Ukraine, Gaza – die Kriege des Jahres 2023

Blutige Lektionen über den Segen staatlicher Souveränität – und über die bodenlose populäre Meinungsbildung darüber

Im Krieg wird die Moralität der bürgerlichen Gesellschaft auf den Kopf gestellt: Was der Mensch im Frieden keinesfalls darf, andere Menschen umbringen, wird ihm nun befohlen; das Recht auf Leben, sein Schutz ein Höchstwert der Verfassung, weicht der Pflicht, es für den Staat hinzugeben. Die Umwertung der Werte macht den Krieg zur ultimativen moralischen Herausforderung. Er provoziert – ausgerechnet – das Bedürfnis nach Rechtfertigung. Bedeutende und weniger bedeutende Inhaber einer Meinung beantworten allen Ernstes die Frage, ob die große Schlächterei – für welche Kriegspartei und unter welchen Gesichtspunkten – in Ordnung geht. Nicht erst die unbedingte Parteilichkeit, mit der im NATO-Westen Schuld und Unschuld an den aktuellen Kriegen, Recht und Unrecht zum Bombardieren verteilt werden, schon die Frage, ob die das dürfen bzw. welche Kriegspartei was darf, die manche ja auch abweichend beantworten, ist ein einziger Fehler.

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Ukraine, Gaza – die Kriege des Jahres 2023 
Blutige Lektionen über den Segen staatlicher Souveränität – und über die bodenlose populäre Meinungsbildung darüber

Im Krieg wird die Moralität der bürgerlichen Gesellschaft auf den Kopf gestellt: Was der Mensch im Frieden keinesfalls darf, andere Menschen umbringen, wird ihm nun befohlen; das Recht auf Leben, sein Schutz ein Höchstwert der Verfassung, weicht der Pflicht, es für den Staat hinzugeben. Die Umwertung der Werte macht den Krieg zur ultimativen moralischen Herausforderung. Er provoziert – ausgerechnet – das Bedürfnis nach Rechtfertigung. Bedeutende und weniger bedeutende Inhaber einer Meinung beantworten allen Ernstes die Frage, ob die große Schlächterei – für welche Kriegspartei und unter welchen Gesichtspunkten – in Ordnung geht. Nicht erst die unbedingte Parteilichkeit, mit der im NATO-Westen Schuld und Unschuld an den aktuellen Kriegen, Recht und Unrecht zum Bombardieren verteilt werden, schon die Frage, ob die das dürfen bzw. welche Kriegspartei was darf, die manche ja auch abweichend beantworten, ist ein einziger Fehler.

Die kriegführenden Seiten dürfen das nämlich; richtiger, „dürfen“ ist die falsche Messlatte zur Beurteilung des Handelns höchster Gewalten: Die kennen kein höheres Recht über sich und demonstrieren genau das deutlich genug, wenn sie untereinander kriegerisch auskämpfen, welche Seite sich gegenüber der anderen was herausnehmen darf und welche Seite sich was gefallen lassen muss. Wenn sie nach dem Krieg bei geklärten Über- und Unterordnungsverhältnissen einen Frieden aushandeln, auch dann halten sie sich an kein Recht, sondern setzen neues. Die eingebildete Richterrolle, die jedermann und jede Frau einnehmen darf und soll, und die Urteile mit guten und schlechten Noten oder auch gleich verteilter Missbilligung, die sie über die engagierten Gewaltsubjekte verhängen, ändern am Krieg, seinem Verlauf und Ausgang überhaupt nichts. Sie erreichen die Be- und Verurteilten gar nicht. Sie ändern aber sehr wohl etwas in Bezug auf die Laienrichter selbst: Die halten sogar im Krieg daran fest, dass sie die eigentlichen Auftraggeber und irgendwie maßgeblichen Beurteiler des kriegerischen Handelns der Staatsgewalten seien, die ihresgleichen gerade im großen Stil verbrauchen. Teils machen sie sich so zu Parteigängern einer Seite; auf jeden Fall erarbeiten sie sich mit ihrer ideellen Einmischung in den Krieg einen sehr konstruktiven Standpunkt, mit dem sie richtig und falsch beim Töten und Sterben unterscheiden.

