Lohnkampf bei der Deutschen Bahn und bei Amazon

Tarifpolitik im Niedergang

Die Deutsche Bahn AG hat es gut. Nicht eine, sondern gleich zwei der bei ihr engagierten Gewerkschaften schlagen sich in der ersten Jahreshälfte ganz un­­abhängig voneinander mit den verschiedenen Problemen herum, vor die der große Konzern sie stellt. Und auch bei Amazon geht es für die Gewerkschaft um nicht weniger als ihre Daseinsberechtigung.

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Lohnkampf bei der Deutschen Bahn und bei Amazon
Tarifpolitik im Niedergang

I. Zwei Gewerkschaften im Tarifstreit mit der Deutschen Bahn

Die Deutsche Bahn AG hat es gut. Nicht eine, sondern gleich zwei der bei ihr engagierten Gewerkschaften schlagen sich in der ersten Jahreshälfte ganz unabhängig voneinander mit den verschiedenen Problemen herum, vor die der große Konzern sie stellt.

Die EVG ringt um Kompensation für ihre Rücksichtnahme auf die Geschäfte der Bahn

Das haben EVG-Mitglieder also von der verantwortungsvollen Tarifpolitik, die ihre Gewerkschaft als ihr stolzes Markenzeichen pflegt und von der gerade die Tarifverträge zeugen, die sie 2018 mit der DB vereinbart und 2021 ganz ohne Streik einvernehmlich minimal angepasst hat: eine heftige Verarmung. Die Rücksichtnahme, die die EVG angesichts der schwierigen Corona-Lage gegenüber der Bahn geübt hat, macht sich nun im zweiten Jahr mit hoher Inflation in Form von Reallohnverlusten um die 15 % geltend. Und seit der gesetzliche Mindestlohn zum Oktober 2022 auf 12 Euro pro Stunde angehoben wurde, sehen ihre Abschlüsse für viele „Kolleginnen und Kollegen bei DB Sicherheit, DB Services, DB Fahrwegdienste und DB Dialog, die in die niedrigsten Lohngruppen eingruppiert sind,“ Stundenlöhne vor, die inzwischen sogar niedriger ausfallen, als die Polizei erlaubt. (5.3.23) [1]

Doch mit der Zurückhaltung soll nun Schluss sein. Diesmal verlangt die EVG erstens die nominell höchsten Lohnerhöhungen ihrer gewerkschaftlichen Geschichte: „12 %, mindestens aber 650 Euro mehr im Monat“. Die Forderung hält sie „für mehr als gerechtfertigt“, und mit ihren Begründungen beweist sie, dass sie die Tugend des Augenmaßes jedenfalls nicht verlernt hat: Angesichts der Not, in die die Inflation ihre Mitglieder stürzt, sodass sich gerade die in den unteren Lohngruppen „am Ende des Monats fragen müssen, ob sie ihr Auto volltanken oder das verbliebene Geld für den Einkauf verwenden“, muss das bescheidene Stück Kompensation, das sie fordert, doch wohl drin sein! „Deshalb ist unsere Forderung einfach nur notwendig, um den Beschäftigten bei Bus und Bahn das Notwendigste zum Leben zu ermöglichen.“ (7.2.23) Zudem bringt sie ihre vergangene Zurückhaltung ins Spiel, als sei die kein Verzicht, sondern eine Vorleistung gewesen, die nun zur Forderung nach entsprechender Gegenleistung berechtigt: „Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in der vorangegangenen Tarifrunde, mit einem Lohnplus von 1,5 Prozent, deutliche Zurückhaltung geübt haben.“ Und auch das Wohl des Betriebs hat sie nach wie vor fest im Auge: Schließlich müsse die Bahn doch daran interessiert sein, „schnellstmöglich eine Vielzahl an neuen Beschäftigten zu gewinnen“, damit nicht „in Zukunft noch mehr Züge ausfallen“.

