machtlos. Es fehlt eine lateinamerikanische politische Klasse mit einer realisierbaren geopolitischen Vision, die den objektiven Bedingungen der patria grande angemessen ist. (www.rebelion.org, 26.1.2009) Deshalb droht die geopolitisch-strategische Verwaistheit Lateinamerikas und besteht die Gefahr für die lateinamerikanischen Staaten, weiterhin ein geopolitischer Null-Akteur auf dem Schachbrett der Welt zu sein; – offensichtlich das Schlimmste, was sich der Propagandist eines ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘, für den die herrschende politische Klasse zuständig ist, vorstellen kann: Machtvergessenheit!

China und das „chinesische Modell“: Ein leuchtendes Vorbild staatlichen Aufstiegs

Als Fanatiker eines (anti-)imperialistischen Kräftemessens kennt Dieterich ein staatliches Vorbild, das den seiner Auffassung nach einzig realistischen Weg erfolgreich beschritten hat und das er den lateinamerikanischen Herrschaften deshalb zur Nachahmung empfiehlt:

„Vor drei Jahrzehnten war das geopolitische Problem Chinas und Lateinamerikas dasselbe: heraustreten aus dem Status einer unterentwickelten Region und sich einbringen als globale Macht in die globale Ordnung. Heute könnte der Unterschied zwischen beiden Regionen dramatischer nicht sein.“ („China ist ein Modell für eine lateinamerikanische Weltmacht“, www.rebelion.org, 26.1.2009)

China hat geschafft, was Dieterich als die Aufgabe aller staatlichen underdogs und als den entscheidenden Schritt hin zu einer gerechteren Weltordnung ansieht: Es hat sich innerhalb von dreißig Jahren zur dritten ökonomischen Potenz der Welt entwickelt, den Aufstieg von einer unterentwickelten Region zu einer globalen Macht geschafft. China beweist, dass die Verschiebung der Kräfteverhältnisse geht und auch wie. Dass es als kapitalistischer Aufsteiger eine führende Rolle im Weltmarkt gegen dessen etablierte Nutznießer erobert hat, erfolgreich um auswärtige Märkte und Ressourcen für sein nationales Kapital konkurriert, die Konditionen des Weltgeschäfts mitbestimmt, zunehmend Einfluss auf auswärtige Herrschaften und die weltweiten Gewaltaffären nimmt, sich also in der imperialistischen Konkurrenz an vorderster Front etabliert hat, kurz: eine Weltmacht geworden ist, an der die USA und der Rest der Welt nicht mehr vorbeikommen: Das macht China zum welthistorischen Vorbild, hat es doch damit den progressiven lateinamerikanischen Regierungen beispielhaft vorgeführt, wie man expansive Außenpolitik betreibt. (ebd.) Das Volk kommt in diesem Programm zwar nur noch als Manövriermasse der Konkurrenz um nationalen Reichtum und Macht zum Zuge. Aber die wüste kapitalistische Erschließung des ganzen Landes, seine Ausrichtung auf die Eroberung des Weltmarkts mit all den Konsequenzen an Bereicherung und Verelendung, der Ruin von Mensch und Natur, der mit dieser Entwicklung einhergeht, das alles sind ja die effektiven Methoden, ohne die ein Staat nicht vorankommt, und insofern historisches Gebot. Dass die chinesische Führung Maos Programm einer antiimperialistischen Volksrepublik über Bord geworfen hat, ist deshalb ein Beweis für ihre außergewöhnliche Fähigkeit, sich an die großen globalen Veränderungen der letzten 60 Jahre anzupassen. Von daher sieht Dieterich hoffnungsfroh für die Zukunft voraus, dass im Jahr 2025 die Volksrepublik China die erste Macht der Erde sein wird. Fünfhundert Jahre westlicher Vorherrschaft kommen an ihr unerbittliches Ende! (www.rebelion.org, 2.10.2009)

Mit seinem evolutionären Stufenmodell verliert Dieterich noch beim wüstesten chinesischen Kapitalismus die sozialistische Zukunftsperspektive nicht aus den Augen. Wo China unter der Führung der Staatspartei längst seinen Platz in der imperialistischen Welt gefunden hat, entdeckt Dieterich hoffnungsvolle Anzeichen dafür, dass die kommende Supermacht mit ihrem Aufstieg dem Fortschritt dient:

„Es kann kaum Zweifel geben, dass die aktuelle Regierung des Präsidenten Hu Jintao eine progressive und volksnahe Linie repräsentiert, mit Kennzeichen von Avantgarde... Die Regierung des Präsidenten Hu Jintao lässt hoffen, dass das fortschrittliche Wesen des Prozesses, der mit Mao und seinen zwölf Jüngern begann, sich erhalten kann in der zweiten Supermacht der Welt.“ (www.rebelion.org, 26.2.2009)

Ein schönes Bekenntnis, wo Dieterich in seinem Stufenmodell ‚Sozialismus‘ letztlich verortet. Das chinesische Staatsprogramm misst er an der Aufgabe, zu einer Supermacht gegen die USA und die anderen bisher führenden kapitalistischen Nationen aufzusteigen. Und weil er an dem aufstrebenden chinesischen Weltmarkt- und Weltmachtkonkurrenten den Erfolg bewundert, (er)findet er eine hoffnungsvolle sozialistische Fortschrittsperspektive hinzu. Die fällt entsprechend aus: Ausgerechnet der oberste Chef der chinesischen Staatspartei, die alle Alternativen zum kapitalistischen Weg hinter sich gelassen hat, die die Macht und ihr Volk fest im Griff hält, um es für das Programm nationaler Weltmarkteroberung mobil zu machen, die ihre Massen millionenfach in Billiglohn- und Wanderarbeiter für den kapitalistischen Aufstieg der Nation verwandelt, ausgerechnet der verdient laut Dieterich das besondere Vertrauen seines Volks und aller Kritiker der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse.