I. Nie ist der Gegensatz von Staat und Mensch so offensichtlich und brutal wie im Krieg – zugleich wird nie so unerbittlich darauf bestanden, dass beide untrennbar eins sind

Worum es im Krieg geht, ist kein Geheimnis. Die politischen Kriegsherren sagen es überdeutlich, man muss ihnen nur zuhören: Der ukrainische Präsident Selenskyj z.B. verteidigt die Souveränität und territoriale Integrität seines Landes gegen einen russischen Angriff und schwört, mit dem Kriegführen nicht aufzuhören, bis die Russen von jedem Meter ukrainischen Bodens einschließlich der Krim vertrieben sind. Getötet und gestorben wird also dafür, dass die Macht der Regierung in Kiew bis nach Donezk und Sewastopol reicht und keine andere politische Herrschaft die eigene über Land und Leute im beanspruchten Hoheitsgebiet beeinträchtigt und deren Entscheidungsfreiheit einengt. Dieser Rechtsanspruch auf die Reichweite der eigenen Souveränität macht sich nicht davon abhängig, ob die Leute, die auf der Krim oder im Donbass wohnen, lieber Russen oder Ukrainer sein wollen. Sie werden nicht gefragt. Überhaupt rechtfertigt Selenskyj seine Machtansprüche nicht, begründet seinen Ukrainern nicht, warum die Krim unbedingt ins Reich zurückgeholt werden muss und was sie davon haben würden. Die Verkündung des Kriegsziels ist schon dessen Rechtfertigung und für die Bürger ein Imperativ, dem sie nicht auskommen.

Offenbar ist „Ukraine“ der härteste Gegensatz gegen das Leben derer, die für das Ding namens „Ukraine“ den Kopf hinhalten müssen – und zwar unabhängig davon, ob sie das mit Hurra auf den Lippen tun oder nicht. „Ukraine“ – das ist nicht „die ukrainischen Menschen“, sondern die politische Herrschaft, der sie gehorchen. Die da sterben, haben sich ja den Feind nicht selbst ausgesucht, geschweige denn die Mittel zugelegt, mit denen sie ihn unter Einsatz ihres Lebens bekämpfen. Sie sind rekrutiert, uniformiert und ausgerüstet worden innerhalb eines Apparates politischer Macht. Ukraine ist zuallererst ebendieses Verhältnis: die Scheidung zwischen den Inhabern und Funktionären der Staatsmacht und denjenigen, die sie als Basis und Instrument ihrer Macht zum Kämpfen abkommandieren. Dieser Gegensatz wird gegen „ukrainische Menschen“ mit aller Gewalt ausgetragen, sobald einem von ihnen das Leben wichtiger ist als die Reichweite der Macht der Regierung: Leute, die abhauen wollen, werden eingefangen, Deserteure eingesperrt, sogenannte Kollaborateure fallen geheimdienstlichen Attentaten zum Opfer.

Für die Selbstbehauptung ihrer souveränen Macht nimmt die ukrainische Führung außer dem Verheizen ganzer Generationen auch die Zerstörung alles dessen in Kauf, was auf dem nationalen Territorium Lebensbedingung ist, worin und wovon also die ansässige Bevölkerung lebt. Eine an den Feind verlorene Stadt existiert für die Hauptstadt nicht mehr, denn sie hat dort nicht mehr das Sagen; schlimmer noch, sie ist nun Bastion und Ressource des Feindes und wird vom Heimatstaat erst recht in Schutt und Asche gelegt. Leben und Lebensbedingungen der Bevölkerung sind es wert unterzugehen, wenn dadurch nur die Staatsmacht überlebt und sich behauptet. Das klärt die Prioritäten.

Selbstverständlich lässt sich vom russischen Staat und seinen Machtansprüchen dasselbe sagen, was aber überflüssig ist, weil man im Westen all das überhaupt nur, dafür unentwegt beim russischen Staat entdecken will. Freilich fällt auf, dass die atomar bewaffnete Großmacht im Osten ihre Souveränität anspruchsvoller definiert; sie ringt bisher nicht um ihren territorialen Bestand. Aber wenn man das nicht gleich moralisch in „Unrecht“ auflöst, sondern fragt, warum deren Führung diesen Krieg für nötig hält, dann landet man dabei, dass es zur Souveränität eben auch dieser Macht gehört, im Wortsinne eigenmächtig festzulegen, was sich mit der eigenen Unversehrtheit im Verhältnis zu anderen Mächten verträgt und was nicht. Mit einer hochgerüsteten NATO-Ukraine an seiner Westgrenze will sich Russland nicht abfinden; die versteht es als Angriff auf seinen Weltmacht-Status, den es sich vom stetigen Vorrücken des westlichen Militärbündnisses nicht bestreiten lässt. Dafür opfert Russland massenhaft Leute, die auch nicht gefragt werden, was ihnen eine russische Weltmacht wert ist. [1]