All die schönen Argumente nützen der EVG allerdings nichts. Denn auch dieses Jahr steht ihr ein Tarifpartner gegenüber, der auf seinem Interesse als Maß der Dinge beharrt, also die Zurückhaltung der Gewerkschaft nicht etwa als Tugend schätzt, die ein bisschen Entgegenkommen verdient, sondern als Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit einfordert. Die Bahn besteht zum Auftakt nachdrücklich darauf, dass eine Kompensation der massiven Einkommensverluste der Belegschaft mit ihr nicht zu haben ist; die ökonomische Rechnung, für die sie überhaupt eine Belegschaft beschäftigt, lässt Rücksichtnahmen dieser Art schlicht nicht zu. Allenfalls ein Bruchteil der gewerkschaftlichen Forderung ist drin: „Statt der geforderten Laufzeit von zwölf Monaten seien inakzeptable 27 Monate angeboten worden, insgesamt sollen die Löhne nur um 5 % statt um 12 % steigen und auf die der EVG sehr wichtige soziale Komponente von 650 Euro mehr im Monat sei überhaupt nicht eingegangen worden. Stattdessen wurde eine Einmalzahlung von insgesamt 2.500 Euro angeboten.“ (15.3.23) Das Angebot der DB soll überhaupt erst Ende 2023 erstmals partiell greifen, die volle Erhöhung erst Mitte 2024 tabellenwirksam werden, sodass die Inflationsrate auch in Zukunft – nur durch eine Einmalzahlung gebremst – auf die Löhne durchschlagen kann, von einer Kompensation vergangener Lohnverluste ganz zu schweigen.[2]

Und auch der zweiten wesentlichen Forderung, die die Gewerkschaft mit dieser Tarifrunde verbindet, erteilt die Bahn erst einmal eine Absage. „Im Rahmen der Tarifrunde 2023 werden wir Sorge dafür tragen, dass der Mindestlohn tabellenwirksam wird“ (16.9.22), kündigte die EVG bereits voriges Jahr im Zuge der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns an. Dieser Ankündigung entsprechend fordert sie jetzt, dass die Lohntabellen zunächst einmal auf die Höhe des aktuellen Mindestlohns angehoben werden, bevor das übliche Gefeilsche über die Lohnprozente auf dieser Basis seinen gewohnten Gang gehen kann. Dass die Bahn die gesetzlichen Mindestbestimmungen momentan nur durch einen Zuschuss auf die tariflich vereinbarten Stundenlöhne überhaupt erfüllt, hält die Gewerkschaft, die diese Tariflöhne ausgehandelt hat, inzwischen für eine Schande: Das „empfinden wir als schäbig und wollen deshalb den Tabellenlohn auf 12 Euro anheben, bevor wir über Lohnerhöhungen verhandeln“ (5.3.23). Die Bahn sieht es lieber umgekehrt: Immerhin erfüllt sie alle gesetzlichen Lohnauflagen, obwohl die ja gar nicht mit der Gewerkschaft vereinbart wurden – schäbig ist da allenfalls, dass die EVG jetzt anders tut. Wenn die nun höhere Löhne erstreiten will, kontert die Bahn damit, dass mit der eigenen Großzügigkeit, die EVG-Mickerlöhne per Zulage auf Mindestlohnniveau aufzustocken, ein Großteil der neuen gewerkschaftlichen Forderungen ja wohl bereits abgegolten, also auf die auszuhandelnde Tariferhöhung anzurechnen ist. So weist die Bahn nicht nur die Bitte um eine Kompensation der inflationsbedingten Verarmung kategorisch zurück. Sie nötigt die Gewerkschaft dazu, um die tarifliche Anerkennung des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns kämpfen zu müssen, und reicht ihr gewissermaßen zurück, dass für dieses Lohnniveau bislang nicht die Gewerkschaftsmacht gesorgt hat, sondern der Gesetzgeber mit seinem Machtwort.