Die Hoffnung stiftende Perspektive: Das welthistorische Ringen um ein erfolgreiches Fortschrittsmodell

Die falsche Abrechnung mit dem „Sozialismus des 20. Jahrhunderts“ mündet damit in eine einigermaßen zynische Klarstellung über Dieterichs „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“: Der geht nur als erfolgversprechendes Staatsprogramm, erfolgversprechend aber ist das nur, wenn es an den Herrschaftserfolgen seiner Gegner Maß nimmt: als erfolgreiches Emanzipationsprogramm einer Herrschaft, die sich aller Errungenschaften des Kapitalismus für ihren Aufstieg bedient. Für diese gnadenlose linke Logik des Erfolgs hat Dieterich einen allerhöchsten Zeugen: den Gang der Geschichte, der mit den Erfolgen und Misserfolgen von Herrschaft über den richtigen Weg zu einer besseren Welt belehrt. Das ist die heilsame Rolle von „Krisen“:

„Die positive Funktion jeder Krise ist, dass sie die Undurchführbarkeit eines Modells aufdeckt. Es wälzt die Illusionen und ideologischen Trümmer um, die den strategischen Blick auf die Zukunft versperren. In diesem Sinne öffnen die systemischen Krisen des weltweiten Kapitalismus, des kubanischen Modells und des venezolanischen Modells den Weg zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts.“ (Die sozialistische Trikontinentale angesichts der Krisen in Kuba, Venezuela und des Kapitalismus, www.aporrea.org 30.11.2010)

Dieterich begutachtet die Welt von einer allerhöchsten abstrakten Warte aus: Die finanzkapitalistische Spekulation und die krisenhaften Einbrüche des kapitalistischen Geschäftsgetriebes, um dessen nationale Erträge die Staaten konkurrieren; die ganz anders gearteten staatlichen Nöte und Selbstbehauptungsanstrengungen Kubas; die inneren Machtkämpfe Venezuelas – das alles ist von dieser Warte aus dasselbe. Das alles löst sich auf in das subjektlose Subjekt Krise, das Illusionen – egal welche und bei wem – beseitigt, es ginge so weiter, wie es keinesfalls weitergehen kann. Dass es darauf ankommt, wer sich da welche Gedanken über ‚die Zukunft‘ macht, ob Politiker über Methoden der Krisenbewältigung im nationalen Interesse nachsinnen oder das geschädigte Volk sich Gedanken macht, wie es mit den ihm aufgebürdeten Krisenlasten fertig wird, was eine kubanische Staatsführung an Reformen zur Staatsrettung für angebracht hält oder die kubanische Bevölkerung sich an Besserungen erhofft – das alles ist bedeutungslos, wenn Dieterich seinen strategischen Blick in die Zukunft wirft: Für ihn verwandeln sich die konkurrierenden imperialistischen Weltaufsichtsansprüche, die kapitalistische Standortkonkurrenz ebenso wie alternative lateinamerikanische Staatsbestrebungen und überhaupt alle Gewaltaffären, die die ‚Weltordnung‘ ausmachen, in ein Ringen höherer Art: einen Wettbewerb von Modellen einer besseren Welt, die sich in der Staatenkonkurrenz als erfolgreich und damit als berechtigt erweisen oder nicht. Wo nicht, sind sie illusionär und gehen zu recht unter. Die mit Geld und Gewalt gestifteten globalen Zustände deutet Dieterich als welthistorisches Gericht eines subjektlosen Fortschrittsprozesses, der sich mit Krisen, einer Art selbsttätig wirkendem trial-and-error-Verfahren, seinen Weg bahnt und mit den Erfolgen oder Niederlagen staatlicher Macht sein höheres Urteil über die konkurrierenden Weltordnungsentwürfe spricht. Kurz: Seinen linken Opportunismus erfolgreicher Herrschaft macht Dieterich zum Leitfaden der Weltgeschichte und liest ihn aus der dann als Hoffnung stiftendes Gesetz des Fortschritts wieder heraus. So konstruiert sich ein Linker, der keinen Gedanken darauf verschwendet, dass sich die Geschädigten gegen die untragbaren Verhältnisse zur Wehr setzen müssen und sollten, seine tröstliche Botschaft: Der global erfolgreiche Kapitalismus und die Vorherrschaft seiner Metropolen sind nicht das letzte Wort; eine gerechtere Welt ist weiterhin „realistisch“ – in Gestalt imperialistischer Machtverschiebungen, garniert mit dem grandiosen Versprechen, die staatlichen Aufsteiger könnten ihre gewonnene Macht dann künftig gerechter gebrauchen.

[1] Siehe dazu die Kritik im GS 4-09: Heinz Dieterichs ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘ Ein soziologisch-geschichtsphilosophischer Neuaufguss der Utopie einer gerechteren Welt!