Zugleich besteht die politische Herrschaft im Krieg, in dem sie die Menschen, die ihr gehorchen, als Verschleißmaterial ihrer Selbstbehauptung zum Einsatz bringt, auf der unbedingten Identität der Bürger mit ihrem Staat: Alles, was die ukrainische Herrschaft für sich tut und erreicht, tut sie für die ukrainischen Menschen. Jede neue Rakete aus dem Westen, mit der man dem Feind weit hinter den Linien zusetzt, rettet ukrainisches Leben; jede Rückeroberung einer Trümmerwüste, in der kein Mensch leben kann und kaum mehr einer lebt, befreit Ukrainer. Die russische Seite hält es ebenso: Wenn sie die Ukraine zerstört und sich einige von deren Oblasten aneignet, ist das nichts als ein Schutz für die prorussische Bevölkerung im Donbass, die „auf uns zählt und die wir nicht im Stich lassen dürfen“ (Putin).

Überall versteht sich die Selbstbehauptung der Staatsmacht gegen einen äußeren Feind als Einlösung eines Schutzversprechens gegenüber den ihr zugehörigen Menschen; ganz besonders in Israel, das sich als Staat überhaupt nur zum Schutz jüdischen Lebens in einer feindlichen Umwelt gegründet und immer weiter ausgedehnt hat. Die Wahrheit dieses Schutzes besteht darin, dass ein Staat so wie das Territorium, über das er herrscht, auch die darauf wohnenden Menschen als seinen Besitzstand betrachtet und hütet. Eingemeindungsansprüche eines anderen Staates auf diese Population oder Angriffe wie die der Hamas auf seine Bürger erkennt er als Angriffe auf seine Souveränität: Die kann er sich nicht gefallen lassen. Dagegen verteidigt er ebendiese Souveränität mit dem Einsatz seines Menschenmaterials. Der Schutz der Bürger, den er sich als Aufgabe zuschreibt, fällt zusammen mit seinem Sieg über den Angreifer – oder auch nicht. Einen anderen Schutz gibt es nicht.

Das totale Ineinssetzen von Staat und den seiner Herrschaft untergeordneten Menschen ist nicht nur eine zynische Propagandalüge, es ist Praxis. Die Obrigkeit erklärt sich nicht nur, sie setzt sich so unbedingt als erste Lebensbedingung ihrer Bevölkerung, dass sie ein Leben außerhalb ihres Kommandos gar nicht kennt und gelten lässt. Dieses Verhältnis nimmt der Staat auch im Frieden den Untertanen gegenüber ein: Sein Gewaltmonopol erzwingt den Gewaltverzicht der Bürger und ist so die unverzichtbare Grundlage ihres kapitalistischen Verkehrs miteinander – erste Lebensbedingung der bürgerlichen Gesellschaft. Im Frieden bestimmt die Staatsmacht mit ihren Gesetzen die Wege und Chancen des individuellen Daseins. Im Krieg, wenn sich der Staat gegen eine konkurrierende Staatsmacht behauptet und dafür das Leben seiner Bürger einsetzt, haben die das als Verteidigung ihrer Lebensbedingungen, ja von sich selbst und ihrer Freiheit zu nehmen: Ohne ihren Staat gibt es kein Leben, weil er keines zulässt.

Es ist eine brutale Ironie, dass die totale Subsumtion des Menschen unter den Staat, die der ihm im Krieg antut, die unwahre Identität glatt subjektiv wahr macht. Der Staat schickt seine Soldaten ins Feuer, setzt seine Zivilisten feindlichen Bombardements aus, sodass deren Überleben tatsächlich am Erfolg der eigenen Truppen hängt. Die feindliche Konfrontation, in die sie von ihrem Staat gestellt werden, erzwingt ihre Identifikation mit ihrer Rolle als Machtressource der Nation. Soldaten treten denen der anderen Seite als genau das gegenüber, was sie selbst sind: komplett auf ihre Staatszugehörigkeit reduzierte Wesen, die einander in dieser und nur in dieser Eigenschaft begegnen und darin füreinander lebensgefährlich sind. Im unpersönlichsten Gegensatz gegen den anderen, den sie nicht kennen und gegen den sie als Mensch nichts haben, müssen sie schneller schießen als der, um ihr eigenes Leben zu retten. Und indem sie tötend um ihr Leben kämpfen, erfüllen sie ihre Funktion als Gewaltinstrument ihrer politischen Herrschaft.