Selbstverständlich geht die Absage der Bahn an beide Kernforderungen der Gewerkschaft mit dem Angebot zur Verhandlung einher, weshalb laut dem Konzern jeder Arbeitskampf von vornherein unverhältnismäßig ist. Also zeigt er sich entsetzt, wenn die EVG sich dennoch anmaßt – und sei es auch noch so zurückhaltend – wie eine Gewerkschaft aufzutreten und es im Frühjahr mit einem eintägigen und dann noch einmal mit einem halbtägigen Warnstreik sogar zum stundenweisen Stillstand des innerdeutschen Bahnverkehrs bringt. Die DB kann dabei nicht oft genug darauf verweisen, dass nicht nur sie, sondern die ganze Republik entsetzt ist; denn der verlässliche Dienst der Belegschaft an der Geschäftsrechnung der Bahn ist nicht nur deren maßgebliches Interesse, sondern auch das Recht der bahnfahrenden Allgemeinheit – deren Rechnungen stört die Gewerkschaft, die DB dagegen dient ihnen nur, wenn sie auf den ihren besteht. Ausgerechnet diese Frechheit ist für die EVG ernsthaft ein Argument. Sie betont ihrerseits wiederholt, dass, wenn die Räder nun kurzzeitig stillstehen, dann nicht deswegen, weil der starke Arm einer Gewerkschaft das will und sie auf ihrem Interesse besteht, sondern deswegen, weil ihr unverantwortlicher Tarifpartner ihr keine andere Wahl gelassen hat. Einen zunächst angekündigten 50-Stunden-Warnstreik, gegen den die DB mit allen Rechtsmitteln ankämpft, zieht sie zur allgemeinen Beruhigung im letzten Moment zurück. Eine Urabstimmung leitet dann formalrechtlich den Weg zum Unvorstellbaren, zu einem unbefristeten Streik ein, für den die EVG sich zwar bestens gerüstet erklärt: „Die Gewerkschaft habe für einen harten Arbeitskampf genug Geld. ‚Wir hatten unseren letzten unbefristeten Streik vor 31 Jahren. Die Streikkasse ist gut gefüllt.‘“ (Spiegel Online, 23.6.23) Die gewerkschaftliche Drohung ausgerechnet mit Verweis darauf, wie viele Jahrzehnte der letzte richtige Arbeitskampf her ist, stellt allerdings unmissverständlich klar: Die EVG will sich mit der Bahn unbedingt gütlich und schnell einigen. Sie stimmt einer Schlichtung zu und gibt mit ihrer Kompromissbereitschaft an:

„Dass wir jetzt erst einmal nicht zum Streik aufrufen, sondern zu einer Schlichtung bereit sind, zeigt, dass wir im Interesse unserer Mitglieder, die dringend mehr Geld benötigen, einen baldigen Abschluss anstreben... Das Ergebnis muss nun endlich überzeugen, sonst wird das nichts. Was möglich ist, haben die NE-Bahnen [Nichtbundeseigene Eisenbahnen] deutlich gemacht. Hier haben wir mittlerweile mit mehr als zehn Eisenbahnunternehmen Tarifabschlüsse erzielt, die eine Lohnerhöhung von 420 Euro bei einer Laufzeit von 21 Monaten vorsehen.“ (29.6.23)

Da kann man als Gewerkschaft nur hoffen, dass die Bahn sich daran ein Beispiel nimmt.

*

Ende Juli vermelden die Schlichter ihr Ergebnis: Es soll ab Dezember 2023 in zwei Stufen 410 Euro mehr bei einer Laufzeit von 25 Monaten geben – ganze 10 Euro mehr und 2 Monate weniger als das letzte DB-Tarifangebot. Für den EVG-Verhandlungsführer Loroch ist das nur „augenscheinlich nah dran“ am letzten Verhandlungsangebot der DB. So wird z.B. der Mindestlohn endlich „tabellenwirksam“, auch das Ost-West-Lohngefälle soll beendet werden und am Ende der Laufzeit bekommen Mitarbeiter in einigen Schlüsselberufen sogar eine zusätzliche Lohnerhöhung von höchstens 100 Euro... Wem dieses auf mehrere Jahre verteilte tarifvertragliche Gesamtkunstwerk einer kapitaldienlichen Abgeltung aller verflossenen und demnächstigen materiellen Lohnverluste nicht genügt, den verweist die Gewerkschaft auf die offiziell errechnete nominelle Gesamthöhe des Pakets – „eine Erhöhung, die es in dieser Größenordnung in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gab“. Sie ist jedenfalls mit all diesen Abmachungen zufrieden und sieht ihre Mitglieder auch im höheren Sinn gut bedient:

„Diese Punkte scheinen gering, stellen aber eine Grundlage unserer größten Probleme in Deutschland dar. Nämlich das Problem, dass Menschen beruflich hart arbeiten, aber von allen Seiten vergessen werden – leider nicht nur einmal. Wegen dieser Punkte und vieler anderer Details empfiehlt die Schlichtungs-Kommission der EVG dem Bundesvorstand die Annahme...“ (EVG-Verhandlungsführer Loroch, 26.7.23),

was der Vorstand prompt erledigt. Den Rest besorgt die Urabstimmung der Gewerkschaftsbasis Ende August, bei der die freundliche Hürde von 25 Prozent Zustimmung locker genommen wird.

Die GDL kämpft um ihre Existenzberechtigung

Die andere Arbeitervertretung, die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), hat derweil ganz andere Probleme. Tarifauseinandersetzungen stehen zwar auch für sie an, im Herbst, aber für ungleich weniger Beschäftigte in nur wenigen Unterbetrieben der großen DB-Familie (16 von 300) und bei einigen NE-Bahnen. Seit die DB das ihr von der Politik in den Schoß gelegte Tarifeinheitsgesetz in ihren Betrieben anwendet, [3] sieht die GDL sich als Minderheitsvertretung vor dem existenziellen Problem, dass sie rechtlich nicht darf, wozu sie als Gewerkschaft überhaupt da ist: Sie ist ihrer Fähigkeit, Arbeitskämpfe zur Verbesserung der Lohn- und Leistungsverhältnisse ihrer Mitglieder anzuzetteln, größtenteils beraubt. Auf den Konkurrenzkampf der Gewerkschaften um Vertretungsmacht, also um die Frage, wer in welchem Betrieb wie viele Mitglieder vorzuweisen hat, den der Gesetzgeber damit zur wesentlichen Existenzfrage der GDL erhoben hat, lässt sie sich einerseits voll ein und buhlt um Mitglieder – nicht nur bei den Lokführern, sondern in allen Beschäftigungsgruppen. Und wenn ihr dafür mangels eigener Tarifmacht für den Abschluss besserer Löhne nur übrig bleibt, alle gleichlautenden Bemühungen in der Tarifauseinandersetzung der Konkurrenzgewerkschaft nach Kräften schlechtzumachen, dann gibt sie sich der verbalen Missgunst hin.[4]