II. Auf diesen Irrsinn des Staatslebens bezieht sich das kritische und unkritische Meinen in Deutschland höchst einfühlsam und konstruktiv. Mit geeigneten Fragen erarbeitet man sich ein Verständnis für die Gemetzel und den rechten Standpunkt zu ihnen 

Konfrontiert mit dem absoluten Gegensatz von Staat und Mensch im Krieg gehen diese Fragen von der unbedingten Identität beider aus, wenn sie zu ermitteln versuchen, wie es zu dem Unfall der Geschichte kommen konnte, oder warum, wenn es einmal so weit ist, eben sein muss, was geschieht.

„Wer hat angefangen?“

Diese Kindergartenfrage gilt erwachsenen Zeitgenossen als gut genug, um sich in der Welt des Imperialismus zu orientieren und mit einer abgebrühten Unterscheidung zwischen Gewalt und Gewalt den Schuldigen am Zusammenstoß von politischen Souveränen herauszufinden. Man stellt sich einen vorgängigen Zustand des Einvernehmens zwischen den höchsten Gewalten vor, Frieden eben, den irgendwann eine der beiden Seiten – „unprovoziert“ darf nicht fehlen – beendet und grundlos durch eine entgegengesetzte, feindliche Positionierung und Handlung ersetzt.

Beim Krieg in der Ukraine sieht die deutsche Öffentlichkeit klar: Von ihm ist nie anders die Rede als dem „russischen Angriffskrieg“; Russland hat angefangen, ist ins Nachbarland einmarschiert. Nach dem Schema von Aktion und Reaktion ist es allein schuld an diesem Krieg; die Ukraine als unschuldiges Opfer verteidigt sich nur und hat deshalb alles Recht dazu. Aller gegen andere unduldsame Herrschaftswille des politischen Souveräns findet sich allein auf der russischen Seite, die Selbstbehauptung der Souveränität aufseiten der Ukraine ist eine Notwendigkeit und fällt mit dem Schutz ukrainischen Lebens zusammen.

Das sieht jeder so, es sei denn, er hält es mit den Russen. Die setzen den Anfang der Feindseligkeiten anders an, etwa bei den diversen NATO-Osterweiterungen seit 1990 oder der westlichen Aufrüstung der benachbarten ehemaligen Sowjetrepublik. Sie wollen nur der Bedrohung durch ein feindliches „Anti-Russland“ entgegengetreten, einem Angriff zuvorgekommen sein. Auch sie haben nur reagiert.

Die Frage nach dem Anfang, die die Kriegsschuld ermitteln und die Parteinahme für die unschuldige Seite begründen soll, begründet gar nichts. Sie setzt eben die Parteilichkeit voraus, die erst aus ihr folgen soll: Man geht schrittweise zurück in die Vorgeschichte eines Konflikts und hört einfach an dem Zeitpunkt auf, der das Handeln der Seite, die man beschuldigen will, als freie – „willkürliche“ – Aktion erscheinen lässt. Wer die andere Seite beschuldigen will, geht noch weiter zurück oder weniger weit.

Wie verlogen dieses Gerichtsverfahren ist, weiß eigentlich jeder im Fall des Gaza-Krieges, bei dem in Deutschland geradezu ein Tabu herrscht, einen Anfang der Feindseligkeiten vor dem 7. Oktober 2023 zu kennen. Die pure Erwähnung des historischen Kontextes – die Vertreibung der Palästinenser aus ihren Wohngebieten, ihre immer weitergehende Verdrängung aus dem Westjordanland unter dem 50-jährigen Besatzungsregime usf. – verbitten sich Israel und seine Unterstützer als unstatthafte „Kontextualisierung“, die vom mörderischen Terrorakt ablenkt, die Schuld der Hamas und das Recht Israels zu allem, was es nun tut, nur relativiert. Wenn UN-Generalsekretär Guterres vorsichtig daran erinnert, dass der Anschlag „nicht im luftleeren Raum stattgefunden hat“, attackiert ihn der israelische UN-Vertreter als Antisemiten. Und mit dem Vorwurf der Voreingenommenheit trifft auch er etwas. Denn wo Fakten sowieso nur zur Legitimierung oder Delegitimierung von Kriegsakten angeführt werden, lässt sich auch der überparteiliche höchste Vertreter der Vereinten Nationen die Vorgeschichte nur zu diesem Zweck einfallen.

Insgesamt ist die „Erklärung“ von Gewaltausbrüchen zwischen Staaten (oder auch Möchtegern-Staaten) nach dem Schema von Aktion und Reaktion verkehrt. Nirgends, auch nicht im Nahen Osten, „folgt“ die Gewalt der einen Seite – quasi automatisch – aus der der anderen; auch dort folgt die „Antwort“ aus dem politischen Programm, das seine Protagonisten angegriffen sehen und für dessen Aufrechterhaltung alle Gewalt, die sie mobilisieren können, das passende Mittel ist.

Die rechte Parteilichkeit vorausgesetzt, kann das Räsonnement um die Kriegsschuldfrage freilich auch ganz anders, nämlich selbstkritisch betrieben werden. Das hebelt die Spiegelfechterei um illegitimen Angriff und legitime Selbstverteidigung zwar komplett aus, tut der Selbstgerechtigkeit der eigenen oder der favorisierten Kriegspartei aber überhaupt keinen Abbruch: Neulich kommt Der Spiegel mit einer Titelgeschichte des Inhalts heraus, dass der jetzige Ukraine-Krieg schon mit dem NATO-Gipfel 2008 unvermeidlich wurde, weil Merkel damals die Aufnahme der Ukraine ins Bündnis verweigert hatte. Die Russen sehen den heutigen Krieg als Folge davon, dass sie dem Westen nicht viel früher Einhalt geboten haben. In Israel gibt es die populäre Auffassung, dass man im Gazastreifen jetzt nicht aufräumen müsste, wenn man 1948 keine halben Sachen gemacht hätte. Palästinenser (Tamim al-Barghouti) führen die jetzige Tragödie darauf zurück, dass sie 1948 den Staat Israel nicht verhindert haben. Der Krieg heute ist nötig, so die Selbstkritik aller Seiten, weil man ihn gestern vermieden hat oder beim Kriegführen nicht weit genug gegangen ist, oder eben, weil man nicht angefangen hat. Immerhin wird so klargestellt, dass die Macht des Feindes mit der eigenen und ihren vitalen Interessen schon seit langem unverträglich ist, von einem einseitigen, einen heilen Frieden brechenden Akt der bösen anderen Seite also keine Rede sein kann.

Mit solcher Aufklärung erarbeitet sich die öffentliche Meinung ein völlig unkritisches und unobjektives Bewusstsein von der Notwendigkeit des Krieges. Von der wirklichen, in der Staatsräson ihres Staates liegenden Notwendigkeit des Krieges hat nämlich keine Ahnung, wer angesichts der laufenden Kriege fragt:

„Was hätten sie denn sonst tun sollen als sich verteidigen?“ 

Hätten Ukrainer, Russen, Israelis, Palästinenser sich den Überfall, die Bedrohung, die Besatzung, die Fremdherrschaft durch den Feind etwa gefallen lassen sollen? Die gar nicht ernst gemeinte Frage nach einer Alternative zum Krieg richtet sich an Landesbewohner, bei denen nichts als ihre Nationalität zählt; sie ruft die gerade im Krieg so absurde Identität von Mensch und Staat ab. Unterscheidet man, wird der Unsinn der Frage nach der sowieso nicht existenten Alternative deutlich: Fragt man Putin, Selenskyj, Netanjahu etc., ist die Frage längst beantwortet. Sie suchen keine Alternative, ihnen fehlt auch keine, sie wissen sich nichts Höheres als die Selbstbehauptung der Souveränität ihrer Macht nach außen und innen; die betreiben sie mit aller Konsequenz. Damit ist die Frage, an die normalen Russen, Ukrainer usw. gestellt, auch schon beantwortet: Sie haben keine Alternative – und zwar aus einem ganz anderen Grund als die obige Frage nahelegt. Sie entscheiden nämlich nichts; Krieg wird ihnen angeordnet, sie werden eingezogen, und wer abhaut oder sich verweigert, wird eingesperrt. Der alte Spruch der Friedensbewegung – „Stell dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin!“ – ist eben ein blöder Wunschtraum: Der Krieg kommt dann schon zu den Menschen in Form von Gestellungsbefehlen zu den einen, in Form von Flächenbombardements zu den anderen.