Mit der gesetzlich hergestellten Unfähigkeit, die Streikmacht der eigenen Mitglieder zur Durchsetzung besserer Tarifverträge entfalten zu können, ist eine Gewerkschaft eigentlich am Ende; ein anderes Mittel als das widersprüchliche Programm, das Geschäft immer wieder, jedes Jahr aufs Neue zu stören, damit ihre Mitglieder als die arbeitenden Kostenfaktoren, die sie für dieses Geschäft sind, auch leben können, hat sie nämlich nicht. Der Einfallsreichtum der GDL-Führung ist damit aber offenbar noch lange nicht am Ende: Man muss die Sache womöglich gar nicht so eng sehen, dass eine Gewerkschaft nur diese widersprüchliche Destruktivkraft ist, also nur die Drohung der kollektiven Arbeitsverweigerung der von Lohnarbeit abhängigen Arbeiter als Mittel für deren Interessenvertretung aufzubieten hat. GDL-Chef Weselsky präsentiert im Juni 2023 gemeinsam mit seinem Co eine neue Idee: eine Genossenschaft namens Fair Train e.G., an der GDL-Mitglieder Anteile erwerben können. Die Fair Train handelt als genossenschaftliches Unternehmen, genauer als Leiharbeitsfirma, die Lokführer auf Basis von mit der GDL ausgehandelten Tarifverträgen bei sich anstellt und fortan der DB (und NE-Bahnen) zur Entleihung anbietet. Die Gründung folgt dem Motto ‚Was die Rechtsabteilung der Bahn kann, das kann die GDL doch wohl auch‘: Wo der Konzern gekonnt die Schlupflöcher des Unternehmens- und Arbeitsrechts ausnutzt, indem er sich je nach Bedarf in unterschiedliche Kleinbetriebe aufspaltet inkl. einer DB-eigenen Zeitarbeitsfirma, fügt die Gewerkschaft dem Geflecht noch ein eigenes Subunternehmen hinzu und macht die Schranken des Tarifeinheitsgesetzes so für sich unwirksam: Im Fair-Train-Leihunternehmen hat die GDL natürlich definitiv die Mitgliedermehrheit, darf also Tarifverträge für ihre Mitglieder mit der Genossenschaft aushandeln und ihre Vorstellungen von gerechten Löhnen für Lokführer umsetzen. Die verleiht sie anschließend an die DB, zu Preisen, die sie für angemessen hält. Über diesen rechtlichen Umweg schafft sie es dann doch, so die Kalkulation, für die Lokomotivführer, die in den Zügen der Bahn arbeiten und die in der GDL organisiert sind, den Preis der Arbeit mitzubestimmen – obwohl sie im jeweiligen Bahnbetrieb keine Mitgliedermehrheit hat. Dabei setzt die GDL bzw. die Genossenschaft darauf, dass der DB aufgrund des Fachkräftemangels an Lokomotivführern nichts anderes übrig bleiben wird, als sich in Form der Entleihkosten auf die höheren Stundenlöhne einzulassen, die der gewerkschaftliche Leiharbeitgeber für seine Leiharbeitskräfte verlangt. Den auszunutzenden Mangel an Fachkräften gedenkt sie zudem selbst mit herzustellen, indem sie direkt bei der Bahn beschäftigte Lokführer – vornehmlich GDL-Mitglieder – abwirbt und so die Engpässe gezielt mit herbeiführt, für die sie dann die passenden Angebote hat. Ihre verloren gegangene Streikmacht, die die GDL nicht mehr einsetzen kann, hätte sie so formell durch ein Stück unternehmerische Marktmacht ersetzt, deren Anwendung der Gesetzgeber keine Steine in den Weg legt. Und für sie bzw. die von ihr vertretenen Mitglieder würde so unterm Strich das gewerkschaftlich Beabsichtigte herauskommen: Beschäftigung bei der DB zu besseren Löhnen.

Natürlich hat das alles erst einmal den Charakter einer Absichtserklärung: Die Fair Train e.G. ist gegründet, alle weiteren Fragen sind noch offen: Lassen die festangestellten Lokomotivführer sich auf das Abenteuer ein und kündigen ihre Jobs? Tut die Bahn der Gewerkschaft mangels Alternativen wirklich den Gefallen, Geschäfte mit der Fair Train zu machen? Der „bahnbrechenden“ Kampfansage (Wortspiel Weselskys) folgt die Ankündigung auf dem Fuße, es erst einmal mit einigen wenigen Angestellten – von ungefähr 50 ist die Rede – versuchen zu wollen.

Die Deutsche Bahn droht schon einmal vorsorglich mit dem Rechtsweg – wegen der Verletzung gewerkschaftlicher Vertretungsrechte und -pflichten: Neben der Infragestellung der Gegnerfreiheit [5] steht auch der Verdacht der Veruntreuung von gewerkschaftlichen Mitgliedsbeiträgen im Raum. Linke Arbeitnehmerfreunde verweisen dagegen kritisch auf die Risiken des gewerkschaftlichen Unternehmens:

„Das ist eine Milchmädchenrechnung. Wer wird für die Ausbildung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Betriebsrenten und – im Fall beamteter Lokführer – Pensionen aufkommen? Was geschieht, wenn Lokführer von Bahnunternehmen gekündigt werden? Denn Kündigungsschutz genießen sie als Leiharbeiter nicht, und Fair Train wird nicht lange in der Lage sein, ihre Gehälter weiter zu bezahlen.“ (wsws.org, 10.6.23)

Auf solche Einwände sind Weselsky und Konsorten zwar vorbereitet und antworten ein ums andere Mal, dass die entsprechenden Gelder aus dem Startkapital der Genossenschaft vorgeschossen werden sollen, bis die sich dann einmal selbst durch ihre Gewinne trägt. Der Sache nach wird mit dieser immanenten Kritik allerdings der Widerspruch des kreativen Auswegs der GDL aus ihrer gesetzlichen Degradierung angesprochen, wenn sie ernstlich als Gewerkschaft auf das unternehmerische Mittel der Leiharbeit setzt: Die höheren Lohnansprüche, die sie der Bahn im Erfolgsfall aufbürdet, erkauft sie sich dadurch, dass sie die Bahn mit all den Vorzügen ausstattet, die die Leiharbeit für die entleihenden Unternehmen hat und für die sie nun einmal erfunden wurde: Mit der alternativen Beschäftigungsform ist die Bahn beim Zugriff auf die Arbeit von allen möglichen Pflichten gegenüber der Arbeitskraft in puncto Arbeitsplatzsicherheit, Lohnfortzahlung, Betriebsrenten usw. befreit, für die sich Gewerkschaften üblicherweise mit ihren Tarifvereinbarungen über die vom Gesetzgeber verlangten Mindestbestimmungen hinaus starkmachen. Weil die GDL auch in ihrer rechtlich gewandelten Gestalt als Leiharbeitsunternehmen Gewerkschaft, also Arbeitnehmervertretung bleibt, macht sich diese Befreiung für sie als ein ganzer Satz an neu geschaffenen Verantwortlichkeiten geltend: Sie muss irgendwie dafür sorgen, für ihre Leute all das zu kompensieren, wovon sie die Bahn entlastet.

Es ist eben gar nicht so einfach, es als Gewerkschaft – als die Organisation der abhängigen Seite des Geschäfts mit Lohnarbeit – dem Kapital – dem ökonomisch herrschenden Interesse in diesem Verhältnis – gleichzutun und die rechtlichen Schranken der eigenen ökonomischen Interessen mit juristischen Tricksereien auszuhebeln.

II. Amazon: Mindestlohn als antigewerkschaftliches Kampfmittel – noch so ein Fall

Auch bei Amazon geht es der Gewerkschaft um nicht weniger als ihre Daseinsberechtigung. Der Konzern verweigert der vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) seit inzwischen zehn Jahren die Anerkennung als Tarifpartner. Welche Leistung für welchen Lohn – für Amazon sind das Fragen, die eine Gewerkschaft schlicht nichts angehen. Und auch nichts angehen dürfen, damit der Weltkonzern die Handlungsfreiheit ausschöpfen kann, die seinen Bilanzen so gut bekommt und den Wallraffs dieser Welt stets neuen Stoff zum Aufdecken gibt.

Genau darum kämpft ver.di auch in diesem Jahr: um Tarifbindung überhaupt, um Mitzuständigkeit in Fragen von Lohn und Leistung, also um die schiere Bedingung dafür, irgendetwas daran zugunsten der Belegschaft drehen zu können – eine Bedingung, die bei Amazon noch nie gegolten hat und in der deutschen Arbeitswelt insgesamt immer weniger gilt. Zu dem Zweck veranstaltet die Gewerkschaft einige Ausstände, die rund um den Schnäppchentag ‚Amazon Prime Day‘ im Juli kulminieren sollen. Ihre Forderung verkauft sie dem Konzern selbst als ein Schnäppchen: Er soll die Bezahlung seiner Angestellten in den landesweiten Logistikzentren endlich nach den von ver.di ausgehandelten Flächentarifverträgen des Einzel- und Versandhandels abwickeln; sehr teuer wäre das für Amazon nicht, der dort aktuell von ver.di geforderte Branchenmindestlohn beläuft sich schließlich nur auf 13,50 € die Stunde. Je mehr Druck für diese Forderung von der Gewerkschaft auf das Unternehmen ausgeübt wird, umso verlockender müsste für Amazon doch die in Aussicht gestellte Alternative eines tariflichen Friedens aussehen: „Ver.di und die Amazon-Beschäftigten in Deutschland geben nicht auf. Sie werden erst dann ruhiger werden, wenn sie den Tarifvertrag haben. Sie bleiben dran, solange es braucht.“ (verdi.de)