Gemeint ist die Frage, die keine ist, sondern nur Zustimmung zum Kriegführen einfordert, so, dass die vom Krieg betroffen gemachten Menschen doch eigene gute Gründe haben, zu wollen, was sie von Staats wegen sowieso müssen: Die Palästinenser in Gaza und der Westbank brauchen, heißt es, einen Staat, der sie beschützen kann vor dem, was die Siedler und Israels Armee ihnen antun und der israelische Staat – nicht mehr nur dessen ganz radikaler Flügel – demnächst noch alles machen wird. Erst recht brauchen die Juden eine wehrhafte Heimstatt, die sie vor dem Judenhass in anderen Ländern schützt; die Ukrainer können nur in einem ukrainischen Staat frei sein – und so fort. In der Tat, der Staat schützt sein Volk durch eigene Herrschaft über es – vor fremder, die er aus seinem Bereich mit aller Gewalt fernhält. Dafür benutzt er seine Menschen als Machtressource, gefährdet also ihr Leben, indem er sie für seine Konfrontation mit konkurrierenden politischen Souveränen instrumentalisiert.

Das Überzeugende der obigen Scheinfrage kommt daher, dass es auch in dieser Hinsicht für die heutige Menschheit keine Alternative gibt: Ohne politische Herrschaft leben, das gibt es erstens nicht auf diesem zwischen lauter politischen Souveränen aufgeteilten Globus, und zweitens ist die Rolle des Staatenlosen in einer Welt von Staaten erst recht trostlos: Die Palästinenser als Angehörige eines Volkes ohne Staat werden von der Staatsmacht, in deren Reichweite sie hausen, als Fremdvolk ausgegrenzt, kriegen deren Gewalt und Herrschaft zu spüren, ohne von ihr als Teil ihrer Basis und insoweit als berechtigte Bürger anerkannt zu sein. Dass das ein Unglück ist, macht die Perspektive einer „eigenen“ Souveränität noch lange nicht zu einem Glück. Auch nicht vergleichsweise. Davon zeugt ja das Leben im Reich der Hamas, die in aller Unterlegenheit gegenüber Israel ihre Basis als Rekrutierungsfeld und Deckung für ihren Kampf um den eigenen Staat in Anspruch nimmt und opfert. Apropos Opfer.

„Schaut euch die bestialische Mordaktion der Hamas, Butscha, den Fleischwolf von Bachmut an!“ – Die Opfer des Krieges sind der beste Grund für ihn

Objektiv sind die Kriegsopfer beider Seiten Dokumente des absoluten Gegensatzes der Landesbewohner zu den Staatsgewalten, die sie für ihre Konfrontation miteinander antreten lassen und verheizen. Für die staatsbürgerliche Orientierung im Krieg des eigenen oder verbündeten Staates sind sie das Gegenteil: An den Opfern, die der Feind schafft, erkennen Interessierte dessen bösartige, menschenfeindliche Natur. Kriegsopfer sprechen dann nicht gegen Krieg, sondern gegen den Krieg des Feindes und für das Recht, ja die Pflicht der eigenen oder der favorisierten Seite, ihren Krieg gegen den Feind, der so viel Tod bringt, zu führen und zu gewinnen.

Der parteiliche Blick lässt sich nicht davon irritieren, dass da Opfer im Krieg zum guten Grund für ihn herangezogen werden, sie also der wirkliche Grund für Feindschaft und Krieg, die ihm eben vorhergehen, nicht sein können. Die mit Bildern und Zahlen geführte Demonstration, dass der Feind den Krieg verdient, den die eigene Seite gegen ihn führt, ist so schön und für die richtig eingestellten Leute so überzeugend, dass ihnen gar nicht genug verstümmelte Soldaten, ausgebombte Dörfler und – vor allem – tote Babys für immer denselben Schluss auf die Menschenverachtung des Feindes präsentiert werden können. Das tägliche TV-Angebot zur Opferbeschau ist riesig; manche Bilder sind angeblich für die hartgesottenen Mitleidenden vor den Bildschirmen so unerträglich, dass man sie ihnen nur verpixelt zeigen kann, dafür aber 100-mal. Der verlogene Humanismus der Meinungsmacher und die lenkbare Empathie der Zuschauer sind dabei durchaus zu Unterscheidungen fähig: Das Mitgefühl gilt zuerst „unschuldigen Zivilisten“, vorzugsweise Frauen, nicht wehrfähigen Alten und, wie gesagt, Kindern; tote Kombattanten der eigenen Seite sind natürlich auch zu bedauern, für die Verteufelung des Feindes aber schon weniger geeignet, weil sie als zwangsweise rekrutierte Täter nicht bloß Opfer sind.

Damit sich der Konsument der Kriegsberichterstattung nicht vertut, müssen die Profis, die das Opfer-Argument inszenieren, wissen, wo die Trennung und Entgegensetzung von Staat und Mensch, die ja überhaupt nicht unbekannt ist, wo die Identifikation beider und in welcher Abfolge der Wechsel dazwischen stattzufinden hat.

Die Attacke der Hamas im Süden Israels hat sich gegen tanzende, betende, ihren Alltag verrichtende Menschen – ohne nationales Prädikat – gerichtet: „Sie mussten sterben, nur weil sie Juden waren.“ Obwohl es alle besser wissen und man niemandem damit etwas Neues sagt, gilt hier nicht, dass die Hamas ihren Krieg um einen eigenen Staat gegen den Staat Israel führt, der eine palästinensische Souveränität auf keinen Fall zulässt. Die Menschen in Israels Grenzregion kommen tatsächlich ins Visier der islamistischen Kämpfer nicht als Menschen und auch nicht wegen ihrer Beziehung zu ihrem besonderen Gott, sondern als Elementarteilchen und Repräsentanten der israelischen Nation – ob sie das nun bewusst sein wollen oder nicht. Auch der Feind tut ihnen die Abstraktion an, die ihnen der eigene Staat antut: Sie sind seine menschliche Basis, Quelle seiner Macht – und deswegen Objekt feindlicher Gewalt. Kaum ist die Menschenfeindlichkeit der Hamas gegen das pure Leben festgestellt, sind deren Opfer nicht mehr abstrakte Menschen, sondern Israelis, Besitzstand und Schutzobjekt ihres Staates. Der kann sich diesen Übergriff auf sich nicht bieten lassen, setzt nun seine Hoheit über Gaza kriegerisch durch und liquidiert nach eigener Bekundung die Hamas samt allen ihren Aktiven. Dieser Kriegsakt soll – nun wiederum umgekehrt und unbeschadet dessen, dass er den Tod israelischer Geiseln in der Hand der Hamas sowie einer unbekannten Zahl eigener Soldaten bewirkt – nichts anderes sein als die Rettung jüdischen Lebens.

Dass die Gegenseite die Sache mit gleichem Recht und zehnmal so vielen Toten genauso sieht – nur umgekehrt, irritiert in Israel und seinen Partnerländern selbstverständlich niemanden: Sie lügt eben. Bei den Opfern, die der eigene Krieg auf der Seite des Feindes schafft, liegen die Dinge nämlich anders. Wenn man sie – wie im Fall des Massensterbens in Gaza – nicht übergeht, erinnert man sich zur Abwechslung an die Wahrheit, dass die Bevölkerung im Krieg von ihrer Herrschaft als Machtbasis und Machtmittel instrumentalisiert wird, und macht dem Feind das als seine Menschenverachtung zum Vorwurf: Die Toten in Gaza, die israelische Bomben und Granaten schaffen, „gehen alleine aufs Konto der Hamas“ (Netanjahu). In ihrem Fall ist die Benutzung der Bevölkerung für die Kriegführung Missbrauch – als „menschliche Schutzschilde“. Die eigenen Leute solchen Gefahren auszusetzen, ist ein Verbrechen. Natürlich lassen sich die Humanisten in der israelischen Militärführung von solchen moralischen Fallen nicht beeindrucken, bei ihrer Aufräumaktion von menschlichen Schutzschilden nicht im Ernst behindern.

Damit ist das Thema der letzten Prüffrage angeschlagen, mit der das rechte Verständnis in Kriegsdingen zu bilden ist:

„Vertritt der Kriegsherr wirklich das Volk – oder missbraucht er es für eigene Machtambitionen?“

Der unbedingte Gegensatz von Staat und Mensch ist in dieser Welt von Staaten alles andere als unbekannt. Man muss nur wissen, wo er hingehört. Er gehört zum Feind. Ihm bestreitet man das unwahre „Wir“, das auf der eigenen Seite im Krieg unbedingt hochgehalten wird. Die Selbstbehauptung seiner Staatsmacht ist kein echter Staatsauftrag und kein Volksbedürfnis, sondern die egomanische, eventuell größenwahnsinnige Ambition eines, nun auch so genannten, „Herrschers“.