Für Amazon, da geht es auch der anderen Seite ums Prinzip, ist das kein Angebot: Die Freiheit, über die Beschäftigten ganz nach eigenen Rentabilitätsgesichtspunkten zu verfügen, ist überhaupt sein Erfolgsmodell, insofern auch seine Existenzbedingung. Für die fällige Absage macht Amazon sich den Umstand zunutze, dass die Lohnforderungen von ver.di so wenig über das Niveau der bislang bei Amazon gezahlten Löhne hinausreichen – deren Lohnforderungen für alle übrigen ‚tarifierten‘ Unternehmen der Einzel- und Versandhandelsbranche also so mies sind –, dass der Konzern sie mit einem freiwilligen Aufschlag von 2 Euro auf den gesetzlich verordneten Mindestlohn ohne Weiteres übertrumpfen kann. Die Ankündigung, künftig ganz ohne Tarifvertrag stolze 14 Euro die Stunde zu bezahlen – also mehr, als die Gewerkschaft überhaupt fordert –, lässt jedes gewerkschaftliche Bemühen um eine taugliche Arbeitnehmervertretung ins Leere laufen.

So geht es also auch, der Gewerkschaft vorzuführen, wessen Mittel der gesetzliche Mindestlohn ist.

[1] Alle Zitate ohne weitere Angabe aus evg-online.org

[2] Das Gesamtangebot der DB laut Pressemeldung der DB vom 15.3.23:

  • Die Löhne der DB-Beschäftigten steigen in zwei Schritten um insgesamt 5 Prozent: ab dem 1. Dezember 2023 um 3 Prozent, ab dem 1. August 2024 noch einmal um 2 Prozent.
  • Als soziale Komponente zur Abfederung der gestiegenen Lebenshaltungskosten erhalten die Mitarbeitenden eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 2.500 Euro (Azubis: 1.250 Euro): Im Mai 2023 gibt es 1.500 Euro (Azubis: 750 Euro), im Januar 2024 gibt es 1.000 Euro (Azubis: 500 Euro).
  • Es wird ein „tariflicher Bahn-Mindestlohn“ in Höhe von 13 Euro pro Stunde eingeführt. Damit geht die DB eindeutig und deutlich über den gesetzlichen Mindestlohn hinaus.
  • Soweit nach der Einführung des tariflichen Bahn-Mindestlohns regionale Lohnunterschiede bleiben, verpflichtet sich die DB, über entsprechende Anpassungen zu verhandeln.
  • Weitere Punkte des Angebots stecken zeitgemäße tarifliche Rahmenbedingungen ab, um Kundenbedürfnisse attraktiver erfüllen zu können und wettbewerbsfähige Beschäftigung zu sichern. Zum Beispiel geht es um das Ermöglichen mehrerer Auswärtsübernachtungen für Lokführer bei DB Cargo auf freiwilliger Basis, so wie bei Konkurrenten im Markt längst üblich.
  • Die Laufzeit beträgt 27 Monate.