Diese Unterscheidung definiert auch die Rolle der menschlichen Machtinstrumente, die im Krieg zum Einsatz kommen. Die an die Front beorderten Soldaten, deren Lebenserwartung gegen Null geht, werden im Fall der befreundeten und mit Waffen ausstaffierten Ukraine als Subjekte des Krieges hofiert: Sie verteidigen sich und, wenn sie sterben, sind sie nicht, sondern bringen ein Opfer für ihr Volk und seine Zukunft. Sie sind Helden. Dieselben Soldaten auf der anderen Seite, die in derselben Lage dasselbe tun, sind Kanonenfutter, sie sterben sinnlos, verteidigen kein „Wir“, sondern sind missbrauchte Opfer eines grundlosen, persönlichen Machtwillens. Und wenn Putin Orden verleiht und Heldengedenktage ausrichtet, durchschaut jeder den Zynismus.

*

Krieg, der nicht die Normalität des Verkehrs zwischen den Staaten ist, aber immer wieder droht und manchmal ausgefochten wird, zeugt von der brutalen, zugleich unabdingbaren Grundlage allen Staatslebens: Die Selbstbehauptung des staatlichen Gewaltmonopols nach innen und außen ist die erste Existenzbedingung des Staates; er definiert die Reichweite seiner Macht und verschafft ihr Anerkennung nur in einer Gewaltkonkurrenz gegen seinesgleichen. Diese Selbstbehauptung macht er zur Lebensbedingung der Bürger, für die sie geradezustehen haben.

Der Illusion, im zivilen Deutschland könnte es sich nach einem Dreivierteljahrhundert Frieden anders verhalten, hier wäre womöglich gar der Staat für die Menschen da und nicht umgekehrt – der brauchen wir nicht mehr entgegenzuarbeiten. Das machen die Politiker und ihre publizistischen Sprachrohre schon selbst – und zwar mit einem Eifer und einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lassen. Der Verteidigungsminister wählt extra das Wort „Kriegsfähigkeit“, die das Land in wenigen Jahren erreichen müsse. Eine Journalistenrunde bei Maischberger (ARD, 14.11.23) applaudiert: Endlich macht sich ein Politiker ehrlich und schenkt dem Volk reinen Wein ein; längst schon hätte ausgesprochen werden müssen, dass das Töten und Sterben zum Staatsleben dazugehört – wörtlich so gesagt. Munter fasst ein Teilnehmer ins Auge, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt werden muss, ein anderer, dass wir nun auch Atomwaffen brauchen, weil die amerikanische Schutzmacht absehbar ausfallen wird. Zusammen sind sie sich einig, dass „wir“ jetzt auch einen Veteranentag brauchen und Gott sei Dank kriegen. Auch dass wir alle ärmer werden müssen, ist Konsens unter den Meinungsprofis, die damit nicht sich selbst meinen. Der Reichtum wird nächstens nämlich für die Rüstung gebraucht. Für den Krieg in der Ukraine zahlen die Deutschen jetzt schon viele Milliarden, und die reichen den anwesenden Journalisten noch lange nicht. Wofür das alles nötig ist, trägt Außenministerin Baerbock bei: für „unser Europa von Lissabon bis Luhansk“, das in dem von ihm beanspruchten Machtbereich keinerlei russischen Einfluss duldet, Sicherheit für sich also nur findet, wenn es sich aussichtsreich und autonom einen Krieg mit Russland zutrauen kann. Für die so definierte „europäische Souveränität“ macht Deutschland, das sich immer offener als Zentralmacht dieses imperialistischen Gebildes bezeichnet und die militärische Hauptrolle in ihm spielen will, Leben und Lebensbedingungen seiner 80 Millionen haftbar.

[1] Von den besonderen Inhalten der konfligierenden Nationalinteressen, die immer mal wieder zu Unvereinbarkeiten und ihrer gewaltsamen Austragung führen, wird in anderen Artikeln unserer Zeitschrift gehandelt, hier nicht. Wenn es auf Krieg zugeht, ist es allemal nur mehr die pure Macht des Gegners, seine Reichweite, seine Bastionen und Mittel, die zerstört werden müssen, um seinen Willen zur Selbstbehauptung zu brechen und dagegen seinen eigenen durchzusetzen.