[3] Das seit 2015 gültige Tarifeinheitsgesetz, das mit dem expliziten Ziel erfunden wurde, „zu verhindern, dass kleine Spartengewerkschaften ‚das Land lahmlegen‘ können“, schreibt vor, dass „bei kollidierenden Tarifverträgen in einem Betrieb“ (Wikipedia, s.v. Tarifeinheit) nur der Tarifvertrag jener Gewerkschaft gilt, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder vertritt. Seit dem Auslaufen der letzten mit der GDL noch wirksam vereinbarten Tarifverträge aus der Zeit vor dem Gesetz wendet die Bahn das Rechtsprinzip der Tarifeinheit konsequent an, was für die GDL in den meisten Bahnbetrieben de facto der Unmöglichkeit gleichkommt, für ihre Mitglieder bessere Lohn und Arbeitsbedingungen zu vereinbaren und sie nebenher einige Rechtsstreits um Fragen der Feststellung der Mitgliedermehrheit kostet.

Siehe auch: ‚Keine Tarifauseinandersetzung, sondern bloß ein Machtkampf‘ – was heißt hier bloß?! Der Kampf der GDL um ihre Tarifmacht und das Ringen des Staates um ein neues Streikrecht in GegenStandpunkt 4-14, sowie Der Tarifkampf und Tarifabschluss bei der Bahn. Die trostlose Wahrheit des stolzen Rechtes auf gewerkschaftlichen Arbeitskampf in GegenStandpunkt 3-15.

[4] Als Kostprobe ein Flugblatt der GDL vom 21.4.23 mit dem Titel: „‚Streik‘ der Hausgewerkschaft DB AG. Schwäche wird verschleiert“, das die Tarifauseinandersetzung der Konkurrenzpartei mit der Bahn als abgekartetes Spiel denunziert:

„Bereits beim letzten Warnstreik am 27. März 2023 der EVG hat der bundeseigene Konzern seiner Hausgewerkschaft unter die Arme gegriffen. Im März und mit dem erneuten prinzipiellen und aus dem Bahntower angeordneten Ausfall des gesamten Eisenbahnverkehrs im Nah-, Fern- und Güterverkehr am 21. April 2023 wird wirksam der Öffentlichkeit suggeriert, wie machtvoll doch die imaginäre Interessenvertretung ist. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall.

Ohne das Wirken der Deutschen Bahn AG und der angeordneten Ausfälle ist keineswegs mit einem flächendeckenden Ausfall des Eisenbahnverkehrs zu rechnen. Seit der Öffnung der GDL, für alle direkten Eisenbahner Verantwortung zu übernehmen, haben etliche Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Berufen den Weg in die aktuell in Friedenspflicht befindliche GDL gefunden. Eine Aufrechterhaltung eines Grundangebotes – wie es im Übrigen in der Vergangenheit bei Arbeitskämpfen der GDL immer angeboten wurde – wäre mit Kolleginnen und Kollegen ohne gewerkschaftlichen Hintergrund und Mitgliedern der GDL sicher möglich gewesen.

Ohne auf die Bedürfnisse ihrer Kunden einzugehen, verschleiert mit dieser erneuten Aktion der steuergeldfinanzierte Konzern die Schwächen seiner treuen Hausgewerkschaft EVG.

Auch die ‚streikenden‘ Mitglieder der EVG profitieren natürlich von dieser Aktion. Durch den vom Arbeitgeber verordneten ‚Ausfall der Arbeit‘ ist die aktive Teilnahme am Arbeitskampf gar nicht mehr erforderlich und der streikbedingte Entgeltabzug findet nicht statt. Die Teilnahme am ‚Streik‘ wird somit zur Teilnahme an einer Demo in der Freizeit. Wie bei der Feststellung der Mehrheiten in den Betrieben agiert die DB AG auch in dieser Hinsicht tendenziös im Sinne seines treuen Schoßhündchens.“

[5] „Gegnerfreiheit ist eine nach höchstrichterlicher Rechtsprechung notwendige Eigenschaft einer Gewerkschaft. Gegnerfrei ist eine Organisation dann, wenn keine finanzielle oder personelle (z.B. durch Mitgliedschaft von Arbeitgebern) Abhängigkeit von sozialen Gegenspielern (Unternehmen, Arbeitgebern) besteht.“ (Wikipedia, s.v. Gegnerfreiheit)